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Ein Beitrag von Paula Fischer-Zistler
Seit über sechzig Jahren wohnt ein altes Ehepaar in seinem selbst erbauten Haus. Dessen drei Kinder, ein Sohn und zwei Töchter, sowie Enkelkinder haben ihren Lebensmittelpunkt rund hundert Kilometer entfernt. Vor Jahren beschlossen die über 80jährigen Eltern dem Sohn Äcker und Weingärten und den zwei Töchtern Haus und Grund zu zwei gleichen Teilen rechtlich zu übertragen. Die Post bringt die Briefe, in denen das Finanzamt den Schwestern die Verleihung des Eigentumsrechtes an Haus und Grundstück bestätigt, am gleichen Tag. Umgehend öffnet die Jüngere ihren Brief, liest ihn, schließt die Augen und nimmt einen tiefen Atemzug um die einströmenden Gedanken ungefiltert zu inhalieren.
Ein Traum wird wahr, er ist mit einer Sehnsucht verbunden, welche die Schwestern seit jeher verbunden hatte: ein Haus zu besitzen, in dem die ganze Familie zusammenkommen kann. Die beiden tauschen sich aus, schwelgen in Erinnerungen, produzieren gemeinsame Visionen. Rund um das Haus entsteht ein neues, gemeinsames Zukunftsbild, mit schönen, harmonischen – romantischen – Kindheitserinnerungen und glücklichen Ereignissen, ähnlich jenen Bildern, wie sie besonders zur Weihnachtszeit und in amerikanischen Filmen populär sind – eine große glückliche Familie verbringt gemeinsame Zeit miteinander.
Die rechtliche Übertragung war ein Akt, der einen undefinierbar langen, vielleicht sogar lebenslangen, innerfamiliären Prozess besiegelt hat. Der Prozess impliziert familiale und lokale Kulturtechniken rund um das (Ver-)Erben und damit verbundene Konventionen und Normen. Er spiegelt Traditionen um die Weitergabe von Land und Besitz, den Umgang mit sogenannter Aussteuer und damit geschlechterspezifischen ökonomischen Transfers sowie Verhaltensformen von Einzelnen und Kollektiven.
Die Traude hat ihm das eingeredet, […] und der Gerhard: Verschreib das Haus! Weil wenn du fünf Jahre verschrieben schon hast, dann kannst du ins Altersheim gehen und brauchst nichts zahlen.[…] Er hat einfach zu mir gesagt, wir fahren […].
Die Sache scheint banal zu sein, und entspricht der nüchternen Logik des Vaters. Bereits Monate davor waren die drei Geschwister zusammengesessen und hatten sich auf die Aufteilung des elterlichen Vermögens geeinigt. Der Bruder stimmte zu, Äcker und Weingärten zu bekommen, die Schwestern akzeptierten die Übernahme von Liegenschaft und Haus zu zwei gleichen Teilen. Gleichbehandlung empfanden die drei Kinder als eine Selbstverständlichkeit, die von den Eltern ein Leben lang vermittelt wurde.
Jedoch: Die Idee der Vermögensübertragung kam nicht vom Vater selbst, sie wurde ihm eingeredet, erzählte die Mutter. Die Empfehlung, Haus und Grund rasch zu überschreiben, beruht sicher auch auf den Erfahrungen der dörflichen Gemeinschaft, in welche das über 80jährige Ehepaar eingebunden ist; sie bezieht sich auf den Pflegeregress, also das Zugriffsrecht des Landes auf das Vermögen von in stationären Pflegeinrichtungen aufgenommenen Personen. Einige Monate nach der rechtlichen Überschreibung des Vermögens wurde dieser Zugriff für gesetzlich unzulässig erklärt.
Findest du das Haus schön? wird die Enkelin gefragt. Was ist schön? entgegnet sie, vorsichtig lächelnd. Sie verirrt sich in ihren Kindheitserinnerungen und antwortet dann: Es war schön dort zu sein.
Für die Enkelin ist das Haus nicht besonders schön, auch das Dorf in dem es steht, findet sie eher unspektakulär. Dem Dorf fehlen ihrer Ansicht nach Qualitäten, die einen Ort attraktiv machen: die geographische Lage, die Einbettung in eine schöne Landschaft, ein belebtes Ortszentrum mit Einkaufsstraße und Gastronomie oder auch interessante Sehenswürdigkeiten.
Das Familienhaus stellt für die Enkelin einen (schönen) Raum der Kindheitserinnerungen dar, welche mit individuellen und kollektiven Erlebnissen verbunden sind. Es besteht eine gefühlsmäßige Bindung zu Großeltern und Haus, jedoch nicht zum Dorf. Anders verhält es sich bei den Kindern des alten Ehepaars, die im Dorfverbund aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Die emotionale Beziehung zum Haus scheint von Generation zu Generation schwächer zu werden. Der Wunsch der Enkelin ist, das Haus schön herzurichten, es komfortabel und vorzeigbar zu gestalten, um darin nicht nur gemeinsam mit der Familie, sondern auch mit Freunden ein paar Tage verbringen zu können.
Träume kommen unerwartet und unwillkürlich. Hier ist alles schön und von Hoffnung getragen. Manchmal kippt die Stimmung und aus einem Traum wird ein Alptraum. So finde ich mich nun in einem dieser Träume und stehe hier davor: Ich fühle mich zu Hause, doch das Haus ist hässlich.
Das Haus – es wurde in den 1960er Jahren gebaut – hat seine besten Tage hinter sich. Das Bauwerk war wahrscheinlich bereits in seiner Entstehung nicht besonders reizvoll, jedoch funktional. Es hat ein hohes spitzes Dach, die straßenseitige Fassade ist mit Eternitplatten eingedeckt. Die Bausubstanz ist nach Angaben des Bauherren qualitativ gut. Der Vater hatte es selbst gebaut, er war Zeit seines Lebens Maurer von Beruf.
Auf die Instandhaltung wurde weniger Wert gelegt. Das dafür benötigte Geld verteilten die Eltern regelmäßig an Kinder und Enkelkinder. Vier Generationen füllten das Gebäude mit Leben, für rund vier Jahrzehnte. Die letzten zwanzig Jahre wird es nur noch vom alten Ehepaar bewohnt. Grund und Boden zu besitzen war für den Vater immer außerordentlich wichtig. Die rechtliche Überschreibung des Hauses dient aus seiner Sicht vor allem dazu, die Immobilien in der Familie zu halten, falls eine Altersversorgung im Pflegeheim notwendig werden sollte.
Und für mich war das irgendwie wie eine Erlösung, wenn du und deine Schwester das Haus übernehmt für deine Kinder, … Und ich hab mir immer gedacht, wenn das überschrieben ist, immer solange sie wollen können sie da herfahren.
Laut der (Familien-)Psychologin Christiane Wempe, deren Schwerpunkte unter anderem auf Erbschaft und Geschwisterbeziehungen liegen, sollen durch die Weitergabe des Familieneigentums an die Nachkommen häufig die Generationen verbunden werden. Dieser Wunsch kommt auch im Interview mit der Mutter stark zum Ausdruck. Die ganze Familie soll immer die Möglichkeit haben in dieses Haus zu kommen und dies würden nach Überzeugung der Mutter die Töchter gewährleisten.
Eine Schenkung kann auch eine Art Versicherung gegen Lebensrisiken bilden, betonen die Familienforscher Thomas Leopold und Soziologe Thorsten Schneider. Vorrangig geht es der Mutter nicht um das Hinterlassen finanzieller Vermögenswerte, sondern darum, ein „Daheim“ für alle zu bewahren. Die Mutter folgt hier ihrer Einschätzung der ökonomischen Bedarfslagen, insbesondere einer der Töchter und der Enkelkinder, für welche sie einen Ausgleich schaffen möchte. Diese Einschätzung entspringt ihren eigenen Erfahrungen und muss nicht unbedingt der Realität ihrer Nachkommen entsprechen. Vermutlich stehen dahinter größere Sorgen und Entbehrungen aus der Zeit ihrer eigenen Kindheit, die sie offensichtlich auf die Familienmitglieder überträgt.
Also ich war am Anfang enttäuscht, ich hätte lieber in Wien mit ihm gelebt, wie man halt normal lebt. Und dann denk ich mir wieder oft, war es eh gut. Weil, ihr seid hier herunten aufgewachsen. Und seine Eltern haben wen gehabt – mich. Und meine Mutter, meine Eltern, die Großmutter hat auch noch mich gehabt.
Den Eltern wurde wohl nicht nur die eigene Endlichkeit bewusst, sondern auch der Umstand, dass sie im Falle der Pflegebedürftigkeit externe und damit kostenpflichtige Hilfe in Anspruch nehmen müssten. Auf die Altersbetreuung durch die berufstätigen und weit entfernt wohnenden Kinder könnten sie höchstwahrscheinlich nicht zählen. Die wiederholten Erzählungen oder auch nur Anspielungen der Mutter, wie sie selbst sich um die Eltern des Vaters und später um die eigenen Eltern gekümmert habe, sind vorauseilender Vorwurf, der von den betroffenen Familienmitgliedern, in diesem Fall den Töchtern, sehr wohl verstanden wird.
Das geerbte beziehungsweise geschenkte Haus ist, so wie es die Historikerin Margareth Lanzinger beschreibt, mit Verpflichtungen verbunden, die die sozialen innerfamiliären Relationen sichtbar machen. Es war im Dorf seit jeher selbstverständlich, dass sich die Frauen um die älteren Generationen kümmern. Dabei müsste nach dem Zeithistoriker Dirk van Laak die Altersversorgung heute grundsätzlich zu einem großen Teil von sozialen Sicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates abgedeckt sein sollten. Die Eltern sind also nicht nur Förderer ihrer Kinder, sondern möchten sich auch selbst abgesichert sehen. Schenkungen sind im Gegensatz zu einer Erbschaft freie, zielgerichtete Handlungen, die es, wie die Kulturwissenschaftlerin Ulrike Langbein betont, den Vererbenden ermöglichen, das Wirksamwerden der Zuwendungen bewusst zu erleben, daran teilzuhaben oder sogar zu kontrollieren.
Die Schwestern hatten einen Traum. Ihre anfängliche Vision von einem gemütlichen Familienhaus mit Garten und Pool weicht nun langsam einer neuen Erkenntnis. Diese Erkenntnis hat keine Worte, sie hat keine Sprache, sie erwächst aus einem Gefühl. Der Traum droht zu zerplatzen.
Leopold und Schneider erkennen einen wichtigen Zusammenhang zwischen den Motiven und dem Timing intergenerationaler Transfers, demnach sind die Beziehungen zwischen Gebenden und Empfangenden von großer Bedeutung. Vor allem die Mutter hat großes Interesse an der Teilhabe an und Kontrolle über den rechten Gebrauch des Erbes. Es gibt, so Langbein, Bedingungen, die an die ökonomischen Transfers gebunden sind, auch das Phänomen der Dankbarkeit gehört dazu, wie sie die Mutter beständig einfordert.
Einerseits entspricht der Vermögenstransfer dem Wunsch des Vaters nach Absicherung von Haus-, Grund- und Bodenbesitz in der Familie, andererseits dem Bedürfnis der Mutter nach persönlicher emotionaler Absicherung und der Sicherheit eines Zufluchtsortes für Kinder und Enkelkinder. Als rechtliche Absicherung für die Eltern wurde auch ein Wohnungsgebrauchsrecht sowie ein Belastungs- und Veräußerungsverbot im Schenkungsvertrag verankert. Vor allem die Mutter behält die Kontrolle über das familiäre Geschehen rund um das Haus. Die Mutter, das offenbart sich im Laufe eines Interviews, dürfte seit jeher das Sprachrohr der Familie sein.
Die anfängliche Idyllisierung des Familienhauses durch die Töchter, mit all ihren persönlichen Erlebnissen, Erinnerungen und Zukunftsvisionen, steht stark im Widerspruch zum Alltag. Langsam erwächst das Bewusstsein, den gemeinsamen Wunsch nach einem Familienhaus nicht erfüllen zu können. Gleichzeitig tauchen unerwartete Hürden auf, die das Projekt zu Fall bringen könnten. Das (Ver-)Erben als kulturelle Praxis aktiviert, so wie Langbein aber auch Lanzinger erklären, ein Wechselspiel zwischen materiellen Interessen, sozialen Beziehungen und emotionalen Bindungen.
Und da hab ich einen roten Teppich gehabt, weißt du, so eine Freud. […] Kannst du dich noch erinnern, der Teppich was da drinnen ist noch in der Speis – weißt du wie der dankbar ist. […] Weil den Belag haben wir ja erst machen lassen, da ward ihr ja schon erwachsen. Und der war so gut, so dankbar. Die Mutter streicht mit der Hand zärtlich über einen unsichtbaren Teppich. Aus ihrem Gesicht strahlt das Glück vergangener Tage.
Auf allen begehbaren Flächen des Hauses sind Teppiche verteilt. Sie liegen nebeneinander, teilweise übereinander, eine Gewohnheit, die die Mutter schon immer hatte. Jegliches Material, das lange hält, oder auf dem man den Schmutz nicht so gut sieht, bezeichnet sie als „dankbar“. Was nicht kaputt ist, wird als „neu“ beschrieben. So kommt es, dass das Haus völlig angeräumt ist mit „dankbaren“ und „neuen“ Objekten: dankbare Teppiche, ein dankbarer Tisch, dankbare Bettwäsche und Kleiderschürzen, neue Kinderzimmermöbel, Schränke, Spielsachen. Der Gedanke, diese Dinge aufzubewahren, ist mächtig, er wirkt beständig im Alltag. Er ist ein Anker, der festhält, was einmal wichtig war. Das Nicht-Loslassen-Können ist mit der Angst des Vergessens gekoppelt; die unterschiedlichsten Objekte werden mit Geschichten beladen, die jederzeit und in beliebiger Ausführung hervorgeholt werden können.
Objekte und Objektgruppen haben eine eigene Biografie, betont Lanzinger. Dabei habe Wert und Bedeutung einen fluiden Charakter, der nicht alleine an der konkreten Materialität der Dinge festgemacht, sondern an den jeweiligen sozialen Kontext gebunden sei. Die Biografie der „dankbaren“ und „neuen“ Dinge steht demnach stark im Zusammenhang mit der Biografie der Mutter. Sie war in der Vergangenheit jene gewesen, die nie Ressourcen verschwendet hatte und damit der Familie einen angemessenen Lebensstandard ermöglichte. Aus schleißigen Handtüchern und Bettwäsche wurden Geschirr- und Putztücher, aus nicht mehr passenden Kleidern der Mutter wurde neue Kleidung für die Kinder genäht.
Die gebrechliche Mutter nimmt ihre Matratze, schleppt sie in das sanierte Zimmer und hievt sie auf das neue Bett. Der Ofen in ihrem Schlafzimmer wäre kaputt, darum musste sie in unserem Zimmer schlafen, verteidigt sie sich am Telefon. Ein paar Tage später stellt sie fest, das Bett in diesem Zimmer wäre zu hoch und wandert ins nächste Zimmer um dort zu schlafen. Nach und nach hat sie alle Zimmer, alle Betten beschlafen.
Zwei Zimmer hatten Töchter und Schwiegersöhne bereits zum gelegentlichen Übernachten hergerichtet, bezugsfertig, mit Matratzen und Bettzeug. Es war der Wunsch der Schwestern, dass für alle Familienmitglieder bei Bedarf die Möglichkeit bestünde im Haus der Eltern zu übernachten. Seit jener Zeit war die Mutter auf einer eine Art Schlaf-Wanderung unterwegs.
Die Angst vor einem Kontrollverlust führt die Mutter zu unbewussten Handlungen, mit denen sie ihr Territorium abzustecken und zu festigen versucht. Das Haus ist nicht nur mit einer Fülle von Erinnerungen aufgeladen, es repräsentiert auch unausgesprochene innerfamiliäre Machtverhältnisse, welche beständig zu verteidigen sind. Der materielle Wert des Hauses steht dabei in keinem Verhältnis zu dessen ideellem Wert.
Während für die Beteiligten eine neue Wirklichkeit entsteht, demontiert die Mutter Wort für Wort die Träume der Töchter. Die Matriarchin neigt ihren Kopf demütig zur Seite und bittet in der bleibenden Zeit ihres Daseins keine Veränderungen im Haus vorzunehmen. Und die Töchter verstehen auch unausgesprochen, was die Mutter schon immer gemeint hatte – nur über meine Leiche!
Was hatten die Töchter erwartet, als sie das Haus überschrieben bekamen? Beide hatten unmittelbar nach der rechtlichen Übertragung Kontakte mit ehemaligen Freund*innen und Schulkolleg*innen aufgenommen, in der Erwartung sich in Zukunft wieder öfter zu sehen. Schlafmöglichkeiten für Familienmitglieder und Freund*innen wurden hergestellt, Pläne geschmiedet.
Mittlerweile ist der Lebensmittelpunkt von Kindern und Enkelkindern über hundert Kilometer entfernt, sie kommen nur noch zu allen heiligen Zeiten zu Besuch. Der Verfall des Hauses wird immer sichtbarer, damit verflüchtigt sich ein Möglichkeitsraum. Gleichzeitig bleibt eine Art Band, das die ganze Familie mit dem Haus zu verbinden scheint.
Bedeutungslos erscheinen die Kindheitserinnerungen der Enkelin im Gegensatz zu den ständig wiederholten dominanten Geschichten der Großmutter. Doch, auch wenn sie nur winzig sind, so stecken ganz viele Abenteuer in ihnen: im Hühnerhof, am Dachboden, im Keller oder in den alten Kinderzimmern von Mutter, Tante und Onkel. Langsam vervollständigen sich als bereits vergessen geglaubte Bilder und entlarven Widersprüche und Ungereimtheiten in den Erzählungen der Großmutter.
Harald Welzer beschreibt anhand eines Experimentes des britischen Psychologen Frederic Charles Barlett das Phänomen der wiederholten Reproduktion. Hierbei geht es um die Neigung der sich erinnernden Personen, Geschichten mit einem eigenen Sinn auszustatten, was sich als Rationalisierung verstehen lässt. Dabei wird das Erzählmaterial nach einem Prinzip des „Sinnmachens“ verdichtet. Die Mutter erzählt Geschichten, die sie mit Kindern und Enkelkindern, als sie noch klein waren, erlebt hatte immer wieder aufs Neue. Mit jedem Erzählen verändern sich die Geschichten. Auch persönliche Interpretationen und Lebensträume der Mutter fließen in diese Geschichten ein, und zwar in Form von Wünschen und Träumen der Kinder und Enkelkinder.
Die Mutter projiziert und importiert in ihre Geschichten jene Werte, die für sie die wichtigsten waren und welche sie von jeher vermittelt hatte: Geborgenheit und bedingungslose Liebe gegenüber den Kindern – das war ihr Kapital. Materielles stand dabei immer im Hintergrund, und dennoch kann sie die Dinge im Haus nicht loslassen. Im Haus hat die Mutter die stärkste Wirkungsmacht. Seit jeher steuert sie die Beziehungen innerhalb der Familie. Sie formt das Familiengedächtnis mit ihren eigenen Narrativen in ihren eigenen Interpretationen. Sie bestimmt dadurch auch Moral und Normen.
Die Vergangenheit ist ihre Zukunft, sie hat ja sonst keine. Die Vergangenheit hat sich in all den Dingen um sie herum festgefressen. Würden die Dinge ihr genommen, würde sie gleichzeitig ihrer Zukunft beraubt – davor hat sie Angst!
Das Wohnzimmer ist der zentrale Ort der Kommunikation, hier werden Gäste empfangen, hier wird zusammengesessen, gegessen und geredet. Das Wohnzimmer ist als einziger Raum im Haus immer beheizt, hier hängt eine Korktafel mit Fotos von allen Familienmitgliedern. Ganz prominent in der Mitte steht ein Tisch.
Das Wohnzimmer ist voll von Dingen, dennoch überwiegt nicht das Dinghafte, sondern die Stimmung mit einer Ahnung von alldem, was hier jemals gesprochen wurde und was sich innerhalb der Familie ereignet hatte. Die Fotos an der Wand sind Teil der Atmosphäre, sie finden sich in allen Gesprächen. Das Wohnzimmer vermittelt Geborgenheit und Wärme. Hier vereinigen sich die zentralen Aspekte, die nach Welzer typisch für das „Familiengedächtnis“ sind. Im Wohnzimmer passieren die, wie Welzer es formuliert, „[…] kommunikativen Vergegenwärtigungen von Episoden […], die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen […]“. Meist erfolgt dies unbewusst und nebenbei.
Und in dem großen Schlafzimmer, die Möbel, die ich noch habe, habe ich von meinen Eltern, wie wir geheiratet haben, gekriegt: die Schlafzimmermöbel mit Ausstaffierung, alles, die Matratzen, die Tuchenden, die Pölster, die Bettwäsche, die Handtücher und Geschirrtücher. Was ich alles gehabt habe, Unterwäsche und alles.
Zum 18. Geburtstag erhielten die Töchter eine Aussteuer in Form von Bettwäsche und Handtüchern. Nach Erzählung der Mutter wurde eine ehemals abgeschlossene Lebensversicherung in eine sechsjährige Ansparung für diese Aussteuer umgewandelt. Eine Frau im Ort hatte diese Art von Mitgift-Versicherung vermittelt, es handelte sich dabei um eine bis in die Gegenwart gepflegte Tradition innerhalb des Dorfes.
Warum die Töchter Bettwäsche und Handtücher erhielten und der Sohn nicht, kann die Mutter nicht erklären – es war damals eben so. Die von Frauen in die Ehe eingebrachten Dinge, die als Aussteuer bezeichnet werden, waren Dinge des täglichen Gebrauchs, die zur Führung des Haushalts benötigt wurden wie Bett- und Tischwäsche, Kissen und Decken.
Nach van Laak erben Frauen anders als Männer, und das jenseits von abweichenden juristischen Rahmenbedingungen auch auf psychologischen und sozialen Ebenen. Er bezieht sich dabei auf Ergebnisse von Langbein, wonach Frauen eher an Beziehungssymbolen, Männer eher an Statussymbolen orientiert seien. Auf das Haus, obwohl den Äckern gleichwertig an materiellem Wert, kann nicht zugegriffen werden, es ist eher mit der Verantwortung der möglicherweise einmal pflegebedürftigen Eltern verbunden. Die vom Sohn geerbten Äcker wirken sich bereits jetzt in dessen landwirtschaftlichem Unternehmen steuerlich begünstigend aus. Eine eventuelle Bevorzugung des Sohnes wurde den Töchtern erst bewusst, als die Mutter im Interview diesen möglichen Vorteil des Sohnes ungefragt verteidigte.
Im Erbfall werden oft familiäre Fairnessregeln ausgehandelt, erklärt van Laak. So wäre der mutmaßliche Vorteil des Sohnes nach Ansicht der Mutter dadurch ausgeglichen, dass die Schwestern und Enkelkinder zu jeder Zeit ein „Zuhause“ hätten. Ein Gefühl des Unrechts kommt erst durch die wiederholte und beschwichtigende Behauptung der Mutter auf, alle Kinder immer gleich zu behandeln. Langbein argumentiert mit dem Kulturwissenschaftler Utz Jeggle, dass Beziehungen und Emotionen in der ländlichen Welt wären nie ohne Kalkül zu denken sind. Jeggle spricht von „der historischen Verpflichtung gegenüber der Verwandtschaft“. Es gilt demnach dem Ziel Landbesitz zu erhalten – und das lag auch im Kalkül des Vaters, der davon ausgegangen war, dass der Sohn diesen Wert ebenso zu schätzen wüsste wie er selbst.
Das möchte ich nicht, […] derweil wir leben, halt ich nicht mehr aus, das Umbauen! Nach Mitgefühl ringend wandert der Blick in Richtung Boden, die Hände ineinander gelegt. So hatte es immer funktioniert, doch sie wusste nicht, dass sie bereits durchschaut wurde. Auf ein nimmer Wiedersehen du schöner Traum, dachten die Schwestern.
Durch die Blockade der Eltern wird das Renovieren und das Nutzbarmachen des Hauses erschwert oder sogar verhindert. Auf der anderen Seite mangelt es jedoch auch an der Überzeugung aller Beteiligten Geld und Zeit in das weit vom Lebensmittelpunkt entfernte Haus zu investieren. Ein neues Familienziel könnte sein, gemeinsam das Haus in den nächsten Jahren für die Nutzung aller herzurichten. Dabei müssten vorrangig zukünftige Beeinträchtigungen der Eltern mitgedacht und auf altersgerechte Bedürfnisse Rücksicht genommen werden.
Die Gegenwart ist gerade dabei, die Vergangenheit zu verändern und die Geschichte neu zu schreiben. Ein neuer innerfamiliärer Aushandlungsprozess hat begonnen. Er fordert einen Kompromiss, in dem auf einen Teil der Vergangenheit und auf so manche Träume verzichtet werden muss. Die Zeit formt die Zukunft neu, sie ist unumgänglich, denn das Alter kann nicht aufgehalten werden. Nicht jenes des Menschen, nicht jenes der Materie.
Das Haus steht für innerfamiliäre Kontinuität und Stabilität. In diesem Haus trifft sich seit jeher die ganze Familie zu Geburtstagen, zu Weihnachten und zu Ostern, oder zum gemeinsamen Grillen im Sommer. Die Eltern wissen nicht, dass dieser gemeinsame Raum durch deren Ängste und Blockaden bedroht ist, zerstört zu werden. Heute geht es nicht mehr darum, Erinnerungen in den vielen alten verfallenen Gegenständen zu speichern, dafür muss das Gedächtnis herhalten. Heute geht es darum abzuwägen, was für die Eltern gut ist und was gemeinsam getan werden kann, um ihnen ein möglichst beschwerdefreies Wohnen in ihrem selbst erbauten Haus zu ermöglichen. Gleichzeitig könnte eine Möglichkeit für Kinder und Enkelkinder geschaffen werden, sich an diesem Leben gelegentlich zu beteiligen.
Familien seien ökonomische, soziale, emotionale und ethisch verbundene Gemeinschaften, erklärt Langbein. Erben sei ein lebenslanger Prozess der Konstruktion, Überprüfung und Verinnerlichung von materiellen und ideellen Werten. Langbein zitiert den Ethnologen Hans Peter Hahn, der feststellt, dass Erben immer auch ein „Rebellieren, Aushandeln und neues Legitimieren“ bedeutet. Damit würde es sich bewahrheiten, dass Erben „mit Veränderungen der (Sicht auf die) Dinge, der Werte und der sozialen Ordnung“ (Jeggle) verbunden ist, die nun innerhalb der Familie neu komponiert werden.
Paula Fischer-Zistler ist im Burgenland aufgewachsen und lebt seit 1984 in Wien. Erst spät und neben einer Vollzeitbeschäftigung konnte der Wunsch erfüllt werden zu studieren. Das vielseitige und spannende Studium an der Europäischen Ethnologie in Wien wurde in diesem Frühling mit dem Master abgeschlossen.
Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.
Nachweise
Interview mit Enkelin am 22.11.2020, geführt von Paula Fischer-Zistler
Interview mit Mutter am 19.12.2020, geführt von Paula Fischer-Zistler
Bühler-Niederberger, Doris: Elternhaus. In: Hasse, Jürgen, Schreiber Verena (Hg.): Räume der Kindheit. Ein Glossar. Bielefeld 2019, 52-57.
Langbein, Ulrike: Behalten und Bewahren, Verprassen und Vergessen. Potentiale einer kulturanthropologischen Erbschaftsforschung. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): Erbe_n, Weitra 2018, 17-27.
Lanzinger, Margareth: (Ver-)Erben aus historisch-anthropologischer und Geschlechterperspektive. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): Erbe_n, Weitra 2018, 2018, 101-115.
Leopold, Thomas, Schneider, Thorsten: Schenkungen und Erbschaften im Lebenslauf. Vergleichende Längsschnittanalysen zu intergenerationalen Transfers. In: Zeitschrift für Soziologie, 39, H. 4, 2010, 258-280.
Van Laak, Dirk: Was bleibt? Erben und Vererben als Themen der zeithistorischen Forschung. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13, 2016, 136-150.
Wempe, Christiane. Erbschaften – Grund zur Freude oder eher ein Kreuz für Familien? In: The Inquisitive Mind. Ausgabe 3, 2015. https://de.in-mind.org/article/erbschaften-grund-zur-freude-oder-eher-ein-kreuz-fuer-familien (Zugriff: 09.02.2021)
Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005, 152-184.