Nicht wirklich wichtig – zwei Erzählungen über Familienwappen

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Ein anonym veröffentlichter Beitrag

Als ich ein Kind war, hat mein Vater meinen Schwestern und mir öfter von unserem Familienwappen erzählt. Auf diesem Wappen soll ein Stör abgebildet sein. Dieser habe die Fischerei symbolisiert, die den ungarischen Teil unserer Familie im Mittelalter reich gemacht und den Aufstieg in den Adel ermöglicht haben soll. Durch Entfremdung vom adeligen Zweig sowie die beiden Weltkriege, haben wir diesen Status angeblich verloren. Obwohl Wappen und Familiengenealogie meinem Vater sehr wichtig waren, reden wir kaum noch darüber und wenn, dann nur im ironischen Ton.

Mein Vater wurde, als ich elf Jahre alt war, verurteilt und daraufhin in eine Strafvollzugsanstalt überführt.  Danach hatten wir nur noch sehr wenig mit seiner Familie oder seiner Familiengeschichte zu tun. Mein Großvater war zu dem Zeitpunkt bereits verstorben und meine Großmutter kam bald darauf in eine geriatrisch-psychiatrische Anstalt. Besuche bei ihr waren immer mit Vorwürfen verbunden, da sie meinen Geschwistern und mir die Schuld an der Verurteilung unseres Vaters gab. Nach und nach haben meine Schwestern und ich uns von allem Familiären der väterlichen Seite distanziert, auch wenn dieser Prozess nicht so linear ist, wie es dieser Satz vermuten lässt. Wir nannten den Vater danach auch nicht mehr Papa, sondern Severin. Wenige Jahre nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt ist Severin gestorben. Er war für mich meistens eine Erscheinung im Augenwinkel, die ich nur durch bewusstes Hinwenden wahrgenommen habe. Auch wenn die Redewendung etwas anderes suggeriert, ist die Hinwendung aus dem Augenwinkel nicht mühelos, sondern mit Anstrengung verbunden, da ich mich aktiv dem fast Unsichtbaren zuwenden muss. Diese Anstrengung war ich immer weniger bereit zu leisten, bis Severin aus meinem Blickfeld verschwand. Deshalb kam es unerwartet, als der Notar, der seinen Nachlass verwaltet, meinen Schwestern und mir einen Schlüssel zu seiner Wohnung überreichte. Auf einmal musste ich mich wieder sehr viel mit Severin befassen. Nicht nur mit seinem Nachlass, sondern auch mit meiner Beziehung zu ihm. Severin ist mit Schulden verstorben, weswegen es nicht viel zu erben gab. „Erinnerungsstücke“ aus der Wohnung durften wir trotzdem mitnehmen. Der Notar hat es sehr mitfühlend ausgedrückt, als würde er uns damit die Angst nehmen wollen, dass wir eventuell nichts von Severin behalten dürften. Stattdessen standen wir vor der Aufgabe zu entscheiden, was von ihm erhalten bleiben sollte und was nicht, was eher eine Last war. Ich kannte Severin ja kaum noch. 

Die kleine 30m²-Wohnung gehörte früher meinen Großeltern. Severin hatte einiges verändert, doch vieles blieb gleich und kam mir bekannt vor, wodurch alles wie eine verzerrte Zeitkapsel wirkte. Nur der rosa Toilettensitzbezug, den ich besonders mit meiner Oma assoziiere, fehlte. Die Pflanzen in Severins Wohnzimmer haben mich überrascht, da ich ihm nicht zugetraut hatte, sich um etwas Lebendes zu kümmern.

In einer anderen Wohnung, in deren Wohnzimmer hängt ein gerahmtes Familienwappen. Samuel, ein Freund und mein Gesprächspartner zum Thema Erben und Familienwappen, hat es aufgehängt. Ich fand das Wappen schon immer spannend und freue mich mit Samuel darüber reden zu können:

„Spezifisch von meinem Großvater, das ist jetzt schon Jahre her, gut zehn oder zwanzig Jahre. Er hat für meine Oma als Geschenk einen zuständigen, ich weiß nicht, wer für so etwas zuständig ist, ich glaube, es war ein Jurist, ein Bekannter von ihnen engagiert, damit der Nachforschungen in der Familiengeschichte meiner Oma macht und da hat er auch das Adelsgeschlecht gefunden, dazugehörige Dokumente und auch das Wappen.“

Er erzählt mir mehr über das Wappen, während ich an meinem Kaffee nippe. Ob Samuel auch Kaffee oder Tee vor sich hat, weiß ich nicht. Wir führen das Gespräch über einen Discord-Server. Das ist ein Chat- und Sprachkonferenzen-Tool, das vor allem bei Computerspieler*innen gerne genutzt wird und das wir üblicherweise genau dafür gebrauchen. Gleich am Anfang des Gespräches schickt Samuel mir ein Dokument, das er über das Wappen erstellt hat. In diesem ist die Geschichte der Adelsfamilie, auf die das Familienwappen zurückzuführen ist, in kurzen Absätzen zusammengefasst sowie eine stichwortartige Beschreibung des Wappens eingefügt: „In Blau ein silberner Hahn, einen goldenen Ring mit rothem Stein im Schnabel haltend. – Kleinod: auf der Helmkrone der Hahn stehend: Decken: blau-silbern“.

In Familien nehmen oft bestimmte Personen die Rolle der Genealog*in ein. Diese konstruieren eine teleologisch angelegte Familiengeschichte, die trotz oder gerade wegen ihrer Linearität oft einen nebulösen Ursprung hat. In meiner Familie war es Severin, der mit der genealogischen Suche begann. Nach ihm wurde sie nicht mehr weitergeführt. Einerseits, da wir uns von Severin distanziert hatten und anderseits, da die meisten Quellen ungarisch oder tschechisch sind, was niemand in meiner Familie spricht.

Samuel hat die genealogische Forschung nicht initiiert, er hat die Rolle des Genealogen übernommen. Genealog*innen werden laut der Ethnologin Elisabeth Timm von akademisch ausgebildeten Forscher*innen oft abwertend als Laienforscher*innen bezeichnet. Sie plädiert deshalb dafür, hier von „populärer Genealogie“ zu sprechen, ein Vorschlag, dem ich folge. Auch wenn Abwertungen von populärer Genealogie noch immer stattfinden, ist die Vormachtstellung der sogenannten „universitären“ Forschung nicht eindeutig gegeben, da Forschung auch von privaten Stiftungen, staatlichen Stipendien und anderen Institutionen gefördert wird, wodurch die Grenze von „außeruniversitärer“ und „universitärer“ Forschung verschwimmt. Oft sind es Forschungsinstitute, (die im Gegensatz zu Universitäten, zu keiner Lehre verpflichtet sind) die ein hohes Ansehen besitzen.
 Auch die „Laienforscher*innen“ gewinnen zunehmend an Selbstbewusstsein, was sich in Projekten wie des Citzien Sciences Österreich forscht äußert, in denen wissenschaftliche Forschungen zum Teil oder komplett von populären Forscher*innen übernommen werden.

Die Arbeit der populären Genealogie ist meiner Erfahrung nach oft intensiv und gründlich, auch wenn sie anderen Logiken folgt, als ich es etwa von meinem Fach Europäische Ethnologie gewohnt bin. Dies äußert sich zum einem in der Epistemologie der populären Genealogie, die durch weitreichende Linearisierung und nicht selten von Ausblendungen gesellschaftlicher Brüche und Gleichzeitigkeiten geprägt ist. Trotz Verschiebungen in der Wahrnehmung dieser Form von Geschichtsdarstellung gibt es nach wie vor Vorbehalte gegenüber populären Genealog*innen; dies zeichnet sich auch in meinem Gespräch mit Samuel ab, wenn dieser seine Argumente streng strukturiert vorbringt und wissenschaftlich enge Definitionen wählt, womöglich um Aussagen weniger angreifbar zu machen. So hat er sich deutlich gegen den von mir ins Gespräch gebrachten Begriff des Erbens in Hinblick auf seine Familie gewehrt, da dieser nicht in sein juristisches-historisches Verständnis von Erben passe: „Einerseits haben wir keinen Adel in Österreich, also können wir nicht wirklich Adelstitel oder Wappen erben, anderseits ist es in der böhmischen Erbschaft, Juristerei, glaube ich, nicht üblich, dass Wappen und Titel über die weiblichen Teile der Familie vererbt werden.“

Auch den Begriff des Familienwappens stellt Samuel in Frage: „Zusätzlich gibt es nicht wirklich so etwas wie ein Familienwappen. Es gibt Ausnahmen, aber zumindest im 16. Jahrhundert, wo dieses Wappen [sein „Familienwappen“] angesiedelt ist, es ist mir nicht bekannt, dass ganze Wappen als solche vererbt werden, sondern dass das Wappen ein Erkennungsmerkmal einer spezifischen Person ist und man Teile des Wappens übernehmen kann zusammen mit den Titel, aber dass es bei jeder Person spezifisch abgeändert werden muss, was halt auch oft durch Familienbündnisse, neue Titel, irgendwelche persönlichen Eigenschaften, Ambitionen, dann sowieso miteinfließt in ein neues persönliches Wappen, aber wie ich das Konzept verstehe, ist das halt mehr oder weniger ein Markenzeichen einer spezifischen Person und daher nicht wirklich als solches mit einer Familie assoziierbar.“

Hier wird auch sichtbar, wie sorgfältig Samuel den Gebrauch seiner Kategorien abwägt. So hat er mir erklärt, dass Familienwappen nicht authentisch seien, da Wappen ständig verändert und erweitert wurden und eher personenbezogen entworfen wurden. Bei Begriffen, von denen er weiß, dass ich sie dekonstruiere, distanziert er sich bei deren Erwähnung gleichzeitig: „Authentisch, falls man das so sagen kann.“

Seine Definition ist nicht mit der eines Familienwappens vereinbar, weswegen er (nicht ganz ohne Ironie) zufügt: „Es wird in meiner Familie so gehandhabt, dass es sehr wohl als Familienwappen verstanden wird in der Familie. Aber ich kämpfe dagegen natürlich an.“

Das Verständnis von Wappen ist innerhalb der Familie nicht homogen und Samuels eigene Definition, trotz der erwähnten Exaktheit, fluide. Diese Fluidität nutzt er, um seine eigenen Begrifflichkeiten zu reflektieren. Nach meiner Nachfrage, ob er es lieber hätte, wenn das „Familienwappen“ nicht als Teil der Familiengeschichte gehandhabt würde, antwortete er:

„Nein, ich habe nicht wirklich ein Problem damit, ich sehe es zum Teil auch als Familienwappen, in dem Sinne, dass es ein modernes Konzept ist, das jetzt existiert und so verwendet wird und damit habe ich auch nicht wirklich ein Problem.“

Auch wenn das „Familienmachen“ im ersten Moment mit Kontinuitäten und Zusammenschlüssen assoziiert wird, hat dieser Prozess oft genauso viel mit Brüchen und Abgrenzungen zu tun. Der Begriff des Familienmachens wurde von den Kurator*innen der Ausstellung „Familienmacher. Vom Festhalten, Verbinden und Loslassen“ des Volkskundemuseums Wien geprägt und stellt die Familie als prozessuales Konstrukt in den Vordergrund: „Mit wem sind Sie verwandt? Wer macht die Familienfotos? Wieviel Verwandtschaft ist in Deinem Handy? Wo lagern Sie ungeliebte Erbstücke? Wohin mit dem Bild vom Babybauch?[…]“ 

Die Ausstellung nutzte Begriffe, die Bilder transportieren: des Festhaltens, Verbindens und Loslassens, um sich dem Thema anzunähern. Die Fragen der Ausstellung lassen sich auch auf den Umgang mit Familienwappen ummünzen. Wer ist Teil des Familienwappens? Wer hat Deutungshoheiten beim Wappenbegriff und wer wird ausgeschlossen? Wer präsentiert das Wappen in welcher Form? Auch bei Samuel ziehen sich Abgrenzungen durch Loslassen oder auch Loswerden sowie Annäherungen durch Festhalten und Verbinden wie ein roter Faden durch unser Gespräch, sowohl was die Bedeutung als auch die Funktion des Wappens angeht. Samuel stellt die These auf, dass Ahnenforschung, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, als es etwa zu Enteignungen und damit zu Brüchen in den Familien und deren Geschichte kam, wichtig wurde, um die Einheit der Familie wiederherzustellen und verlorenen Reichtum und Status zu rekonstruieren. Er nimmt an, dass seinen Großeltern das Wappen wichtig ist, da sie dadurch Zugang zu einer Schicht bekommen haben, die er als „High Society“ definiert: „Ich würde vermuten, dass meine Großeltern sich eher noch als ein Teil der High Society sehen wollen und einen Anker darin finden, wenn wir irgendwelche Verwandten haben, die halt adelig waren.“ Nach dem Wort „adelig“ stöhnt Samuel sehr deutlich. Für ihn hat das Wappen eine andere Bedeutung.

Die Kulturwissenschaftlerin Ulrike Langbein erläutert in ihrer Dissertation über „Geerbte Dinge als soziale Praxis“ , dass in den von ihr geführten Interviews, die eigenen Biografien mit den geerbten Dingen in Beziehung gesetzt worden sind und dies oft mit intensiven Emotionalisierungen verbunden war. Samuel hat sich durch sein lautes Stöhnen vom Versuch der Großeltern, Teil einer High Society zu sein, distanziert. Er selbst stuft das Wappen als für ihn unwichtig ein:

„Also ich glaube nicht, dass es mir in meinem Leben in irgendeiner Weise anders gehen würde, wenn ich nicht ein Adelsgeschlecht in meiner entfernten Verwandtschaft habe. Aber ich finde es visuell ansprechend, ich finde es generell faszinierend, dass man so viel auf einen so langen Zeitraum zurückverfolgen kann, also von den eigenen …ähm… nicht Wurzeln, Vorfahren, was auch immer. Ich finde es interessant, dass da so viele historische Daten verfügbar sind und dass man einen relativ langen Zeitraum zurückgehen und Leute finden kann und da ist es natürlich leichter, wenn es bekanntere Persönlichkeiten sind oder sagen wir, in einer gesellschaftlich höheren Position, da ist die Wahrscheinlichkeit leichter irgendwelche Aufzeichnungen zu finden, aber wichtig ist es mir in dem Sinne nicht.“

Samuel betont diese Unwichtigkeit des Wappens im Interview. So sagt er, nach meiner Frage, wie das Wappen in der Familie gehandhabt wird: „Ich glaube, es wird als ein Teil der Geschichte und des Ursprungs verstanden, aber jetzt auch nicht irgendetwas Wichtiges oder Teil unserer Identität. Ein Interessantes Randmerkmal. Es ist ein hübsches Wappen, dass uns halt gefällt“. Trotzdem ist das Wappen in unterschiedlichen Formen und an repräsentativen Orten und Dingen in seinem Leben präsent, wie im Wohnzimmer, auf einem Siegelring, sowie auf einer Fechtjacke, die ich und andere Freund*innen Samuel zum Geburtstag geschenkt haben. Dazu kommt, dass Samuel sich viele Gedanken zum Wappen gemacht hat. Zuerst irritiert mich diese Diskrepanz, was sich auch in der Interviewführung ablesen lässt, da ich durch Nachfragen versuche herauszubekommen, welche Bedeutung das Wappen für ihn hat. Die Antwort blieb gleich und beschäftigte uns beide auch noch beim Korrigieren dieser Arbeit. Samuel schrieb mir nach dem ersten Durchlesen des Textes per SMS: „Ich glaube, was ich nicht ganz in Worte bringen konnte ist, dass mir das Wappen selbst nichts bedeutet, aber die Verbindung zu der Zeit, die mich interessiert, macht die Faszination aus.“

Die Unwichtigkeit des Wappens ist also nicht kohärent. In manchen Kontexten bezieht sich Samuel auf das Wappen und in anderen distanziert er sich.

Hier werden auch wieder die vielen Ambivalenzen sichtbar, die im Laufe unseres Interviews aufgetreten sind: Wichtigkeit und Unwichtigkeit des Wappens, Festhalten, Verbinden und Loswerden, enge Definitionen und fluide Begrifflichkeiten.

Samuel nutzt das Familienwappen teilweise so wie seine Großeltern, für familiengeschichtliches Biografieren, jedoch aus einer populär genealogischen Perspektive. So haben sich seine Großeltern mit dem Wappen einer High Society angehörig gefühlt. Samuel hingegen kann sich durch das Wappen mit seiner Forscherrolle identifizieren und wird durch sein Befassen mit dem Wappen gleichzeitig als populärer Forscher legitimiert. Dadurch wird das Wappen zur Eintrittskarte zu außerfamiliären Kontakten, wie etwa zu anderen populären Historiker*innen, bei denen er seine Expertise rund um das Wappen performativ einsetzen kann. 

Im Laufe des Interviews wurde Samuels Einordnung des Wappens und damit einhergehend Distanzierung Samuels gegenüber den Großeltern immer dann besonders deutlich, wenn es um Adel ging. Nicht nur Samuel distanziert sich stark von „Adel“ und „Erben“. Auch andere Personen, mit denen ich kurze Gespräche zwischendurch führte, wissen von Familienwappen, finden sie interessant, distanzieren sich aber, da es ja keinen Adel mehr gebe. Das mag damit zu tun haben, dass das Führen eines Adelstitels in Österreich verboten ist, aber auch damit, dass Adel mit unverdientem Reichtum verbunden wird, was einer kapitalistischen Logik widerspricht. Die Frage, ob Erben einer sogenannten Leistungsgesellschaft diametral entgegengesetzt sei, stellt sich auch der Historiker Dirk van Laak in seinem Text über das Erben und Vererben aus zeithistorischer Perspektive. Auch wenn er die Frage ungelöst lässt, zeichnet sich seine Antwort tendenziell ab, in dem er dem Erben eine „soziale Sprengkraft“ zuschreibt. Ich würde dieser Annahme widersprechen, da kapitalistische Strukturen zwar auf der Betonung gleichberechtigter Ausgangspositionen aufbauen, gleichzeitig jedoch das Anhäufen von Kapital jeglicher Art begünstigen, wodurch Praktiken des Vererbens und Erbens sehr gut in diese Strukturen passen. Diese Kapitalakkumulationen laufen oft subtil ab und sind schwer hinterfragbar. Sobald Praktiken der Kapitalakkumulation hinterfragbar werden, droht dies, den Mythos einer Gesellschaft, in der jede*r durch eigene Leistung und gleiche Grundvoraussetzungen Vermögen erlangen kann, zu entschleiern. Um diese Gefahr zu neutralisieren, müssen diese Praktiken in einem Aushandlungsprozess entweder wieder naturalisiert oder als kapitalistische Praktiken ausgeschlossen werden. Oder es findet eine Mischung aus beiden dieser genannten Prozesse statt und Praktiken werden teilweise angenommen und teilweise verworfen.

Die Ambivalenzen zwischen Abgrenzung und Anbindung an den Adel kann korrelierend zu Familiengeschichten und dessen Beziehung zu Wappen betrachtet werden. Wappen, Adel und co. stehen für feudale Herrschaft, da sie einer kapitalistischen Logik widersprechen, aber auch kapitalisiert werden, besonders wenn eine „lange Dauer“ hergestellt und Traditionen betont werden sollen. Biermarken sind dabei ein gutes Beispiel, da diese oft mit Wappen oder wappenähnlichen Versatzstücken spielen und diese in Bezug zu ihrem Reinheitsgebot setzen. Damit wird die lange Dauer des Reinheitsgebotes visuell verdeutlicht. 

Samuel distanziert sich vom elitären Kontext eines Wappens und setzt es damit indirekt in Bezug zu seiner Biografie, da er dadurch auch die Eigenschaften ablehnt, die er mit dem Wappen verbindet. Jedoch ist die Betrachtung des Wappens unter einer kapitalistischen Logik unzureichend, um Abgrenzungen und Anbindungen des Wappens vollständig zu klären, da diese nur eine Facette der vielen Bedeutungen ist, die Wappen zugeschrieben werden. Auch andere Formen des Umgangs mit Wappen sind möglich. 

Auch wenn die beiden hier vorgestellten Geschichten über den Umgang mit Familienwappen Unterschiede aufweisen, haben sich doch auch Gemeinsamkeiten herauskristallisiert, besonders darin, mit welchen Praktiken das Wappen in Relation zur Idee von Familie gestellt wird. Im Gegensatz zu Samuels Wappen, erzählte Severin die Geschichte unseres Familienwappens sehr ausgeschmückt und verfolgte kaum Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Das kann daran liegen, dass Severin die Erzählungen dem Alter seiner Zuhörer*innen angepasst hatte. Severin hat oft dazu erfunden: Dörfer, die den Familiennamen tragen, eine Burg, die entfernte Verwandte von uns besitzen sollen. Dabei wurde die Geschichte in eine neoliberale Fassung eingebettet, da die Familie nach seiner Erzählung durch Fleiß, nämlich die Fischzucht, adelig geworden sei. Seine Geschichte war nicht nur eine Geschichte des Reichtums, sondern auch gleichzeitig eine Verlustgeschichte. Oft war diese Verlustgeschichte begleitet von der Familiengeschichte meiner Mutter, deren Urgroßeltern Großbauern in Böhmen waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Lebensgrundlage verloren hatten. Der Kontext um die Vertreibung meiner Urgroßeltern sowie die Annektierung tschechischer Gebiete während des Zweiten Weltkrieges blieb unerwähnt. Die Moral der Geschichte war, dass verlorener Reichtum wiedergefunden werden kann, was Samuels These des Zutrittes zu höheren Gesellschaftsschichten bestätigt. Die Familienbiografie, die ich entwickelt habe, wurde in Bezug zur Geschichte meines Vaters und der Geschichte meine Großeltern gebildet und ist dadurch trotz Ablehnung des Wappens, noch immer mit dem Wappen verbunden. Ohne die Existenz des Wappens und die genealogischen Fundstücke Severins, hätte ich eine Familiengeschichte entwickeln können, die vermutlich anders erzählt worden wäre.

Selbst das Ablehnen ist ein Prozess der Identifikation und damit der Rekonstruktion des Wappens, da Ablehnen eine ständige erneuerte Positionierung gegenüber dem Wappen bedeutet. Wenn meine Familie ironisch über das Familienwappen redet, ist dieser Prozess der Distanzierung gleichermaßen eine Konstituierung von Familie: der meiner Schwestern, meiner Mutter und meiner Person. Diese Konstruktion verändert sich immer wieder und kann nie als abgeschlossen gesehen werden. 

Das wurde mir auch bewusst, als ich in Severins Wohnung stand. Er war ein Familienmitglied – in einem alten, gerahmten Familienfoto, das ich auf seinem Nachtkasten gefunden habe. Alles im Foto suggeriert das: Meine Schwestern und ich mit ihm vor dem Weihnachtsbaum. Das Familienfoto schlechthin. Gleichzeitig war er kein Familienmitglied. Im Endeffekt haben meine Geschwister und ich nicht sehr viel aus seiner Wohnung mitgenommen. Eine meiner Schwestern hat Severins Mundharmonika eingesteckt. Ich habe vor allem seine persönlichen Dokumente gesammelt, damit ich seine Sterbeurkunde vom Bezirksamt abholen konnte. Was ich nicht in seiner Wohnung gefunden habe, waren seine genealogischen Fundstücke.

Die Autorin studiert im Master Europäische Ethnologie an der Uni Wien. 

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Abgeschaut. Zum Gebrauch von Tutorials“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Zum thematischen Rahmen, in dem dieser Text steht, geht’s hier.

Nachweise

Interview und Gespräche mit Samuel am 18.11.2020

Clarke, Alison J., Dankl, Kathrina, Schindler, Margot, Timm, Elisabeth u.a.: Familienmacher, Ausstellungsmachen. Katalog zur Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien. Wien, Nürnberg 2012.

Van Laack, Dirk: Was bleibt? Erben und Vererben als Themen der Zeithistorischen Forschung. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), 136-150.

Timm, Elisabeth: „Meine Familie“. Ontologien und Utopien von Verwandtschaft in der populären Genealogie. In: Zeitschrift für Volkskunde 109 (2013),161-180.

Langbein, Ulrike: Geerbte Dinge. Soziale Praxis und Symbolische Bedeutung des Erbens. Köln, Weimar, Wien 2009.

Ausstellung „Familienmacher – Vom Festhalten, Verbinden und Loswerden“ Fr, 11.11.2011 – So, 25.03.2012: https://www.volkskundemuseum.at/familienmacher (Zugriff: 14.06.2021).

Citzien Science: https://www.citizen-science.at/eintauchen/was-ist-citizen-science (09.06.2021).