Beitrag von Rebecca Akimoto & Brigitta Schmidt-Lauber
Rebecca Akimoto: Seit 2020 gibt es das SchauFenster in der Waldstraße in Oberretzbach. Was genau ist das SchauFenster und wie ist es entstanden?
Brigitta Schmidt-Lauber: Das SchauFenster ist ein Ausstellungsort im nordwestlichen Weinviertel, genau genommen in Oberretzbach an der tschechischen Grenze, der Informationen und Reflexionen zum ländlichen Raum bereit und zur Diskussion stellt. Es bietet eine Infrastruktur und ein Forum der künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem ländlichen Raum und seinen Transformationen. Neben der fenstergroßen Ausstellungsfläche, auf der Objekte, Collagen oder Bilder zwei- und dreidimensional ausgestellt werden, gibt es auch eine Website. Das Projekt ist also doppelgleisig aufgebaut: on- und offline.
Entstanden ist das ganze dadurch, dass ich vor mittlerweile fast zwei Jahren ein Haus in Oberretzbach gekauft habe. Ich bin schon sehr lange häufiger in der Region, arbeite in Weingärten mit und kenne viele Menschen vor Ort. Die Kaufentscheidung ist dann durchaus auch Ergebnis der Corona Situation gewesen. Ich erinnere mich an den klaustrophobischen Zustand im ersten Lockdown, in dem sogar die Parks geschlossen waren und ein Erschrecken durch die Straßen ging.
Früher war in unserem Haus in Oberretzbach ein Gemischtwarenladen. Zum Einzug schenkten mir Nachbar*innen Fotos, andere starteten Erinnerungserzählungen beim Betreten des Raums. Eine Nachbarin erinnerte sich: „Ach, und früher stand ich hier als kleines Mädchen: ,Drei Zuckerl bitte!‘“ Jemand anderer hat gesagt, dass er sich dort als Bub nach einer monatlichen Bezahlungsvereinbarung zwischen der Mutter und der Verkäuferin jeden Tag eine Semmel abholen konnte, um den Heimweg nach der Schule zu schaffen. Und all die Fotos, Informationen und Geschichten rund um dieses Geschäft waren so zahlreich, dass daraus die Idee entstand, diesen Raum ansprechender zu gestalten und das Fenster wieder zur Straße hin zu öffnen.
Von innen war das Fenster mit einer Spanplatte behangen, die den Blick in den dahinterliegenden Raum des ehemaligen Geschäfts verdeckte. Da gab es also einen toten Raum mit Fliegen drinnen und alles war eher unansehnlich, also kein Fenster, durch das man durchschauen konnte oder das wohnlich wirkte. Es war leer und sah ungenutzt und verkommen aus.
RA: Und wie ging es dann weiter? Also wie haben Sie angefangen, das SchauFenster als Raum zu nutzen? Welche Themen werden aufgegriffen und wo kommen die Ausstellungsinhalte her?
BSL: Angefangen habe ich damit, mit einem befreundeten Künstler aus der Nachbarschaft den Raum umzugestalten. Er hat als Erster ausgestellt, und zwar ein fast unscheinbares Objekt aus Keramik mit Pferdehaar. Das war zuerst vor allem zur ästhetischen Gestaltung des Fensters gedacht, schließlich gibt es sehr viele Künstler*innen in der Umgebung, die an einer Ausstellung ihrer Kunst auch Interesse haben könnten. Doch dann bekam das Ganze alltagskulturwissenschaftliche Kontur und einen Namen: SchauFenster. Ich habe anhand der Fotos mit der Recherche zur Geschichte des Hauses und den früheren Lebensverhältnissen der Bewohner*innen begonnen.
Es hat sich gezeigt, dass viele Bilder in vielen Haushalten gleichzeitig zu finden sind und dasselbe Foto Großteils gar nicht mehr auf den Ursprung lokalisierbar ist, sich aber durch die Bildmedialität in die Erinnerung einzelner Familien eingeschrieben hat. Ja, wo kommen die Fotos her? Es handelt sich teilweise um Fotografien im Postkartenformat, die bei einem Wiener Fotografen in Auftrag gegeben wurden, wenn jemand geheiratet hat und sich bedanken wollte. Und dann fing ich an, mich immer intensiver mit der Geschichte, also auch der jüngeren Geschichte des Ortes seit dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. Ein spannendes Stück Österreich unmittelbar an der tschechischen Grenze. Ausgehend von den Fotos kamen unterschiedliche lebensgeschichtliche Erinnerungen und biografische Passagen zum Vorschein – so etwa zu den Lebensverhältnissen und Arbeitsformen. Wie wurde Landwirtschaft – meistens eben Weinbau – betrieben? Vom Weinbau allein konnten die allermeisten nicht leben. Drum haben sie zusätzlich Tiere gehalten und geschlachtet, Gartenanbau betrieben, Marmeladen verkauft, Fremdenverkehrszimmer angeboten etc. Sichtbar wurden Mixturen an Arbeitsformen und Einkommensquellen und auch Sozialbeziehungen besonders mit den Erntehelfer*innen. Das funktionierte auf andere Weise als mit heutigen Lohnarbeiter*innen, die man sich sozusagen einfahren lässt, wenn es denn geht. Na ja, und so bin ich solchen Erfahrungsberichten und Veränderungen des Alltagslebens nachgegangen: Was bedeutet Kindheit am Land? Welche Rolle spielen Familie und Nachbarschaft? Und wie hat sich das Straßenbild verändert?
So habe ich zunehmend begonnen, Forschungen zum Alltagsleben im ländlichen Raum anzustellen, die ich wissenschaftlich weiterverfolge: In letzter Zeit arbeite ich viel zu Transformationen von Lebensformen in ihrer sozial-strukturellen und räumlichen Gebundenheit, in „Stadt“ und „Land“ also – und zwar auch immer mit einer kritisch reflexiven Dimension, insofern ich selbst Teil des ethnographisch beobachteten Prozesses bin.
RA: Da schwingt ja auch eine gewisse Verantwortung mit, wenn Sie als temporär Anwesende mit Zweitwohnsitz in diesen Raum eingreifen.
BSL: Genau, deshalb war es ein großes Anliegen, das SchauFenster auch zu einem Ort zu machen, an dem genau das reflektiert wird, und der einen kooperativ-kollaborativen Weg mit den Anwohnenden verfolgt. Es sollte kein Ort für eine Künstler*innenkolonie zur Selbstverständigung sein, sondern ein Treffpunkt, der Austausch zwischen verschiedenen Personenkreisen ermöglicht. Einerseits zeigt das SchauFenster alltagshistorische Ausstellungen in Gestalt von Fotocollagen, die kollaborativ mit Anwohnenden konzipiert werden, andererseits präsentieren in der Umgebung wohnende Künstler*innen ihre Arbeiten, so dass sich die Möglichkeit eröffnet, die Menschen in ihrer Arbeit und Kunst kennenzulernen.
RA: Wie genau kann man sich denn den Entstehungsprozess der alltagshistorischen Ausstellungen vorstellen?
BSL: Also die erste alltagshistorische Ausstellung zum Beispiel habe ich gemeinsam mit einem Nachbarn und Freund erstellt, der 92 Jahre alt ist und die eigentliche Initialzündung zu dem erweiterten SchauFenster-Projekt mit ortsgeschichtlichen und künstlerischen Ausstellungen gegeben hatte, als er mir Fotos zeigte und schenkte und dabei von früher erzählte. In Fotogesprächen – eine ethnographisch abgewandelte Form des Fotointerviews, wie wir es etwa von Jutta Buchner-Fuhs kennen – bin ich mit ihm und seiner Frau die Fotos ihrer Privatsammlung durchgegangen und habe ihre Erinnerungserzählungen und Informationen aufgenommen. Dieses Vorgehen verfolge ich auch weiter zu unterschiedlichen Bereichen. Und als Thema der Ausstellung hat der Weinbauer entschieden: „Nehmen wir doch einfach wirklich nur diesen Ort“. So kam die Ausstellung „… mitten in der Waldstraße …“ zustande. Aus dem riesigen Stapel an Fotos wählten wir jene aus, die das Haus in der heutigen Waldstraße 24 – mein Haus also – und den Platz drumherum zeigen und verdeutlichen, wie dieser Raum sich verändert hat. Es ging uns darum, wie man hier früher gelebt hat, wie die Straße geteert wurde, also die Moderne Einzug hielt, wie noch der Gemeindebrunnen in Betrieb war, das Schlachten in den Hinterhöfen und ganz unterschiedliche andere Dinge. Ins Auge springt auf den Fotos der Dorfbrunnen – der sogenannte „Gmoabrunn“ –, aus dem die Anwohner*innen Wasser schöpften. Manche Häuser, wie das, das ich nun besitze, waren besser ausgestattet und verfügten über einen eigenen Brunnen. Zu diesen Bereichen haben wir Fotos ausgewählt und sie zu einer Collage gestaltet, unter der zudem kurze Interview-Passagen zum Abgebildeten stehen.
So gesehen eröffnet das SchauFenster einen kollaborativen Kommunikationsraum für Erinnerungen und Austausch. Die bisherigen Ausstellungen wurden im Ort sehr gut angenommen. Bei den Vernissagen gibt es im Hof, der mit einem Garten an das Haus angeschlossen ist, Getränke und Snacks sowie – je nach Jahreszeit – einen Feuerkorb. Ich mache aus Äpfeln im Garten Apfelsaft, den ich nun auch mit dem Logo versehe und zu Vernissagen ausschenke. Bei solchen Gelegenheiten kam es bereits zu spannenden, vielfältigen Gesprächen zwischen den Anwesenden und zum Austausch zwischen oftmals eher separierten Gruppen von Einheimischen und Zugezogenen.
Ein Thema, das mich besonders beschäftigt, ist die Veränderung der Versorgung am Land, weil man an diesem kleinen Beispiel, also an meinem Haus, dem ehemaligen Geschäft, gesellschaftliche Transformationen größerer Ordnung sehr gut nachvollziehen kann. Und das ist ja ein Kennzeichen unseres Faches, im Kleinen Großes nachzuvollziehen. In der Waldstraße 24 zeigte sich, dass ein lokaler Gemischtwarenladen zunehmend Konkurrenz durch die Supermärkte in der nahegelegenen Stadt oder später Zustelldienste etwa von Tageszeitungen bekam, für Zigaretten gab es Automaten und irgendwann wurde das wirtschaftlich immer schwieriger. Dann wurde das Geschäft aufgelöst. Heute gibt es unten an der Hauptstraße nun wieder einen Bauernladen, in dem regionale, oft selbst erzeugte Produkte aus dem Nahraum verkauft werden. Die Bedeutungen der Geschäfte, ihre Produkte und ihr Erscheinungsbild wandeln sich mit der Zeit und lassen einen „Zeitstil“ erkennen.
RA: Wie ist das eigentlich mit dem online Auftritt des SchauFensters? Und welchen Zweck erfüllt die Website, die Sie zu Anfang erwähnt hatten?
BSL: Die Website wurde von der Grafikerin Lena Appl konzipiert. Wir haben auch zuvor bereits zusammengearbeitet, beispielsweise bei der Online-Ausstellung „Wir protestieren!“ oder dem Coverdesign und dem öffentlichen Internetauftritt des Forschungsprojekts „Wir waren Triumph“. Auch für das SchauFenster hat sie die Webgraphiken der Homepage entwickelt, auf der es online die Möglichkeit gibt, sich die Ausstellungen anzusehen und Hintergrundinformationen zu deren Entstehung oder aber zu den Künstler*innen zu erfahren. Darüber hinaus soll die Website auch eine Art Repositorium sein, in dem ganz unterschiedliche Inhalte zu übergeordneten Fragen gesellschaftlicher Transformation gebündelt werden. Momentan sind es wissenschaftliche Texte, etwa über die Geschichte des Weinbaus und der Pest in der Region, die auf der Website zu finden sind, aber auch Privatfotografien, die uns ein pensionierter Hobbyfotograf zur Verfügung stellte. Ich habe auch weitere Kontakte zu Leuten mit privaten Fotosammlungen aus der Region, die diese gerne weiterverbreiten würden. Daraus könnte dann eine regionale alltagsgeschichtliche Fotothek entstehen.
Auch Hintergrund- und Kontextinformationen zum Projekt sind dort zu finden. So habe ich einen Text über die empirische Alltagskulturwissenschaft verfasst, um auch Leuten, die das Fach nicht kennen, die Arbeitsweise zugänglich zu machen. Und ein Filmemacher aus der Region wird möglicherweise einen Film zur Region online stellen.
RA: Und wie erreichen Sie die Menschen in der Umgebung oder aus Oberretzbach? Also die von selbst vielleicht gar nicht auf die Website kommen würden, weil sie mit dem Fach oder dem Institut für Europäische Ethnologie gar nichts zu tun haben?
BSL: Gute Frage. Naja, „man kennt sich“. Ich hatte dadurch, dass ich schon Jahre vorher bei der Weingartenarbeit geholfen habe und viel da war und es auch einfach Raum für Begegnungen gibt, sowieso schon eine „Rolle“. Ich war „integriert“ – ist vielleicht zu viel gesagt –, aber ich war eingebunden in soziale Netze und hatte Kontakte. Und zwar viel auch zu Einheimischen, also nicht nur zu den Zugezogenen. Die Ethnologin bin ich dort eher nicht. Also wenn Sie den Menschen dort erzählen, dass Sie Europäische Ethnologie studieren, dann wissen die wahrscheinlich nicht, was Sie machen.
Also, wie kommuniziere ich? Ich habe Ausstellungseinladungen erstellt, die ich in den Haushalten bzw. Briefkästen der drei angrenzenden Orte verteilt habe. Und dann habe ich noch einen Mailverteiler eingerichtet, der auch informiert.
Und seit der letzten Ausstellung haben wir begonnen, A3-Plakate zu drucken, die im Bauernladen und am Gemeindezentrum oder im Tourismusbüro ausgehängt werden. Die Plakate finden sich zudem bei mir am Haus oder bei der derzeit ausstellenden Künstlerin. Also so wird das kommuniziert, und das zieht Kreise. Stella Rollig, Direktorin des Belvedere und ebenfalls Zweitwohnsitzende in Retzbach, hatte dann einmal dafür Sorge getragen, dass die großartige Ausstellung im SchauFenster 2021 von Elisabeth Czihak, einer Künstlerin aus der Gegend, im STANDARD auf der Titelseite unter „Empfehlungen: Ausstellungen am Land“ angekündigt wurde. Für Niederösterreich gab es in der Ausgabe zwei Hinweise. Und so ist es dann allmählich verbreitet worden, so dass mich nun schon die Lagerhaus-Verkäuferin darauf anspricht. Auch mit Leuten aus vielen wissenschaftlichen Institutionen bin ich über die Stadt-Land-Thematik ins Gespräch gekommen, wodurch weitere Pläne entstanden sind. Aktuell bereite ich zum Beispiel mit Christian Rapp, dem Direktor des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich, im Rahmen eines gemeinsamen Studienprojektes eine Ausstellung im Museum über „Urlaub nach 1945 in Österreich“ und historische Stadt-Land-Beziehungen vor. Neben dem Museum in St. Pölten werden wir auch im Volkskundemuseum Wien und möglicherweise auch im SchauFenster am Land eine Intervention einbringen, wo die Privatzimmervermietung als Stadt-Land-Begegnung lange etabliert war.
So ist das Projekt immer weiter gewachsen und der Gedanke zu einer Wissensbündelung und -herstellung entstanden, womit das Erarbeitete auch anderen zur Verfügung gestellt werden sollte. Wir haben eine sich laufend erweiternde Liste von wissenschaftlichen Texten über die Region aufgenommen und weitere Kontextinformationen gesammelt. Denn es gibt eine sehr große Neugier auf das Leben am Land, sowohl bei den Alteingesessenen als auch bei den diversen Zugezogenen und ebenso wissenschaftlich in unterschiedlichen Disziplinen.
Und so ist aus dem SchauFenster ein kollaboratives, mehrdimensionales Projekt geworden mit einem Ausstellungsraum, einer Website und einem Logo. Es gibt eine eigene Mailadresse, ein spezielles Einladungsdesign und nun auch ein Weinfasslglas mit Logo.
RA: Sie haben ja gesagt, dass die Anwohner*innen in Oberretzbach das Projekt positiv aufnehmen. Können Sie auch etwas darüber sagen, wie sie allgemein dazu stehen, dass sich Menschen einen Zweitwohnsitz im Ort zulegen?
BSL: Tatsächlich hat die Attraktivität dieser Region erheblich zugenommen. Viele Zugezogene kommen aus dem kreativ-künstlerischen Bereich oder sind Wissenschaftler*innen aus Wien. Sie kaufen bevorzugt alte Häuser, die schön, aber doch schon verkommen sind und die vor Ort niemand renovieren würde. Die im Ort bleibenden Anwohner*innen errichten vorzugsweise Neubauten, um nach modernen Standards zu wohnen, anstatt die alten Bauernhäuser kostspielig in Stand zu setzen. Die „Zuagrasten“ legen dagegen Wert auf Patina, renovieren ihre neuerstandenen alten Häuser aufwendig, was sehr toll, aber auch sehr teuer ist. Sie bringen sich aber auch sonst ein, prägen das Leben vor Ort und das Erscheinungsbild. Lebensmodelle und Arbeitsmodi pluralisieren sich also auch am Land, etwa durch Pendler*innen, durch Digitalisierung und Home-Office-Regelungen – zumal im Zuge der Pandemie. Der Landflucht der dörflichen Jugend steht somit ein Zuzug einer anderen Klientel gegenüber, durch die ein sozialer Wandel stattfindet. Mir scheint, dass in dieser Gegend das Miteinander aus ganz unterschiedlichen Gründen funktioniert und es nicht wirklich wirkmächtige Fraktionierungen nach Herkunft gibt. Die Tatsache, dass jetzt diese Region Österreichs immer attraktiver wird und dass neben der Landflucht zugleich ein sozialer Wechsel des Ortslebens stattfindet und eine andere Klientel diese Region auch wieder belebt, wird vor Ort eigentlich positiv gesehen. Ein guter Bekannter hat irgendwann mal gesagt: „Da ist mir ein Wiener lieber, als dass mir das Haus leer steht.“ Gegenüber der drohenden Verödung ländlicher Regionen sind neue Impulse von außen hier scheinbar durchaus willkommen.
RA: Was macht das SchauFenster für unser Fach interessant?
BSL: Na ja, wie ich schon sagte, mikroanalytisch an konkreten Fällen übergeordnete gesellschaftliche Fragen zu behandeln wie zum Beispiel Geschlechterordnungen, Arbeitsformen oder Versorgungsstrukturen, ist ein genuines Anliegen unseres Faches. Wir können darin „Zeitstile“ erkennen und Maßnahmen einordnen. Zum Beispiel bei der ersten alltagshistorischen Collage „… mitten in der Waldstraße …“, die ich mit dem Nachbarn gemacht habe, da war ein Foto vom Innenhof ihres Hauses dabei, auf dem zu sehen ist, wie das Ehepaar ihn betoniert. Das war damals ein Zeichen von Fortschritt, von Funktionalität und von Moderne, das mit Stolz verbunden war. Die Versiegelung der Landschaft – Österreich ist Europameister in der Bodenversiegelung – wird heute hingegen gesellschaftlich kritisiert. Manche dieser bejubelten Errungenschaften der „Moderne“ sind heute in der historischen Bedeutung schwer nachvollziehbar. In Wels etwa wurde das erste Hochhaus auf einer Postkarte abgebildet. Aus heutiger Sicht ist es ultra schiach, öfter war schon von Abriss die Rede. Auf der Postkarte wurde das Hochhaus dagegen als Zeichen der „Moderne“ gefeiert. Heute haben derartige Materialien und Ästhetiken eine andere Symbolkraft und Wirkung. Längst ist die Logik der autogerechten Stadt nicht mehr das allein geltende Planungsideal. Da rücken ganz andere Dinge in den Vordergrund, die sich in Praktiken, in Orten, in Lebensstilen materialisieren und ästhetisieren. Bioläden, Bauernmärkte und -shops mit Direktvertrieb oder der Boom an Urban Gardening Initiativen liegen im Trend. Sie sind Ausdruck heute intensiv verhandelter Themen wie Nachhaltigkeit, Regionalität, ökologisches Wirtschaften und so weiter.
RA: Und in dem SchauFenster sollen diese aktuellen Themen gemeinsam mit den Ortsansässigen reflektiert werden?
BSL: Ja, ich verstehe das SchauFenster als Reflexionsraum und Projekt, das durch den breiten Austausch mit Ortsansässigen, aber auch mit Wissenschaftler*innen lebt und das den aktuellen Hype eines wachsenden Interesses am ländlichen Raum in der Gesellschaft und Wissenschaft bzw. die Veränderungen dieses Lebensraums künstlerisch und wissenschaftlich kommentiert. Das SchauFenster stellt eine Infrastruktur zur Verfügung, um über ein Thema und einen Raum zu reflektieren. Auch die Künstler*innen, die Ausstellungen entwickelt haben, bieten Reflexionen auf den Ort und/oder die gesellschaftliche Situation an. Bei der Ausstellung von Matthias Klos mit dem Titel „Auf den Wegen sammelt sich die Zeit“ geht es zum Beispiel um Wege. Der Künstler thematisiert fotografisch und textlich alte und neue Verkehrsrouten, also verlassene Bahnschienen, die zugewachsen sind, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die neue Schnellstraße ab Stadtgrenze Wien Richtung Prag. Oder Elisabeth Czihak, die eine Installation eines Blickes in die Tiefe eines alten Hauses bot. All das sind Impressionen und Kommentare zu gesellschaftlichen Verhältnissen.
RA: Was haben Sie noch mit dem SchauFenster vor und was erwartet uns als nächstes?
BSL: Es tun sich laufend neue Themen und Fragen auf. Aktuell erstellen Maren Sacherer und ich eine Collage zum Weinbau in der Region, zur Organisation der Arbeit, zu sozialen Verhältnissen und den landschaftlichen und klimatischen Besonderheiten. Heute gibt es auffällig viele „Neo-Winzer*innen“ oder auch „Leidenschaftswinzer*innen“. Also es gibt viele, die nebenberuflich Wein produzieren. Auch deshalb funktioniert der Sozialzusammenhalt vielleicht so gut. Denn viele Leute – inklusive mir selbst – sind happy, wenn sie bei der Weinlese helfen und dort Arbeit einbringen können. Das ist so eine Win-Win-Situation für alle und eine Form von Kollaboration, die demnächst einmal am Beispiel der „Copros“ – einer lokalen Weinlesehilfsgruppe – auch im SchauFenster ausgestellt werden soll.
Ich plane auch Lehrveranstaltungen zur gesellschaftlichen Transformation im ländlichen Raum, aus denen zum Beispiel Texte entstehen können, die auf der Website veröffentlicht werden. Und andererseits hat mich der Geschäftsführer des Instituts für die Geschichte des ländlichen Raums – das ist eine weitere Institution neben den Museen, mit der wir zusammenarbeiten und die auch sehr an dem Projekt interessiert ist – auf einen Digitalisierungs-Call von Bund und Land hingewiesen, wo wir erfolgreich einen Antrag eingereicht haben. So erstellen wir nun einen Audio-Walk, bei dem auch Maren Sacherer und andere mitarbeiten. Zu 13 Stationen entlang eines einstündigen Spaziergangs werden Informationen aus Literaturrecherchen, Interviews, Fotos und historischen Quellen zusammengetragen, die über einen QR-Code abrufbar sind. Da geht es um die Gastwirtschaft und den Einzelhandel, um Geschlechterbeziehungen, den Weinbau, die Kellergassen als regionales Kennzeichen, ums Aufwachsen am Land früher und heute, oder um die Grenze, also wie war das Leben in der Region, als die Grenze zur Tschechoslowakischen Republik geschlossen war? Jugendlichen bot dieser Raum beispielsweise die Möglichkeit, Mutproben durchzuführen: Wie weit traue ich mich rein? Oder überhaupt auch die Etablierung und Begründung der politischen Grenze, der Zusammenhang mit Nationskonstruktionen zu unterschiedlichen Zeiten und ihrer Grenz- und Abgrenzungspolitik. Jetzt ist die Grenze wieder offen und es gibt einen österreichisch-tschechischen Kindergarten in Mitterretzbach. Also das Anliegen ist, diesen Geschichten mit einem Team in ganz unterschiedlicher Weise nachzuspüren. Ende dieses Jahres soll der Audio-Walk fertiggestellt sein. Dazu ist auch eine Website angedacht, auf der die Informationen, inklusive Abbildungen und künstlerischen Fotografien, ebenfalls zugänglich werden. Die Idee des Audio-Walks ist es, die nicht sichtbare Alltagsgeschichte zu zeigen, das, was alles hinter dem steht, was wir dort jetzt sehen, wenn wir durch die Landschaft und den Ort gehen. Es ist eine sehr schöne Gegend, in die gerne Ausflüge gemacht werden oder eben auch viele Leute hinziehen, weil sie gerne draußen in der Natur und einer ansprechenden Landschaft sind.
RA: Vielleicht können Sie noch abschließend etwas über Ihre gewonnenen Erkenntnisse sagen?
BSL: Hm, Erkenntnisse? Es ist eher eine Betrachtungs- und Umgangsweise mit gesellschaftlichen Situationen, die sich in dem Projekt manifestiert. Für mich zeigt sich darin der Blick und die Vorgehensweise des Faches, die ich schon verkörperlicht oder habitualisiert habe, dieses situativ gebundene Nachspüren: wie ist unsere Gesellschaft geworden oder was steckt dahinter? Woran orientieren und orientierten sich Menschen, was stehen und standen für Werte hinter ihrer Lebensführung? Was macht Corona mit uns? Was macht die Kriegssituation? Was macht das Wissen um die ökologischen Krisen, Klimaproblematiken und deren Folgen sowie um globale Ungleichheiten? All diese Themen sind diskursiv sehr präsent und manifestieren sich auch in der Art und Weise, wie wir leben – von Mülltrennung angefangen bis hin zu Konsumverhaltensweisen oder Reisemodi und und und. Und dann ist es auch einfach eine schöne, bereichernde und vielschichtige Spurensuche bzw. Repräsentationsarbeit und auch eine Lust machende und Kreativität entfaltende Erfahrung. Das SchauFenster Projekt greift insgesamt viele gesellschaftliche Trends auf, die dort kritisch reflektiert werden. Zum Beispiel gehen wir beim Audio-Walk auch auf den Tourismus ein, wie dieser die Region verändert und geprägt hat und sich in der Landschaft materialisiert. Damit reflektieren wir auch, wie so ein Audioprojekt und Spaziergang durchs Land zum Beispiel den Raum ändert. Und das ist auch typisch für unser Fach.
RA: Vielen Dank für das Interview!
Univ. Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, welches sie selbst auch leitet. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die ethnographische Alltagskulturforschung und die relationale Stadt-, Stadt/Land- bzw. Raumforschung.