Braucht’s das?

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Ende letzten Jahres ist eine lebhafte Diskussion darüber entstanden, welche Formen von Brauchtum in der Gegenwart noch angemessen sind. Im Zentrum der Debatte stand Klaasohm, ein Brauch, der Anfang Dezember auf der deutschen Nordseeinsel Borkum stattfindet und in dessen Verlauf es zu Gewalt gegen Frauen gekommen ist. Aber auch andere Bräuche wie der Krampus und das Perchtenlaufen werden immer wieder kritisch daraufhin befragt, inwiefern sie noch in unsere Zeit passen, der Veränderung bedürfen, oder gleich ganz abgeschafft werden sollten.

Dieser Beitrag versammelt Medienbeiträge von Fachvertreter*innen, die sich zur Angemessenheit und Veränderbarkeit von Traditionen geäussert haben.1


Jun.-Prof. Dr. Simone Egger (Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlands)

Wichtig ist, dass es auf der Insel eine Debatte gibt und dass sich die Gemeinschaft der Inselbewohner*innen darüber austauscht, ‚Wo stehen wir eigentlich heute? Ist das, wie wir gemeinsam hier leben wollen oder müssen wir da etwas weiterentwickeln oder weiterdenken?‘.

Hörfunk-Interview (5:41 Min) im SR vom 2. Dezember 2024


Prof. Dr. Regina Bendix (Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen)

Bräuche haben sich aus patriarchalen Zeiten gehalten – oder wurden wiederbelebt. Man darf die Macht der Nostalgie für das Hergebrachte nicht unterschätzen. Es gibt aber auch viele Orte, wo Mädchen und Frauen sich ihren Platz genommen haben.

Interview (Paywall) in der Süddeutschen Zeitung vom 3. Dezember 2024


Prof. Dr. Gunther Hirschfelder (Vergleichende Kulturwissenschaft, Universität Regensburg)

In der modernen Bundesrepublik Deutschland haben sich Kulturmuster herausgebildet, denen man unterstellt, sie seien uralt. Faktisch sind diese Dinge erst im 19. Jahrhundert entstanden.

Hörfunk-Beitrag (11:05 Min) im WDR 5 Morgenecho vom 3. Dezember 2024


Die Kolleg*innen von der Abteilung für Empirische Kulturwissenschaft/Kulturanthropologe der Universität Bonn haben im Archiv des Atlas der deutschen Volkskunde nachgeschaut und auch etwas zu Klaasohm gefunden:

Bräuche sind dynamisch und verändern sich ständig. Den Menschen bieten sie dadurch die Möglichkeit, diese den Errungenschaften eines demokratischen Miteinanders anzupassen. Gewalt gegen Frauen gehört nicht dazu. Unsere historische Quelle liefert auch keine Hinweise, dass dieser Brauch in den 1930er Jahren so ausgeführt worden wäre.

Instagram-Post vom 6. Dezember 2024


Prof. Dr. Klaus Schönberger (Institut für Kulturanalyse, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt / Celovec)

Gewalt – gegen wen auch immer – ist nichts, was im Zusammenhang von Bräuchen und ‚Volkskultur‘ oder aufgrund einer behaupteten ‚Tradition‘ bewahrt oder verteidigt werden muss: Bräuche sind – kulturwissenschaftlich argumentiert – überwiegend permanente (Neu-)Erfindungen für die jeweilige Gegenwart.

Stellungnahme auf der Website der Österreichischen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft und Volkskunde vom 8. Dezember 2024


Dr. Michael Greger (Salzburger Landesinstitut für Volkskunde)

Anders als beim Krampus ist die Herkunft bei den Perchten unklar, weil da so viele Überlieferungen, Überlagerungen, Missverständnisse und Neuninterpretationen schlummern. Die oft gehörte Behauptung, Perchtenläufe gebe es seit heidnischen Zeiten, ist jedenfalls nicht haltbar: Belege für Perchtenläufe gibt es in Bayern erst seit dem späten 16. Jahrhundert, in Salzburg seit der Mitte des 17. Jahrhunderts.

ORF-Topos Beitrag von Magdalena Miedl vom 4. Jänner 2025


Unabhängig von der Debatte um Klaasohm und Krampus hat sich unsere Institutsvorständin Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber vor kurzem zur Bedeutung von Bräuchen geäussert und den Begriff kurz kritisch kontextualisiert:

Aufgrund der ideologischen Belastung des Begriffs verwenden viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute eher den Terminus Ritual, auch wenn die Gleichsetzung unscharf ist. Bräuche sind also keineswegs per se ‚harmlose‘ Gewohnheiten im gesellschaftlichen Alltag.

Bräuche in Niederösterreich zur Vorweihnachtszeit, Hg.: Volkskultur Niederösterreich und NÖN, 2024, S. 5.

  1. Die Zitate aus den Beitragen wurden zur besseren Lesbarkeit leicht angepasst und geben keinen exakten Wortlaut wieder. Der Inhalt der Aussagen wurde nicht verändert. ↩︎