(Neue) Ordnungen. Über die Wege und Räumungen nach dem Tod der Mutter

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Triggerwarnung: Suizid

Foto von der Interviewpartnerin Kathrin Huber (anonymisiert)

Ein Beitrag von Ariane Siegel-Tramontana

Kathtins Mutter Doris beging Selbstmord. Ein Weg das Leben zu beenden, der die Hinterbliebenen rätselnd und schockiert zurücklässt. So auch Kathrin, ihre Tochter. Ganz abgesehen von der Trauerarbeit hatte es Kathrin mit vielen Wegen und Räumungen nach dem Tod ihrer Mutter zu tun. Ihre Mutter hinterließ keine Nachricht, kein Testament, keine Begründung für ihren Weg. So hinterließ sie auch keinen Plan, wie Kathrin jetzt vorgehen sollte.

„Als meine Mama verstorben ist, hab‘ ich natürlich […] eine ganze Wohnung zum Ausräumen gehabt. Und ganz viele Dinge, die sie mir sozusagen hinterlassen hat. Für mich war es am Anfang einmal wichtig, dass diese Wohnung frei geräumt wird, weil das eine Mietwohnung war. Damit ich die Verantwortung für diese Wohnung nicht mehr hab‘. Auch damit ich sie nicht mehr weiterzahlen muss. Es war mir einmal wichtig, dass die Dinge aus der Wohnung rauskommen“, erzählt sie über die ersten Schritte der Organisation. „Vorgegangen bin ich so: Sachen, die mir selbst bewusst waren, dass sie ihr auch wichtig waren, habe ich mal als erstes gesichert sozusagen. Ich hab‘ nämlich dann einen Wohnungsflohmarkt gemacht, hab Freunde und Bekannte eingeladen, dass die auch durchschauen kommen können. Weil es eben so viele Dinge waren, dass ich nicht alle aufheben hätte können, was ich gerne gemacht hätte.“

Anstatt Gegenstände zu sichern, wie es Kathrin formuliert, die sie zum Beispiel an ihre Mutter besonders erinnern oder sie mit ihr besonders verbinden, geht sie mit dem Blick ihrer Mutter auf die Dinge zu. Für mich – Freundin und Forscherin zugleich – klingt es so, als würde sie sich gedacht haben: „Was hätte Mama als erstes mitgenommen.“

Mit Kathrin bin ich seit über zwanzig Jahren befreundet. Sie ist wie eine Schwester für mich. Wir haben Freude und Leid miteinander geteilt, die schönen und traurigen Ereignisse gemeinsam er- und durchlebt. So auch den Selbstmord ihrer Mutter Doris und die Phase des Trauerns um sie. Dennoch hatte ich ein mulmiges Gefühl, dieses Thema und die damit verbundenen Emotionen wieder aufleben zu lassen. Kathrin ist mit unserem Fach und dem Interesse des Fachs vertraut und willigte einem Interview sofort ein. Da war ich nun. Zwischen den Rollen gefangen. Der Rolle als Freundin und der Rolle als Forscherin. Das Interview haben wir digital abgehalten, ich habe Reaktionen auf die Fragen und Antworten sowohl hören als auch sehen können. Ihre Emotionen konnte ich fühlen und in ihrer Stimme hören.

„Deshalb hab ich mal die wichtigsten Dinge, also Dinge, wo ich weiß, die sind für sie wichtig, rausgeholt. Zum Beispiel: Sie hat Hasen gesammelt, so kleine Porzellanhasen. Die hab ich mal als aller erstes, ihre Hasensammlung sozusagen, von ihrer Wohnung in meine Wohnung gebracht. Dann hab ich so Dinge weggeräumt, wo ich mir gedacht hab, dass das so privat- oder persönliche Dinge sind. Als erstes fällt mir da Unterwäsche ein“.

Warum die Mutter gerade Hasen gesammelt hat und warum diese eine besondere Bedeutung für sie hatten, sprach Kathrin nicht an. In der Form einer Sammlung lassen sich die Hasen als Erbstücke einordnen, obwohl Doris ihrer Tochter die Hasensammlung nicht eindeutig vererbt hat. Der Psychologe Tilman Habermas schreibt dazu: „Erbstücken muss ihr Alter anzusehen sein, um nicht lediglich als Teil einer Hinterlassenschaft zu gelten, ja gar ihre Qualität als Erbstück sollte zu erkennen sein. Deshalb eignen sich nur bestimmte Dinge zum Erbstück.“

Kathrin hatte kein persönliches Interesse an der Sammlung, wusste aber, dass diese eine besondere Bedeutung für Doris hatte. Sie fand die Sammlung in einer Schachtel in der Wohnung ihrer Mama und nahm sie so in ihren Besitz. Mittlerweile hat sie einige Stücke davon auf einer Internetplattform verkauft, einige an die Caritas gespendet und eines als Erinnerung in ihre Schatzkiste gegeben. „Ich hab den aufbewahrt, der mir am besten gefallen hat. Ich hab nicht gewusst, welcher ihr Lieblingshase ist.“ Spannend finde ich hier die Priorisierung, die Kathrin vornimmt. Zuerst geht es um eine Sammlung, sie nimmt die Priorität eins unter den persönlichen Dingen ein. „Was ist Mama am wichtigsten?“ und „Was soll niemand fremder in die Hände bekommen?“ Die Auflösung dieser Sammlung geschieht erst, als Kathrin sie in ihren Besitz übernommen hat.

„[I]ch habe zuerst eben die Dinge, die ihr wichtig waren, weggeräumt. Dann eben Kleidung. Da habe ich vieles übernehmen können. Auch Möbelstücke habe ich nach wie vor in meiner Wohnung. Also alles, was ich behalten wollte, war mal so für mich erste Priorität.  Dann die Dinge, die ich ihrem Ex-Mann gegeben habe. Also gemeinsame Erinnerung von denen. Der hat sich da auch Fotos zum Beispiel rausgeholt und Karten, die er ihr geschrieben hat. Glückwunschkarten, Billets und sowas. Auch Briefe, die er ihr geschrieben hat. Ja, ich glaube Markus war der Zweite, der da dann sozusagen randürfen hat.“ An diesem Punkt dreht sich alles um die Prioritäten der räumenden Person, von Kathrin: Die Rangliste, die Kathrin hier setzt, spiegelt die Wertigkeit der Personen für Kathrin: Sie selbst, Markus, die übrigen wenigen Familienmitglieder, die die Fotos zugewiesen bekommen und die restlichen Freund*innen und Bekannte, die beim Flohmarkt eingeladen waren. In einer zunächst unübersichtlichen sozialen Situation schafft Kathrin Ordnung.

Kathrin ist ein Einzelkind. Kathrins Kindheit lässt sich als schwierig bezeichnen. Sie wuchs in instabilen Verhältnissen auf. Mutter und Vater waren getrennt, der Vater nur selten anwesend. Doris, die Mutter, hatte wechselnde Partner und Kathrin damit wechselnde Stiefväter. Ein Umzug folgt auf den Anderen. Die einzigen stabilen Bezugspersonen waren ihre Großeltern, Hans und Anke. Geschwister hat sie keine. Sie meisterte dennoch Schul-, wie auch Studienzeit und führt ein glückliches Leben, wie sie sagt. Ihre Großeltern spielen auch heute eine wichtige Rolle in ihrem Leben, ihren Vater besucht sie mittlerweile mehrmals jährlich im Ausland. Ein Stiefvater ihrer Lebensgeschichte ist ihr bis heute geblieben: Markus. Er spielt im Interview eine große Rolle und begleitet den Alltag von Kathrin bis heute. Ihm gab sie die Möglichkeit, die Erinnerungsstücke aufzubewahren, die er als wichtig erachtet. Das Zögern, bevor Kathrin von „randürfen“ spricht, verweist dagegen auf eine ganz andere Form und Phase des Räumens der Wohnung der Mutter.

„Welche Dinge waren dir noch wichtig?“ „Auf alle Fälle Fotos. Aber auch, weil meine Mama eine Person war, die besonders viel Wert auf Fotos gelegt hat. Ihre Fotos haben einen speziellen Wert für sie gehabt. Sie hat auch Fotoalben noch aus ihrer Kindheit und Jugend angelegt. Die habe ich auch nach wie vor. Jetzt ist es so, dass ich eine Schatzkiste hab, zwei sogar. Zwei goldene Kisten, die ursprünglich meiner Mama gehört haben, wo jetzt ihre wichtigsten Dinge drinnen sind. Die eine ist so eine Erinnerungskiste, da sind Fotoalben drinnen und Zertifikate. Sie hat damals eine Jagdprüfung gemacht, da hat sie das Zertifikat aufgehängt. Also nehme ich an, dass ihr das wichtig war. Das gleiche mit der Yogaausbildung. Das liegt auch da drinnen. Dann haben wir auch die Sektflasche, die wir [Markus und Kathrin] bei ihrer Seebestattung geöffnet haben, da haben wir einen netten Spruch draufgeschrieben, hineingelegt. In der großen Kiste. Cds, also Musik, die mich an sie erinnert. In der großen Kiste ist auch noch die Kerze, die ich für die Bestattung gebastelt habe, drinnen. Und in der zweiten kleinen Kiste, hat sie ein Geldtascherl, das hab ich natürlich so gelassen. Also E-Card und Visitenkarten und so sind noch drinnen. Dann ein Haarreifen, den sie anscheinend als Kind schon gehabt hat. Und ein Buch, das sie von ihrer Tante und ihrem Onkel bekommen hat. Da war sie ein paar Jahre alt und das war signiert von Tante Sarah. Finde ich eine sehr schöne Erinnerung. Ihren Kalender habe ich auch drinnen gelassen.“

Kathrin trennt hier die ganz persönlichen Dinge von Doris von den Erinnerungsstücken an sie. Sie baut mit der Unterteilung der Kisten wieder eine neue Priorisierung auf. In der großen Kiste bewahrt sie Gegenstände auf, die entweder für Doris oder sie emotional wichtig waren und sind, mit denen sie sich an sie erinnern möchte. In Doris Wohnung waren die Zertifikate an der Wand präsentiert und damit halb-öffentlich sichtbar für jede/n, der die Wohnung betrat. Daraus schloss Kathrin, dass die Zertifikate für Doris eine wichtige Rolle gespielt haben. Kathrin versuchte, deren Bedeutung zu respektieren, in dem sie diese im vorhandenen Rahmen unverändert in der Schatzkiste aufbewahrt. In der kleinen Kiste bewahrt sie Gegenstände auf, die sehr persönlich sind oder die für Doris bereits wichtige Erinnerungsstücke waren.

Äußerlich hat sie an den Kisten, so beschreibt sie Kathrin, nichts verändert, erzählt sie weiter. Eine der zwei Kisten hat unangenehm gerochen und da hat sie diese mit dem Parfum von Doris eingesprüht. Besonders interessant war gerade dieses Detail für mich. Die Erinnerung an ihre Mutter manifestiert sich hier nicht nur haptisch und visuell, sondern auch olfaktorisch.

„Ich möchte eigentlich schon alles in den Kisten belassen. Die haben nämlich auch eine Geschichte. Das war ein Dreier-Pack, den sich die Mama gekauft hat, und ich wollte unbedingt eine davon haben. Die haben mir so gut gefallen. Ich hab dann die mittlere bekommen und so ist es nach wie vor. Genau weiß ich gar nicht, wo die ist. Aber auf die kleine und auf die große Kiste pass‘ ich jetzt gut auf.“ An dieser Stelle fällt mir auf, dass sich die Wertschätzung gegenüber diesen Kisten mit dem Tod der Mutter verändert hat. Die Kiste, die ihr vor Jahren geschenkt wurde, hatte keinen besonderen emotionalen Wert – Kathrin verlor sie aus den Augen. Jetzt, vor dem Hintergrund, dass die Kisten eine Geschichte und für Kathrin ebenso wie für Doris eine Bedeutung haben, eignen diese sich gut als Aufbewahrungsort

„Ich hab auch viele Fotos gefunden, von Verwandten, die ich nicht kenne. Ich hab dann versucht zu recherchieren, wer das sein könnte. Mit anderen Verwandten Kontakt aufgenommen […] Ich hab zu ihrer Familie generell nicht so ein intensives Verhältnis gehabt, deshalb sind mir diese Fotos auch nicht wichtig. Aber ich hab mir gedacht, für die Personen, die drauf sind, ist es vielleicht nett, wenn sie diese Fotos bekommen.“

Kathrin deutet hier einen Kompromiss an, zwischen ihrer Priorisierung und der Priorisierung ihrer Mutter. Offensichtlich waren ihrer Mutter die Fotos zumindest so wichtig, dass sie sie selbst aufbewahrt hat. Kathrin sagte im Interview, sie würde gerne alles in der Wohnung aufbewahren und nichts entsorgen. In diesem Fall versucht sie abermals eine Rangordnung zu schaffen. Sie selbst würde die Fotos nicht aufbewahren, da sie die Personen darauf zum Teil gar nicht kennt. Nachdem Doris sie aber sammelte, möchte sie diese nicht einfach wegwerfen. Mit dem Verteilen unter den Familienmitgliedern und Freund*innen entwickelt sie einen Kompromiss zwischen diesen zwei Gefühlswelten. Doch bleibt ihre Haltung ambivalent.

„Ich hab genug Fotos von ihr und mir. Ich hab mir gedacht, ich brauch die nicht alle. Ich hab auch den Großteil ihrer Ex-Partner kontaktiert. Lustig war, manchmal hat sie eh schon den Mann weggeschnitten, wenn sie nicht mehr mit ihm in einer Beziehung war und einfach das Foto aufgehoben, wo nur sie drauf war. Auch wenn man offensichtlich gesehen hat, dass da wer weggeschnitten ist. Ich hab die Fotos, wo irgendwelche Ex-Freunde, die mir persönlich nicht wichtig waren oder die ich nicht für erinnerungswürdig empfinde, die hab ich weggeschmissen.“

Kathrin hat also auch bewertet, wer auf den Fotos zu sehen war. Fotos, die sie auch nach der Recherche nicht zuordnen konnte, wurden ebenso aussortiert. Sie will sich mit dem Aufbewahren der Fotos positive Erinnerungsstücke schaffen und sortiert Fotos von Nicht-Erinnerungswürdigen aus. Es kommt also zur Überschneidung der Priorisierung ihrer Mutter und ihrer eigenen Priorisierung. Kathrin erzählt mir, dass sie für sich keine Fotos aufbewahrt, mit denen schon ihre Mutter nichts anzufangen wusste; sie hatte diese lose in Kartons geworfen. Jedes Fotoalbum aber, als ein Medium des Sammelns und Ordnens, wurde aufbewahrt. Unter den losen Fotos suchte Kathrin lediglich nach Fotos von sich selbst und Fotos, auf denen sie gemeinsam mit ihrer Mutter abgebildet ist und sortierte diese um in ihre eigenen Fotoalben.

„Davon gab es viele. Bis ich fünf Jahre alt war, hat sie [die Mutter] offenbar Fotostrecken angefertigt. Davon hat sie sich immer die für sie schönsten ausgesucht und sie in ein Album geklebt. Die restlichen Fotos waren zum Beispiel auch Teil der losen Fotos. Also auch die hat sie aufbewahrt. Die werden ihr wohl auch wichtig gewesen sein, denn sonst hätte sie sie ja nicht aufbewahrt.“

Ich habe Kathrin auch danach gefragt, wo oder wie sie die Fotos gefunden hatte. „Die Fotos waren alle irgendwo verteilt. In jedem Eck sozusagen. In irgendwelchen Kisten. Es gab keinen speziellen Ort in ihrer Wohnung. Ich hab die zusammengesammelt.“ Doris Foto-Kisten wurden so zu Foto-Kisten von Doris in Kathrins Wohnung und im Keller der Großeltern. Anders als die besagten Schatzkisten. Diese wurden von Kathrin sorgfältig zusammengestellt und befinden sich beide sozusagen griffbereit in der Wohnung.

Unter den Fotos waren auch Briefe, die an ihre Oma adressiert und immer noch verschlossen waren. Nachdem sowohl ihre Oma als auch ihre Mutter die Briefe nicht öffneten, bewertete sie diese auch als unwichtig. Sie öffnete die Briefe zwar, um diese vielleicht, wie bei den Fotos, noch lebenden Personen zuordnen zu können. Andererseits hätte sie die Briefe auch als wichtig einstufen können, da sie ja, wenn auch verschlossen, von ihrer Mutter und der Großmutter aufbewahrt wurden. Kathrin entschied sich dagegen.

„Teilweise gabs Fotos, die irgendwo aufgeklebt waren. Auch von mir.“ Wenn das Motiv für Kathrin „gepasst“ hat, dann hat sie das Foto auch dann behalten, wenn es eher in schlechtem Zustand war. „Da gibt’s auch eines meiner Lieblingsfotos von mir, wo meine Mama mit mir am Schoß auf der Couch sitzt. Da schaut sie so richtig mütterlich auf mich herab. Wenn man das versteht. Man sieht einen Ring, den sie trägt. Den habe ich auch nach wie vor. Das freut mich einfach sehr. Es ist eines der wenigen Fotos, wo eben dieser Ring oben ist. Deswegen hat es vielleicht für mich auch eine so besondere Bedeutung. Aber auch das Foto an sich mag ich einfach gern. Also ist ein bisschen beschädigt, aber ich hab es nach wie vor.“ Dass sie ausgerechnet dieses Foto als eines ihrer Lieblingsfotos anführt, kann unterschiedliche Gründe haben. Auf der einen Seite trägt ihre Mama hier ein Schmuckstück, welches Kathrin nach wie vor an sie erinnert und eine Verbindung mit der Mutter bis in die Gegenwart darstellt. Auf der anderen Seite kann die Situation, die das Bild darstellt, der von Kathrin angesprochene mütterliche Blick ihrer Mutter auf sie, ausschlaggebend für die Wahl sein.

Doris und Kathrin hatten nicht immer ein gutes Verhältnis zueinander. Auch ihre Mutter Doris wuchs in schwierigen Verhältnissen auf. Kathrin war immer bemüht, das Beste aus dem Verhältnis zu Doris zu machen. „Sie so zu nehmen, wie sie ist.“ Doris nahm sich schlussendlich das Leben und Kathrin damit ihre Mutter.

Doris hatte auch Bilder an der Wand hängen, als Kathrin die Wohnung räumen musste. Mit den Rahmen hat Kathrin sie in einer Kiste bei ihren Großeltern väterlicherseits untergestellt. In der Wohnung waren auch leere Bilderrahmen. Diese hat sie jetzt bei sich zuhause aufgestellt und mit neuen Bildern versehen. „Ich muss da einiges [an Ordnung] bei mir zuhause sowieso wieder verändern. Weil jetzt ist sie sehr präsent. Ich mein, sie ist sowieso sehr präsent in meiner Wohnung, nachdem auch viele Möbel von ihr sind. Und ich hatte davor schon Fotos von ihr hängen. Aber jetzt sind es fast zu viele. Das ist schon fast unheimlich. Die Bilder, die sie in die Rahmen gegeben hat, kommen vielleicht einfach einmal in die Schatzkiste dazu. In die Mama Kiste.“ Kathrin scheint im Zwiespalt zwischen der einerseits erwünschten und der als übertrieben empfundenen Präsenz ihrer Mutter. Kathrin verwendet hier das Wort „unheimlich“, führt es aber nicht näher aus. Dieses Gefühl hat sich offensichtlich erst nach einiger Zeit gezeigt und nicht direkt nach dem Tod der Mutter. 

Eine Digitalisierung der Fotos kommt für Kathrin nicht in Frage. „Ich finde das total schön. Die meisten Dinge, die ich von Mama geerbt habe, verwende ich jetzt. Sie haben also einen neuen Nutzen. Also zumindest einen neuen Verwender und nutzen sich ab. Und diese Bilder in den Fotorahmen, die lass ich so, weil sie das halt so wollte. Und das ist für mich eines der Dinge, die eben für die Ewigkeit, oder für die nächsten Jahre, so bleiben können, wie sie das eben damals arrangiert hat und sich gedacht hat, dass das genau so bleibt. Also möchte ich ihr das nicht so zerstören, sozusagen.“

Ariane Siegel-Tramontana, geboren in Graz, lebt seit ihrer Kindheit in Wien. Neben ihrem Beruf als Kommunikations- und Stimmtrainerin widmet sie sich seit 2017 mit Leidenschaft dem Fach der Europäischen Ethnologie. Arbeitsschwerpunkte: Materielle Kultur und Patchworklandschaften.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Nachweise

Gespräche mit Kathrin Huber (anonymisiert) am 08.01.2021, geführt von Ariane Siegel-Tramontana.

Habermas, Tilman: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Frankfurt am Main 2. Aufl 1999. (2., rev. Aufl.).