Jenseits der Dinge. Das Erbe eines Menschen ohne materiellen Besitz

Geschätzte Lesedauer: 16 Minuten

Eine Sammlung von Szenen mit und ohne Hauptdarsteller von Elisabeth Grammerstätter

In den Rollen

GERNOT  … Gernot H. a.k.a. Ver de Bois

ANDREAS  … Andreas Hennefeld, Sozialarbeiter der Boulevardzeitung Augustin

ICH  … Elisabeth Grammerstätter, Depersonalisierte Erzählerin, Mitarbeiterin im Armengasthaus S‘Häferl

CHEFIN  … Elisabeth Guttmann, Leiterin vom Häferl

KLIE und KÜHN … Thomas Klie und Jakob Kühn, Theologen, Autoren und Herausgeber: „Die Dinge, die bleiben“

Szene 1: EINE BEGEGNUNG

Tag AUSSEN Halbtotale

Im Bild ist GERNOT zu sehen. Er sitzt auf einer Holzbank. Links hinter ihm steht ein Wäscheständer, der voll beladen ist mit Hand- und Geschirrtüchern und leicht im Wind schwankt, vor einer roten mit Efeu überwachsenen Ziegelmauer. Rechts hinter ihm sind schemenhaft Bäume zu sehen und noch weiter in der Unschärfe Büsche und die Fensterfront eines Gebäudes. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Kaffeehäferl auf einer Untertasse und diese wiederum auf einer Zeitung. Genauer gesagt auf dem aufgeschlagenen und zum Teil schon ausgefüllten Kreuzworträtsel einer österreichischen Tageszeitung. Jedes ‚A‘ der schon ausgefüllten Lösungswörter ist ein kleines Anarchiezeichen. Neben GERNOT auf der Bank, im rechten unteren Bildrand, steht, halb liegend eine gelb-rote Supermarkt-Tragetasche, die Position wirkt instabil und so als würde sie jeden Moment umfallen. Die Tasche ist offen, aber ohne den Inhalt zu offenbaren. Was ist in der Tasche? Ist das alles, was er besitzt?

Er erzählt, mit Blick in die Kamera, was er in dieser Tasche hat. Es sind alltägliche Dinge, die er eigentlich immer dabei hat. (Es sei denn er hat die Tasche wieder einmal verloren, was des Öfteren passierte, wie auch der Sozialarbeiter ANDREAS später im Interview bestätigt.)

GERNOT: Jo. Augustin hob i hoid dabei und … jo … wos waß i. Zeitungen und hoid Tageszeitungen. Dann a Wäsch und … a Soafn, Pflegemittel. Und des woas daun eh.

Nichts von finanziellem Wert. Es ist sein unmittelbares, materielles Leben, sein Besitz.

Er erklärt weiter, dass die Bewohner*innen schon auch Sachen in den Notunterkünften lassen können, wenn sie länger dort unterkommen. Falls jemand nicht mehr auftaucht, entsorgt die jeweilige Einrichtung die Dinge aber nach einem Monat oder behält sie für den Allgemeingebrauch. Speziell spricht er dabei von elektrischen Geräten wie Rasierern.

Tag AUSSEN Nahe

Die Ärmel seiner schwarzen Jacke sind entweder zu kurz oder beim Gestikulieren nach oben gerutscht – an seinem linken Handgelenk trägt GERNOT eine Uhr. Das Ziffernblatt ist nach innen gedreht. GERNOTs Haare sind schwarz-grau meliert, genauso wie sein Bart, und etwas struppig. Zwei Strähnen über seiner Stirn werden vom Wind hin und her geweht. Die Fingernägel seiner rechten Hand sind an den Rändern schwarz. Zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger hält er eine Zigarette, deren Asche so aussieht, als würde sie jeden Moment herunterfallen. Mit der Zigarette in der Hand gestikuliert er, während er spricht. Seine braunen Augen, im faltigen Gesicht, machen einen wachen Eindruck, wenn er erzählt, lacht und zuhört. Und er erzählt und lacht viel und gerne.

Wenn er von Armut, Obdachlosigkeit und Politik spricht, ändert sich sein Ausdruck. Sein Blick bleibt einen Moment irgendwo hinter oder neben seinem Gegenüber hängen, bevor er seine Gedanken ausführt. Dann lacht er wieder.

Das ist GERNOT.

Er und seine Tasche verkörpern – beinahe klischeehaft – die Praxis des Lebens auf der Straße und dessen Materialität.

Und im Folgenden soll es um die Praxis des Sterbens und Hinterlassens von Menschen ohne Wohnung, ohne feste Unterkunft und/oder ohne Besitz gehen. Was bleibt von einem Menschen, dessen Habseligkeiten in einer einzigen Tragetasche Platz haben?

GERNOT ist am 23. September 2020 in einem Wiener Krankenhaus verstorben. Die Videoaufzeichnungen sind ein knappes Jahr davor entstanden. Es ist das einzige Videodokument, das von GERNOT existiert. Im Zuge eines Seminars der Soziologie hat ICH nach Personen gesucht, die von Obdachlosigkeit betroffen sind und sich bereiterklären mit ICH und ihren Kolleg*innen vor der Kamera darüber zu sprechen. So hat ICH GERNOT kennengelernt.

Zwischenszene S‘HÄFERL

Tag AUSSEN/INNEN Totale Kamerafahrt

Unter einem Plexiglasdach stehen Heurigengarnituren, drei Tische mit Bänken. Der Steinboden ist sauber gekehrt, aber ein paar Blätter von den umstehenden Bäumen haben sich unter die Tische und auf den Weg verirrt.

Auf den Tischen stehen Aschenbecher, Krüge mit Saft und schon leergegessene Teller. Es wird geredet, geraucht und gegessen.

Eine einzelne Stufe führt zur weißen Eingangstür, an der die Farbe schon stellenweise abblättert. An der äußeren Fensterscheibe der besagten Tür klebt ein Ausdruck, auf dem ein langhaariger Mann in schmutziger und zerrissener Kleidung am Boden sitzend zu sehen ist, mit einem Sinnspruch über Jesus. Immerhin befinden sich die Räumlichkeiten des Armengasthauses in der Gustav-Adolf-Kirche, genauer gesagt deren Untergeschoß, der Unterkirche. Auf der rechten Seite nach der Eingangstür, zwei weitere Türen, ein WC und ein Bad mit WC, Waschmaschine und Dusche. Gegenüber des Einganges steht ein Tisch, auf dem sich in Servietten eingewickelte Süßspeisen stapeln. Links hinter dem Tisch, mit der Nachspeise, steht auf einem Beistelltischchen ein Computer. Ein Browser mit Youtube ist geöffnet und es läuft das Video eines alten Rocksongs. Die Gäste gehen zuerst zu der Nachspeisenausgabe „Hallo“, „Servus“, „Mahlzeit“, nehmen sich ein Stück, nehmen sich, von einer Ablagefläche auf der linken Seite, je ein Glas und einen Löffel und gehen weiter, in den Speisesaal. Saal ist eine maßlose Übertreibung für den kleinen Raum, der vollgestellt ist mit Holztischen, an denen die Gäste Platz nehmen. In einem Eck steht ein beleuchtetes Aquarium, daneben stapeln sich Kleiderspenden und Bücher. An einer Wand hängen Flyer und Plakate mit Informationen zu Sozialeinrichtungen und Notdiensten. 

Zivildiener und Ehrenamtliche wuseln durch den Raum und servieren Suppe und Hauptspeise. Über dem Speisesaal liegt ein Teppich aus Gesprächen in den verschiedensten Sprachen, dem sehr regelmäßig noch ein freundliches „Mahlzeit“ oder „brauchst du noch was?“ hinzugefügt wird. Trotz des Lärmpegels schlafen manche Gäste mit dem Kopf auf dem Tisch. Ab und zu wandert die CHEFIN von Tisch zu Tisch, geht zu einzelnen Gästen, verteilt nette Worte, schnappt sich im Vorbeigehen leere Teller und verschwindet wieder in der kleinen Küche.

Im Häferl treffen Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen, meist friedlich, aufeinander. Gegründet wurde es vor etwa 30 Jahren als Anlaufstelle, von einer Gefängnisseelsorgerin, für Haftentlassene. Mittlerweile hat sich das Klientel erweitert, und das Häferl wird vor allem von Menschen mit Armuts- und Obdachlosigkeitserfahrung frequentiert. Manche ehemalige Gäste wurden Mitarbeiter*innen, manche ehemaligen Mitarbeiter*innen wieder Gäste. Es gibt eine warme Mahlzeit und die neuesten Informationen über andere Sozialeinrichtungen und verschollene Gäste.

Szene 2: DIE DINGE UND DIE BILDER IM KOPF

Tag INNEN Nahe

Zwei Smartphones liegen nebeneinander. Auf dem einen läuft ein Telefonat über Lautsprecher, auf dem anderen die App für Sprachaufzeichnungen. ICH telefoniert mit ANDREAS, er ist Sozialarbeiter beim Augustin, einer Obdachlosenzeitung oder wie sie sich selbst nennt: der „ersten österreichischen Boulevardzeitung“.

ICH kennt ANDREAS nicht persönlich. Den Kontakt hat ein befreundeter Mitarbeiter aus dem Häferl hergestellt, von dem ICH auch vom Tod GERNOTs erfahren hat.

Tag INNEN Halbtotale

Das Interview ist der zweite telefonische Kontakt, davor wurden nur wenige Mails hin und her geschickt, unter anderem hat ICH ANDREAS die geplanten Fragen zur Vorbereitung geschickt.

ICH versucht sich ANDREAS vorzustellen, in seinem Büro beim Augustin. ICH selbst sitzt in ihrem Wohnzimmer auf der Couch, hat es sich für das Interview möglichst gemütlich gemacht, auch weil ICH ihre eigene Nervosität beruhigen möchte. Warum ist Ich nervös?

ICH ist unter anderem nervös, weil sie sich fremd fühlt in der Rolle der Forscherin. Für ICH fühlt es sich außerdem seltsam an über GERNOT zu sprechen, der nicht mehr da ist. Nicht mehr zustimmen oder widersprechen kann. ICH fühlt sich pietätlos. Was hat ICH sich gedacht, GERNOT für die Uni zu beforschen?

Aber ICH freut sich auch darauf mit jemandem über ihn reden zu können.

ICH und ANDREAS werden heute über den verstorbenen GERNOT sprechen, den beide aus den unterschiedlichen sozialen Einrichtungen kennen, in denen sie tätig sind. Sie werden darüber sprechen was von einem Menschen bleibt, der der Nachwelt so gut wie nichts Materielles hinterlässt.

Schon bevor ICH die Frage nach GERNOTs verbliebenem Besitz stellt vermutet sie die Antwort zu kennen. Trotzdem fragt ICH nicht nur der Vollständigkeit halber. In ICH taucht das Bild von GERNOT mit seiner obligatorischen, oft wechselnden, immer ramponierten, Tasche auf. Es waren Dinge in der Tasche.

Was ist mit dem Inhalt der Tasche passiert? Gab es die Tasche noch? Hat jemand seine persönlichen Gegenstände bekommen und/oder gewollt?

ANDREAS: Und zuletzt, dort wo er war, ahm … kann ich jetzt echt nicht sagen ob irgendwelche Kleinigkeiten, des war dann schon noch Thema, denk ich, hat sich dann die Schwester darum gekümmert, wenn irgendwas noch im letzten Notquartier dort war.

Aber viel hat er ganz sicher a ned gehabt.

Dieser Teil des Interviews fällt beiden merkbar schwer. ANDREAS räuspert sich vermehrt und die Pausen zwischen den Sätzen sind länger als sonst. ICHs verbale Reaktionen bleiben während diesem Gesprächsabschnitt sehr einsilbig:

ICH: Hm…

ANDREAS: Also des war beim Gernot immer in ziemlich schwieriges Kapitel. Da Gernot (räuspert sich) hat ja eine lange Wohnungslosenkarriere hinter sich … gelassen oder gehabt. Und hat immer in den unterschiedlichsten Wohnungslosenquartieren gewohnt. Ah … dazwischen, also … vor nicht allzu langer Zeit hatte er amal eine Gemeindewohnung, die konnte er nicht halten. Und er hat sich halt dann nachher auch nie irgendwie darum gekümmert was mit seinen Sachen ist. … So, dass die dann wahrscheinlich halt immer wieder auch entsorgt wurden. Also … das war auch immer wieder ein Thema … ja. Ahm … selbst bei wichtigeren Dingen wie Dokumenten hat er dann irgendwo einmal den Überblick verloren wo was is und hat immer wieder ois mögliche verloren.

KLIE und KÜHN (aus dem Off: Man kann Dinge besitzen, bei sich tragen, sie für bestimmte Zwecke gebrauchen, sie verschenken – oder entsorgen.

ANDREAS: Aber natürlich Dokumente können ned anfoch so entsorgt werden. Aber so quasi Hab und Gut. Da ham die ihm halt immer wieder in irgendwelchen Notquartieren gsagt … ah … „Gernot, bis da und da musst du dich amal drum kümmern, dass deine Sachen dann abgeholt werden, weil wir können das ned ewig aufheben.“ Logisch. … Na. … Und, jo.

ICH: Hm … Jo.

GERNOT hat sich durch seinen kommunikativen und auch streitlustigen Charakter in der Welt eingeschrieben, nicht durch das Vererben von Besitz. Die Dinge, die als Manifestationen seines Seins hinterlassen sind, haben mehrheitlich andere Menschen von oder über ihn gemacht. Ein Foto im Fenster des Häferls, ein Video für eine Uniarbeit, dessen Zusammenschnitt für ein geplantes Erinnerungsfest, niedergeschriebene Zitate in einem Sprüchebüchlein der Augustin-Redaktion.

ANDREAS: Wir haben ah … so ein Sprüchebüchlein und da tragen wir immer, wenn irgendwer was Originelles oder Witziges sagt und wir grad die Gelegenheit, die Zeit haben, dann tragen wir das ein. Und da gibt’s also vom Gernot eine ganze (lacht) Sammlung in diesem Sprüchebüchlein.

Das ist eines der Dinge, die sich lesen, ansehen und angreifen lassen. Es ist ein Ding, in dem GERNOT manifestiert ist, es ist nicht von ihm. Zusätzlich gibt es noch eine kleine Sammlung von Gedichten, die GERNOT unter dem Pseudonym Ver de Bois veröffentlicht hat.

ANDREAS: Die Mutter hat einen Brief geschickt und in diesem Brief hat sie ah … Texte, die er damals in Salzburg veröffentlicht hat, beigelegt.

KLIE und KÜHN (aus dem Off): Dinge, die bleiben, erinnern an Menschen, die nicht geblieben sind. Erinnerungsdinge ziehen den Vergangenen fassbar und ansehnlich wieder ins Leben. So gesehen sind Dinge, die bleiben, widerstandsfähige Präsenzgeneratoren. Fotos, Erbstücke, aber auch Hinterlassenschaften und Gräber auf dem Friedhof lassen Verstorbene gegenwärtig werden.

Auch wenn die materiellen Dinge, die von GERNOT bleiben, an zwei Händen abzählbar sind, so erfüllen sie doch die von KLIE und KÜHN beschriebene Funktion des Generierens von Dasein – für uns. Andererseits sind es nicht nur die Dinge, auch andere Dimensionen machen die Präsenz einer Person nach deren Tod aus, wie ANDREAS auf die Frage nach dem „Was bleibt von GERNOT“ bestätigt.

ANDREAS: Also es bleiben Bilder im Kopf. Es bleibt irgendwie das, was den Gernot ausgemacht hat, seine Stimme seine Persönlichkeit und so weiter.

Szene 3: IN RÄUMEN UND GESCHICHTEN

Tag INNEN und AUSSEN Montage

Der Garten vom Häferl, kein GERNOT mit Tschick und Kaffee.

Die Redaktion des Augustin, kein GERNOT mit einer neuen Umzugsgeschichte.

Der Franz-Josefs-Bahnhof, kein GERNOT der den Augustin verkaufen.

Der Vorraum vom Häferl, kein GERNOT mit einem Musikwunsch.

Es ist die Lücke, die von GERNOT bleibt. Der freie Platz, der fehlende Kommentar, die ausbleibende Frage nach einer Tschick und die neuen Geschichten. Als Salzburger hat sich GERNOT wenig um die gebräuchliche Wiener Grammatik von Tschick geschert und ICH konnte ihm als Oberösterreicherin nur zustimmen und eine schnorren.

Es bleiben aber auch die alten Geschichten und die werden erzählt, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Geschichten, die er über Räume, die ihm nicht mehr zugänglich waren, erzählt und Geschichten die, diejenigen, die GERNOT in anderen Räumen begegneten, über ihn erzählen.

Tag INNEN Totale

ANDREAS: Also, insgesamt ist der Gernot da für mich deswegen halt sehr präsent, also aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen, ah … weil er einer derer ist die halt sehr sehr regelmäßig sehr sehr oft zu uns gekommen sind. Und auch immer wieder längere Zeit hier verbracht hat. […] Weil er eben meistens kein …  keine fixe … halt nur Notquartier gehabt hat und das [die Augustin Redaktion] immer wieder so ein verlängertes Wohnzimmer für ihn war.

Aber es gab auch die Orte, an denen er Hausverbot hatte. Der Satz „Wisst‘s ihr wo ich grad wohn?“ bleibt von Gernot im Gedächtnis hängen, weil er so charakteristisch für ihn war und fast jede Woche die Begrüßung darstellte, wenn er in s‘Häferl kam. Auch ANDREAS kennt diesen spezifischen Satz. Den Satz, in seiner Formulierung, hat GERNOT eigentlich nie verändert. Es blieb immer der Satz, die rhetorische Frage, jede Woche. Was wechseln konnte war die Tonart, in der dieser Satz präsentiert wurde. An manchen Tagen hat GERNOT den Satz in seinen Bart hinein gebrummt. An diesen Tagen war GERNOT anzusehen und anzuhören, dass ihn die Situation frustriert.

An anderen klang GERNOT belustigt, über den erneuten Unterkunftswechsel und hat die bekannte Frage schon als Begrüßung beim Näherkommen gerufen.

Niemand wusste jemals die Antwort und GERNOT hat bereitwillig Auskunft erteilt, über die Gründe seiner Umquartierung und wo „am Arsch von Wien“ sich diese neue Notunterkunft befindet.

ANDREAS (schmunzelt): Des hat er bei uns a immer wieder erzählt. Weil … ahm … das war begleitet a immer wieder von den Erzählungen wo er gerade haust und wo er Lokalverbot hat. Das hat er irgendwie mit einem gewissen Stolz gesammelt. Die Lokal- und Hausverbote.

Diese Nicht-Orte, nach Marc Augé, wurden durch GERNOTs Erzählungen darüber zu Erinnerungsorten, auch weil ihn die Menschen dort kannten. Eine Person mit Hausverbot(en) wird in der Sozialeinrichtungs-Szene zur Prominenz. Also fällt auf, wenn sie wirklich weg bleibt und nicht versucht, trotz Verbot, hinein zu kommen.

GERNOT war Stammgast im Häferl, und so hat ICH ihn meistens viermal in der Woche gesehen. Durch das gefilmte Interview und längere Gespräche bei Kaffee und Tschick, über Musik, Politik, Philosophie und die Obdachlosenszene, hat ICH ihn ein bisschen kennengelernt. SHäferl war eine der wenigen Sozialeinrichtungen in Wien in denen gegen GERNOT nie ein Lokalverbot ausgesprochen wurde.

ANDREAS: Also es war auch immer wieder lustig mit ihm. Aber natürlich sehe ich schon alle Seiten bei ihm. Das heißt er war in vieler Hinsicht auch eine … eine ziemliche Herausforderung.

GERNOT (aus dem OFF): I waß i bin ned der Heilige. Ich hab ein … wie hat des mal ein Psychologe gsagt … ein Unterordnungsproblem.

Szene 4: PRÄSENZ UND DIE ERINNERUNG

Tag INNEN Nahe

ANDREAS ist anzuhören, dass er GERNOT sehr geschätzt hat und sich lebhaft an ihn erinnern kann, eben auch an seine eher schwierigen Stimmungen, die stark von Alkohol geprägt waren. Im Laufe des Interviews wechseln ANDREAS und ICH immer wieder zwischen dialektgefärbter Sprache und dem Versuch sich hochdeutsch auszudrücken. Es ist auch ein Gespräch unter Kolleg*innen, die sich austauschen über einen Bekannten, der in beiden Einrichtungen und ihrer persönlichen Wahrnehmung Eindruck hinterlassen hat.

Längere Passagen des Interviews lassen Nachdenklichkeit und auch Traurigkeit erahnen, wenn ANDREAS zwischen den Ausführungen längere Pausen macht und ICH sehr wortkarg wird. An anderen Stellen des Gesprächs wird viel gelacht und sie erzählen sich gegenseitig Geschichten und Begegnungen mit GERNOT.

ANDREAS und ICH praktizieren Erinnerung. Mit den Erzählungen und Anekdoten generieren wir, wie von KLIE und KÜHN beschrieben, Präsenz.

Abend INNEN Totale

ICH sitzt an ihrem Laptop. Die Teile des Videos, die ICH für diesen Text braucht, und das Interview sind transkribiert. ICH nimmt die Fotokopie des Gedichtes in die Hand, das ihr GERNOT überlassen hat, nachdem er es der Belegschaft des Häferls vorgelesen hatte. Es ist, laut GERNOT, von dem befreundeten Dichter Thomas Frechberger, ihm gewidmet. Das Papier ist zerknittert, schlampig gefaltet, GERNOT hat es augenscheinlich lange mit sich herumgetragen, in die Innentasche der Jacke, die er zu der Zeit trug, gestopft, immer wieder herausgenommen und hergezeigt und es trotzdem ohne weiteres weitergegeben. Eigentlich hat er es nach der Lesung auf dem Tisch liegen lassen und hat sich weggedreht. ICH wollte ihm die Kopie geben, woraufhin GERNOT meinte, ICH kann den Zettel behalten, er brauche ihn nicht, er habe es ja jetzt vorgelesen.

Abend INNEN Nahe

Der Besitz der Kopie war für ihn ohne sentimentalen Wert. Nun besitzt ICH diese Kopie. ICH fragt sich, wo das Original ist. Wo wurde von wem diese Kopie angefertigt? Wessen Finger haben ihre Spuren auf dem Papier hinterlassen, die auf der Kopie als dunkle Flecken zu sehen sind? ICH betrachtet die Fotokopie und merkt wie schwer es ihr fällt diesen Text zu schreiben.

Wer alles auf einmal bekommt

Dem bleibt vielleicht bald nichts

Das ist der vorletzte Satz aus dem Gedicht „Huld der Geduld“ von Thomas Frechberger, wenn GERNOTs Quellenangabe stimmt. Auf dem Zettel selbst steht kein Name. ICH hat nur dieses eine Erbstück von GERNOT.

Was sagt dieser Satz, so aus dem Zusammenhang des Gedichtes gerissen, aus? Warum ist es ICH wichtig diesen einen Satz herauszunehmen und in dieser Szenensammlung zu zitieren? Warum berühren diese Zeilen etwas in ICH?

ICH versucht über GERNOTs Erbe zu schreiben und hält es in ihrer Hand. Es ist nicht bloß das Stück Papier, obwohl ICH es sorgsam aufbewahrt. Es ist nicht alles auf einmal, wie im Gedicht prophezeit. Es ist nicht zu viel. Es bleibt. Es ist die Erinnerung an den Menschen, von dem ICH es bekommen hat.

ICH ist unsicher, ob ihr dieses Erbe, die Kopie zusteht. Ob es ihr zusteht über GERNOT zu schreiben. GERNOT kannten so viele Menschen, sein Leben war voller Begegnungen und Geschichten. Kann ICH GERNOT mit diesem Text gerecht werden? Kann sie vermitteln was GERNOT hinterlassen hat?

KLIE und KÜHN (aus dem Off): Das Begehren, über die Habe von Verstorbenen diese intensiver zu erinnern, ist nur zu menschlich. Denn das Bewahren von Überbleibseln ist aus dem Verlust geboren; Trennungserfahrungen wollen „behandelt“ und sublimiert werden.

Die Erinnerungen sind da, sie funktionieren auch ohne Manifestation in der materiellen Wirklichkeit, doch sie werden dadurch verstärkt und verankert. Die Dinge erleichtern das Verarbeiten des Fehlens eines Menschen.

ICH kannte GERNOT nur knapp ein Jahr.

ANDREAS: Es gibt Menschen die plötzlich sterben und afoch weil sie eben nicht so dominant sind wie ein Gernot, dann kaum irgendwer Notiz nimmt, das find ich urtragisch und traurig. Und zu den Leuten kann ich dir auch nicht viel sagen, wenn sie vielleicht eher zurückhaltend waren oder so … […] Also ich seh den Gernot wie … er ist für mich einer der Originale. Also so ein richtiges Original.

ICH hat die Kopie als materiellen Anhaltspunkt. Das Original ist weg. Die Geschichten, die sich all jene, die ihn kannten, noch erzählen, füllen die Lücke, die GERNOT an Orten und im Leben Anderer hinterlassen hat.

Szene 5: EPILOG

Tag AUSSEN Totale

Es ist ein warmer Sommertag. Covid-19 ist das vorherrschende Gesprächsthema in den Medien und auch im Häferl. Die Gäste dürfen aufgrund der Gastro-Lockdown-Regelung nicht in den Speisesaal, aber sie können im Garten sitzen und dort in Ruhe essen, oder das Essen mitnehmen.

Tag INNEN Halbtotale

ICH und die CHEFIN sind in der Küche, im Stress, weil der Nachschub noch fertig backen muss und immer noch Leute kommen. Heute gibt es Apfelstrudel mit Vanillesoße. Die Strudel sind eine Lebensmittelspende, so wie die meisten Lebensmittel im Häferl, das Budget ist knapp. Nächste Woche wird es die Gemüsestrudel geben, die auch Teil der Spende waren.

Es ist fast drei Uhr, also kurz vor dem Zusperren. ICH hört einen der Zivildiener rufen: „Da Gernot is da!“. Wahrscheinlich wurde er längere Zeit nicht gesehen im Lokal und ist jetzt wieder da. Wenn Stammgäste nicht auftauchen wird immer gemutmaßt, herumgefragt und darüber informiert, wenn sie wieder da sind.

Endlich sind die nächsten Strudel fertig. Das Backrohr ist schon etwas älter und hat einen ausgeprägten Eigenwillen, braucht einfach solange es will. Strudel raus und schneiden.

ICH beginnt hektisch anzurichten. Strudel rein in die Take-Away-Box, Vanillesoße drauf, Box zu und raus damit zur Ausgabe.

ICH (laut zu sich selbst): Fuck!

CHEFIN (aus der Küche): Was?

ICH: Wir ham einen von den Gemüsestrudeln erwischt…

CHEFIN lacht

Der Fehler wird korrigiert, aber ein paar der befüllten Essensboxen sind zu dem Zeitpunkt schon an die Gäste rausgegangen.

ICH (leise zu sich): Fuck..

CHEFIN (die es trotzdem gehört hat): A geh. Ärger di ned. Wenns wer bemerkt, bekommen‘s was Frisches. Wir haben ja noch genug.

Tag AUSSEN Nahe

Zehn Minuten später, fast alle Gäste sind weg. GEROT sitzt noch, mit seiner Zeitung und seiner Tasche neben sich, im Garten auf einer der Holzbänke. Auf dem Tisch steht noch seine leere Take-Away-Box. ICH hat die Schürze ausgezogen und geht hinaus in die Sonne.

ICH: Hey Gernot. Hod’s gschmeckt? Mogst nu an Kaffee? I lod di ein.

GERNOT: Servas. Na woa eh guad. Gern. Host du vielleicht a Tschick a für mi?

ICH: Na sicher. Do bitte… I bring da dein Kaffee glei.

GERNOT: Danke dir!

Drei Monate später ist GERNOT gestorben. Und ICH wird nie vergessen wie sie GERNOT versehentlich Gemüsestrudel mit Vanillesoße serviert und er diese kulinarische Extravaganz ohne Kommentar gegessen und danach zufrieden eine Tschick zu seinem Kaffee geraucht hat.

In Erinnerung an den inoffiziellen Sandlerkönig von Wien

ANDREAS (lacht): Als Salzburger der Sandlerkönig von Wien …

2013 hat Elisabeth Grammerstätter das Diplomstudium Theater-, Film- und Medienwissenschaften abgeschlossen und studiert nun nach einer längeren akademischen Pause wieder an der Universität Wien. Im Zuge ihres Zeitgeschichte und Medien Masterstudiums belegt sie auch Seminare am Institut der Europäischen Ethnologie.

Die gebürtige Oberösterreicherin lebt seit 15 Jahren in Wien und arbeitet seit zwei Jahren ehrenamtlich im Häferl, dem Armengasthaus der Stadtdiakonie in der Hornbostelgasse 6.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Nachweise

Hennefeld, Andreas. Telefoninterview am 04.12.2020, geführt von Elisabeth Grammerstätter.

H., Gernot. Videointerview am 24.11.2019, geführt von Alena Riedl und Elisabeth Grammerstätter, gefilmt von Alena Riedl.

Frechberger, Thomas (vermutlicher Autor). „Huld der Geduld“, Fotokopie der handschriftlichen Niederschrift, 2019 erhalten, Entstehungsjahr unbekannt.

Klie, Thomas, Kühn, Jakob: Die Dinge, der Trost und die Erinnerung. In: Dies.: Die Dinge, die bleiben. Bielefeld 2020, S. 7 – 16.

https://diakonie.at/einrichtung/s-haeferl

https://augustin.or.at/