Interview mit Stefan Wellgraf, geführt von Tabea Christa
Bild von Stefan Wellgraf
TC: Ethnographische Zugänge sind nicht die Regel in der Forschung zu Rechtsextremismus. Welche Fächer und damit auch Perspektiven sind denn hauptsächlich vertreten in diesem Feld, und welche Schwerpunkte fehlen dadurch Ihrer Meinung nach?
SW: Politikwissenschaftliche und sozialpsychologische Ansätze dominieren bisher das Feld und prägen auch die leitenden Begriffe wie „Rechtsextremismus“, „Rechtspopulismus“ und „Autoritarismus“. Kulturwissenschaftliche Forschungen spielen insgesamt im deutschsprachigen Raum noch eine untergeordnete Rolle, besonders ethnografische Forschungen werden tendenziell etwas skeptisch betrachtet. Dadurch geht natürlich viel verloren, allen voran ein komplexes Verständnis der Innenansichten rechter Gruppierungen.
TC: In Ihrem Vortrag sind Sie darauf eingegangenen, dass es dennoch unterschiedliche ethnografische Zugänge zu Rechtsextremismus gibt. Könnten Sie darauf noch einmal kurz eingehen?
SW: Es gibt in den Ethnowissenschaften sehr unterschiedliche Zugangsweisen zu diesem Themenfeld und von jeder lässt sich viel lernen: Die ethnografische Sensibilität der teilnehmenden Beobachtung für lebensweltliche Zusammenhänge, die Kunst des Zuhörens und des biografischen Schreibens in Interview-basierten Studien, die Bedeutung von kulturellen Zusammenhängen und Artefakten in semiotischen Analysen und die in der neomarxistischen Schule hervorgehobenen Wirkungen von politischen Steuerungsweisen und größeren ökonomischen Entwicklungstendenzen – um nur einige der wichtigsten Forschungsstränge zu nennen. Über die verschiedenen ethnografisch-kulturwissenschaftlichen Ansätze hinweg zeigen sich aber auch übergreifende inhaltliche Schwerpunktsetzungen, wie zum Beispiel der Fokus auf Emotionen und Affekte.
TC: Sie haben selbst ab 2014 in Berlin zu Fußballfans geforscht, können Sie uns da einen Einblick/Überblick geben, in diese, wie sie betont haben, vielfältige und auch politisch breitgefächerte Szene?
SW: Die stark männlich geprägte Ostberliner Fußballfanszene, die ich erforscht habe, reicht von Stasi-Söhnen bis zu Neonazis, ein Teil stammt aus Partei- und Funktionärsfamilien der DDR, ein anderer eher aus proletarischen Verhältnissen. Manche blieben bis heute überzeugte Marxisten, andere sind die neonazistische Wende der Skinheadbewegung mitgegangen. Dazwischen gibt es viele Schattierungen und Übergänge, wobei rechte Positionen insgesamt überwiegen. Worauf sich derzeit übrigens fast alle einigen können, ist eine vehemente Ablehnung der Grünen.
TC: Wie hat sich der Zugang zum Feld für Sie dabei gestaltet?
SW: Das hat sich über einige Monate hinweg entwickelt. Mir kam es sicher zugute, dass ich selbst in Ost-Berlin aufgewachsen bin und hier seit viele Jahren Fußball spiele. Das Berliner Fanprojekt hat mich am Anfang bei der Kontaktfindung unterstützt, mir auch Räume für Interviews bereitgestellt. Als die Forschung angelaufen war, lief es dann vor allem nach dem „Schneeballprinzip“.
TC: Wie ist denn der öffentliche Diskurs über Hooligans geprägt, was gibt es da für dominante Perspektiven?
SW: Der öffentliche Umgang ist ziemlich widersprüchlich, er schwankt zwischen Kriminalisierung und popkultureller Umarmung. Auf einer sicherheitspolitischen Ebene lässt sich eine enorme Verschärfung beobachten, Anti-Terror-Maßnahmen werden dabei teilweise sehr pauschal auf Fußballfans übertragen – nicht nur auf Hooligans. Im kulturellen Bereich sind viele „klassische“ Elemente der Skinhead- und Hooliganmode – wie New Balance Schuhe, Jogginghosen, Tattoos oder die grünliche „Bomberjacke – mittlerweile zum kulturellen Mainstream geworden. Selbst Berlins neuer Kulturminister Joe Chialo läuft damit herum.
TC: Nun zu einer abschließenden Frage: wo sehen Sie die Stärken, aber auch die Herausforderungen von ethnografischen und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Rechtsextremismus und rechter Gewalt?
SW: Ich glaube, ein ethnografischer Zugang ist hier besonders wichtig, da die meisten bisherigen Forschungen das Thema aus nachvollziehbaren Gründen eher aus der Distanz angehen. Dadurch entstehen jedoch gravierende Wissenslücken und auch politisch folgenschwere Fehleinschätzungen. Kulturwissenschaftliche Ansätze können darüber hinaus vor allem populär- und subkulturelle Dynamiken viel genauer in den Blick nehmen. Auch daran mangelt es noch, meist werden nicht-parteiförmig organisierte rechte Bewegungen daher immer noch als „seltsam diffus“ missverstanden. Schließlich gibt es bisher wenig Verbindungen von ethnografischen und historischen Zugängen, wie sie unser Fach ermöglicht.
TC: Und vielleicht noch eine Empfehlung für Leser*innen, die sich mehr für das Thema Rechtsradikalismus und Hooligans interessieren?
SW: In letzter Zeit sind eine ganze Reihe interessanter Bücher zu rechten Bewegungen entstanden. Besonders spannend, fast wie Romane, lesen sich die Ethnografien in der Tradition der Chicago School – wie Arlie Hochschild’s Strangers in their own land über Anhänger*innen der Tea Party Bewegung in Louisiana und Harel Shapira’s Waiting for José über eine para-militärisch organisierte Miliz an der Grenze zu Mexiko. In Deutschland hat mich zuletzt Simon Strick’s Buch über Rechte Gefühle im „digitalen Faschismus“ besonders beeindruckt. Zum Thema Hooligans kann ich die Bücher von Robert Claus empfehlen, der übrigens Europäische Ethnologie studiert hat. Sein Buch Hooligans gibt einen sehr guten Überblick über historische und aktuelle Entwicklungen der Szene, sein neueres Buch Ihr Kampf beleuchtet vor allem die engen Verbindungen zur Kampfsportszene.