Die Korrespondenzen der Großmutter. Von Erinnerungsstücken zu historischen Quellen

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Von Katharina Burgstaller-Mühlbacher

Im Haus der Großmutter

„Little things mean a lot.” Dieses Lied ist seit Wochen über den Röhrenempfänger zu hören. Auch jetzt, als Margie mit ihren beiden älteren Geschwistern das Haus der Eltern verlässt und sie sich auf den kurzen Weg zum Haus der Großmutter machen, hört sie es aus dem Wohnzimmer. Oma Theklas Haus ist nur zwei Blocks entfernt. Bei der Großmutter gibt es immer tolle Geschichten zu hören. Über die Zeit, als sie noch in einem anderen Land lebte, welches heute anders heißt. Darüber, wie sie als junge Frau mit dem Schiff über den großen Teich kam und wie aufgeregt sie war, als sie in Ellis Island an Land ging. Auch habe sie eine Zeit lang als Kindermädchen für Carl Laemmle, dem Begründer der Universal Studios, gearbeitet. Als die Enkel das Haus betreten, kommt ihnen Oma Thekla entgegen und begrüßt Bobo – so nennt die Großmutter Margie – und ihre Geschwister. In Oma Theklas Haus gäbe es viel zu erkunden. Im Wohnzimmer etwa steht ein Bücherschrank, der für die Enkel zum Sperrgebiet erklärt wurde. Das Möbel und dessen Inhalt sind unantastbar für Kinderhände. Margie hat aber auch noch nie gesehen, dass Erwachsene den Schrank geöffnet hätten. Hinter den gläsernen Scheiben der Schranktüren stehen Hummelfiguren, ein Stoff-Schwein der Firma Steiff und andere Dinge so platziert, dass man sie gut sehen kann.

Für Entdeckungsreisen bietet sich vor allem der erste Stock an. Die wachsamen Augen der Großmutter können die jungen Entdecker*innen dort nicht stören. In den Zimmern stehen zahlreiche Schachteln voll mit Dingen, von denen die Geschwister nicht verstehen, aus welchem Grund ausgerechnet diese Dinge aufgehoben werden. Neugierig fragen sie Oma Thekla, wem denn all diese Briefe und Postkarten gehören. Die Großmutter erklärt, dass es ihre sind. Einige stammen aus einer Zeit, bevor sie auswanderte. Andere machten sich von Europa aus auf die Reise zu ihr nach Amerika. Verdutzt fragen die Enkel*innen nach: „Sind diese Briefe dann nicht sehr alt? Musst du die denn behalten?“ Die Großmutter lacht. Die Schrift auf dem Papier erinnert die Kinder an die Hieroglyphen, von denen sie in der Schule lernten. Lesen können sie weder Margie noch ihre Geschwister. Aber auch, wenn sie das könnten, die Sprache würden sie ohnehin nicht verstehen. Warum die Großmutter ihre alten Korrespondenzen behält, verstehen sie nicht. Aber vielleicht bedeuten diese kleinen Dinge der Großmutter viel.

Der Bücherschrank, der Serviettenring und die Korrespondenzen der Großmutter

Auf die Frage, seit wann sie von den Briefen und Postkarten der vor über vierzig Jahren verstorbenen Großmutter wisse, antwortet mir Marjorie, sie ist eine meiner beiden Interviewpartnerinnen in Fragen zu dieser Sammlung, dass sie über die Existenz der Korrespondenzen bereits als kleines Mädchen Bescheid wusste. Die vorangegangene Erzählung basiert auf den Erinnerungen der damals ungefähr Achtjährigen. Marjorie, die mittlerweile Anfang siebzig ist, erzählt, wie sie mit ihren Geschwistern oft auf Besuch bei Thekla, so der Vorname der Großmutter, war. Nach Margies Heirat und dem Wegzug aus Kansas City kam sie nur mehr ab und an auf Besuch.

In unserem Interview zu den Korrespondenzen der Großmutter – bestehend aus Briefen und Postkarten, welche den Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit darstellen – geht es „(…) schnell um spezifische Erinnerungen und Schlüsselmomente“ (Lisa Eidenhammer), welche Marjorie an diese Hinterlassenschaft knüpft. Sie verweist oft auf die Biografie der Großmutter, auf deren Charaktereigenschaften, auf deren Haus, aber auch auf eigene Kindheits- und Lebenserinnerungen. Eine Erzählung aus dem Interview mit Marjorie soll als Beispiel dienen: Als die Enkel*innen als Kinder die Großmutter fragen, weswegen diese ihre alten Korrespondenzen nicht wegwirft, erklärt ihnen Thekla, dass einige der Briefe aus den ersten Jahren ihrer amerikanischen Immigration stammen. Sie erzählt über ihre Zeit als Kindermädchen bei der Familie Laemmle in Kalifornien, dass Carl Laemmle einer ihrer ersten Arbeitgeber in Amerika war. Marjorie wiederum erzählt mir, dass diese Geschichte von ihr und dem Großteil der Familie über die Jahre als Ammenmärchen abgetan wurde. Die Großmutter sei eine begabte Geschichtenerzählerin gewesen, wobei sie es mit Fakten oft nicht so genau nahm. Darauf verweisen beide Interviewpartnerinnen. Jahre nach dem Ableben Theklas nimmt Marjorie mit ihrem Gatten an einer Führung durch die Universal Studios teil und erfährt zu ihrer Überraschung, dass die Erzählung der Großmutter der Wahrheit entspricht.

Auch Lisa, Marjories jüngerer Schwester, stelle ich die Frage, seit wann sie von der Existenz der großmütterlichen Korrespondenzen wisse. Sie habe erst vor fünf oder sechs Jahren davon erfahren. Auch wenn Lisa im Vergleich zu ihrer Schwester relativ spät von den Korrespondenzen erfährt, nämlich bereits viele Jahre nach dem Tod der Großmutter, knüpft sie an diese verschiedene Erinnerungen, die teils sehr detailliert sind. Lisa ist zehn Jahre alt, als Thekla im Jahr 1975 verstirbt.

Im Interview werden die großmütterlichen Briefe und Postkarten ausschließlich von mir mit Begriffen wie Hinterlassenschaft oder Erbe bezeichnet. Marjorie und Lisa scheinen die Korrespondenzen nur peripher als Erbstücke, sondern viel mehr als Erinnerungsstücke wahrzunehmen (Lisa Eidenhammer). Gegenstände, welche ihnen die Großmutter oder später die Mutter als Erbstücke übergeben, verstehen beide auch als solche. Beispielsweise verweist Margie auf den großmütterlichen Serviettenring, welchen ihr ihre Mutter schenkte. Im Vergleich dazu betitelt sie die Korrespondenzen, welche man zufällig im Haus der verstorbenen Eltern findet, als „stuff“ und „things“. Die Erinnerungsstücke setzen die Interviewpartnerinnen in ihren Erzählungen immer wieder in Relation zu Dingen, die sie dezidiert als Erbstücke bezeichnen. So auch den Bücherschrank samt Inhalt, welcher im Wohnzimmer der Großmutter stand. In der Erzählung wird dieser zu einem Schrein, dem man sich als Kind nur mit einem Sicherheitsabstand nähern durfte. Die Korrespondenzen hingegen befanden sich in Kisten im ersten Stock des Hauses, wo die Kinder uneingeschränkt Zugang hatten. Der Bücherschrank befindet sich derzeit in Lisas Besitz. Dieser stellt eines jener Dinge dar, welches die Interviewpartnerin als Erbstück versteht. Neben den medizinischen Lehrbüchern aus ihrer eigenen Ausbildungszeit zur Krankenschwester steht auch das Stoffschwein der Firma Steiff immer noch im Schrank, wie das auch bei der Großmutter der Fall war. Marjorie verweist ebenso auf ihre Erbstücke, wie etwa auf den bereits genannten Serviettenring der Großmutter, welchen diese aus der „alten Heimat“ mitgenommen hat.

Die Hinterlassenschaft, bestehend aus den großmütterlichen Korrespondenzen, konstituiert sich für die Interviewpartner*innen immer erst durch ihre Relation zu anderen Gegenständen, nämlich jenen Erbstücken, welche diese als wertvoll betrachten, so etwa den großmütterlichen Bücherschrank samt Stoff-Schwein oder der Serviettenring der Großmutter.

Brief, Hedwig Scholz an ihre Schwester Thekla Scholz, Langenbrück am 22.09.1911, Kiefer-Scholz Coll. L9110922-TL0018.1a ; Quelle: Sammlung Frauennachlässe 2021

Im Keller

Als Teil einer Rettungsaktion wurden diese Schachteln zu mir nach unten verfrachtet. Nun ist beinahe jeder Zentimeter von mir voll. Was dort oben den lieben langen Tag passiert, kann ich schwer sagen. Man hört immer wieder Schritte, Kinderlachen und, wenn man die Ohren spitzt, dann hört man, wie die Kinder ab und an versuchen, das Flügelhorn des verstorbenen Großvaters zu spielen. Geheim versteht sich. Die Mutter verbietet es. Manchmal, wenn die Tür für einen Moment offensteht, höre ich das Radio. „Die UNO-Generalversammlung hat dieses Jahr zum internationalen Jahr der Frau ausgerufen“, verkündet der Radiosprecher. Es ist kalt und dunkel hier. Keines der Kinder verirrt sich zu mir. Ich kann nicht erkennen, welche Dinge mir dieses Mal aufgezwungen wurden. Gut, ein paar Informationen konnte ich aufschnappen, als Mary, die Herrin des Hauses, mir die Schachteln mit Tränen in den Augen anvertraut. Ihre Mutter verstarb wenige Wochen zuvor. Die Sachen kommen aus deren Haus. Als die Tochter der Verstorbenen einmal Besuch von Bekannten hatte und vergaß, die Türe zu schließen, konnte ich hören, wie sie über die Schwägerin wetterte. Diese hätte alle Schachteln entsorgen wollen. Auf den Müll hätte sie die Sachen geworfen. Ob sich die Bekannten das vorstellen können! Da habe sie kurzerhand alles zusammengepackt und mit nach Hause genommen. Die Tür geht auf. Mary kommt herein, nimmt ein Marmeladenglas aus dem Regal und verschwindet so schnell, wie sie kam.

Dreißig Jahre sind nun vergangen, seit mir die vollgestopften Schachteln anvertraut wurden. Oder sind es mittlerweile schon vierzig? Ich kann mich nicht genau erinnern. Richtige Freunde sind wir nicht geworden. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass wir nicht dieselbe Sprache sprechen. Immerhin weiß ich seit kurzem, was sich in den Schachteln befindet. Briefe, Postkarten sowie Photographien. Mary ist bereits verstorben. Im Haus hört man nur mehr die Schritte ihrer Tochter Roberta, die selbst schon um die fünfzig sein muss, je nachdem, welches Jahr wir gerade schreiben. Ob der Vater noch lebt, ist schwer zu sagen. Seine Schritte habe ich schon lange nicht mehr gehört. Roberta kommt mich jetzt öfters besuchen als früher. Immer wieder holt sie eine der Schachteln nach oben ans Tageslicht.

Zwischen Einweckgläsern und Spinnweben

Nicht nur Dinge sind in der Retrospektive von Relevanz, sondern auch die Räumlichkeiten, in denen man diese lagert. Der Historiker Manfred Pfaffenthaler weist darauf hin, dass Räume und Dinge immer auch in ihren Verhältnissen und Beziehungen zueinander von Interesse sind, nicht nur jeweils für sich selbst. Nun sind es nicht ausschließlich die Korrespondenzen, die mit Assoziationen verbunden sind, sondern auch der Keller. Lisa erklärt mir, dass die Schachteln mit den Briefen und Postkarten der Großmutter über vierzig Jahre im Keller ihres Elternhauses standen. Im Keller, wie sie mehrfach betont. Sie habe nicht gewusst, was sich darin befindet. Lisa rechtfertigt sich dafür, dass man die Schachteln über einen längeren Zeitraum im Untergeschoss des Hauses lagerte. Diese Rechtfertigung ist interessant, vor allem wenn man bedenkt, dass Lisa erst vor fünf oder sechs Jahren von den Inhalten dieser Schachteln erfährt. Das Thema einer „falschen“ Lagerung der Korrespondenzen wird womöglich erst durch meine Position als Forscherin und mein damit verbundenes wissenschaftliches Interesse daran von der Interviewpartnerin aufgegriffen.

Die Soziologin Silke Steets beschreibt den Keller als den am wenigsten repräsentativen Raum im Haus. Vielmehr fungiert dieser als Ablageraum, als „(…) ein gedachtes Zwischenlager für ausgeordnete Dinge, deren Wiederinbetriebnahme auf ein imaginiertes Später verschoben wird; de facto ist der Keller aber ein Endlager.“ Lisa hat ein ähnliches Verständnis.

Als die Großmutter 1975 verstirbt, muss deren Haus geräumt werden. Lisa erinnert sich daran, dass eine ihrer Tanten, die Schwägerin ihrer Mutter Mary, die Schachteln auf die Mülldeponie bringen will. Dies führt zu einem Familienkonflikt. Mary habe kurzerhand alle Schachteln genommen, sie nach Hause gebracht und aus Platzmangel in den Keller gestellt. Loslassen oder gar wegwerfen schien für sie nicht zur Debatte zu stehen.

Der Transfer der Schachteln in den Keller und deren Verbleib dort bringt nicht nur einen neuen Raum ins Spiel, sondern auch neue Akteur*innen. Die „Rettungsaktion“ kann als Schlüsselmoment in der Biografie der Hinterlassenschaft verstanden werden, wobei hier die Tochter der Verstorbenen, Mary, als Schlüsselfigur fungiert, die tatkräftig auf das Vorhaben der Schwägerin reagiert.

Als weitere wichtige Person in Hinblick auf die Hinterlassenschaft nennen beiden Interviewpartnerinnen ihre Schwester Roberta. Margie und Lisa bezeichnen die 2017 Verstorbene als „familyhistorian“, die, da sie bis zu ihrem Tod im Haus der Eltern lebt, eines Tages die Korrespondenzen entdeckt. Die Aussagen der Schwestern, wann genau Roberta diese findet, widersprechen sich. Ob es nun das Jahr 2005 oder 2015 ist, darüber ist man sich uneins. Dies weist einmal mehr darauf hin, dass Erinnerungen „(…) im hohen Maße konstruktiv“ sind, wie der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer betont. Dass Roberta diejenige war, welche sich als erste und einzige aus der Familie eingehend mit den Inhalten der Schachteln auseinandersetzte, darüber sind sich die Interviewpartnerinnen einig. Sie habe bei Telefonaten immer wieder darüber gesprochen, erzählt Marjorie im Interview, aber eben nur über die Dinge, welche Roberta entschlüsseln konnte. Sie war, wie der Großteil der Familie, weder der deutschen Sprache noch der Kurrentschrift mächtig, in welcher die Korrespondenzen verfasst sind. Die Korrespondenzen konnte Roberta zwar nicht entziffern, nichtsdestotrotz veranlasst der Fund der Hinterlassenschaft sie dazu, sich mit der Genealogie der Familie auseinander zu setzen, soweit ihr dies möglich ist. 

Auf dem Dachboden

Dass sie sich jemals wiedersehen würden, das hatte keiner von ihnen geahnt. Deshalb ist die Freude darüber umso größer. Wie lange es wohl her ist? Vor über einhundert Jahren überquerten sie den Atlantik. Der Tod der Besitzerin riss sie auseinander. Nach über vierzig Jahren gibt es einiges zu erzählen. Der Überseekoffer ist sehr gesprächig, er hatte auch lange niemanden aus der Heimat zu Gesicht bekommen. Außerdem sprechen sie dieselbe Sprache. Seit er vor zwölf oder dreizehn Jahren auf diesen Dachboden gebracht wurde, beheimatet er die Halloween Kostüme der Kinder. Geöffnet hat ihn schon lange niemand mehr. Erwachsen sind sie geworden, die Kinder. Etwas schmunzeln muss er schon. Wenn es sich bei den Briefen, Postkarten und Fotographien tatsächlich um einen Schatz handeln sollte, wieso würde man diesen dann in Plastik-Wannen, Taschen und Schachteln lagern? Einen Schatz würde man doch viel eher in einer alten Truhe vermuten. Aber was weiß schon ein alter Überseekoffer. Der Wissenschaft sollen sie dienen. Schachtel um Schachtel verschwindet, stetig, aber doch. 

Die Korrespondenzen sinnieren über ihr Leben. Die Haut ist gelblich, an manchen Stellen sieht man schon Altersflecken. Als jung kann man sie wahrlich nicht mehr bezeichnen, aber es scheint, als wäre eben das ihre beste Eigenschaft und ihr größter Reiz. Sie sind schon durch viele Hände gewandert, legten viele Kilometer und Meilen zurück.

Am unangenehmsten war das Scannen. Immer wieder fuhr der Lichtschein über sie. Ihre Geheimnisse und jedes noch so private und intime Detail versuchen ihnen die Wissenschaftler*innen zu entlocken.  Zeile um Zeile wird präzise transkribiert, jeder Federstrich und jeder noch so kleine Tintenklecks wird genauestens studiert und gedeutet. Endlich versteht man sie wieder! Nach schier endlos langer Zeit. „Kiefer-Scholz-Collection“ – so werden sie jetzt genannt. Ein Umzug steht bevor. Ein Archiv wird ihr neues Zuhause. Ein weiteres Mal überqueren sie den großen Teich.

Erneut auf Reisen

Nach dem Tod Robertas vor drei Jahren muss das ehemalige Elternhaus geräumt werden. Da Lisas Bruder John mit dieser Aufgabe überfordert ist, bittet er Lisa und deren Cousin Robert, ihm dabei zu helfen. Als sie in den Keller gehen, stehen zahlreichen Schachteln vor ihnen. Um entscheiden zu können, ob deren Inhalt von Wert ist und was davon aufbewahrt werden soll, öffnen sie die Schachteln und finden die teils über hundert Jahre alten Korrespondenzen und Fotografien aus dem ehemaligen Besitz der Großmutter. Lisa erklärt mir, dass sie zu Beginn nicht recht wusste, worum es sich handelt. Hier kommt eine neue Schlüsselfigur ins Spiel: der Cousin Robert. Nach dem Schulabschluss studierte dieser Geschichte. Dadurch erkennt er den wissenschaftlichen Wert der Korrespondenzen und Fotografien und weiß über deren Status als historische Quellen. Was für Lisa nach Altpapier aussieht, erkennt Robert als wissenschaftliche Quelle, was darauf hinweist, dass die Bedeutung der Dinge diesen nicht inhärent ist, sondern „(…) von uns Menschen bzw. der Gesellschaft attribuiert“ (Eidenhammer) wird.

Nach dieser Entdeckung kontaktiert Robert seinen ehemaligen Nachbarn, einen Geschichtsprofessor, und fragt ihn, ob dieser eine wissenschaftliche Verwendung für die von ihnen gemachte Entdeckung hat. Dieser bejaht das sofort. Da der Keller zügig geräumt werden muss, nimmt Lisa die Hinterlassenschaft in Obhut. In Schachteln, Plastik-Wannen und Taschen werden sie in Lisas Dachboden zwischengelagert, bis man an der University of Missouri die Ressourcen zur Verfügung hat, die Korrespondenzen und Fotografien zu scannen und zu digitalisieren. Dies geschah bereits zum Teil, es stünden aber noch einige Schachteln auf ihrem Dachboden, direkt neben dem Überseekoffer der Großmutter, so Lisa.

Durch die Weitergabe der Hinterlassenschaft an eine wissenschaftliche Einrichtung tritt die „komplexe Kulturtechnik der Tradierung“ (Ulrike Langbein) ein weiteres Mal, dieses Mal in einer professionellen Dimension, zum Vorschein. Die Kulturwissenschaftlerin Ulrike Langbein beschreibt, dass es durch die Weitergabe der Dinge öfters zu Veränderung im Umgang mit diesen kommt. Die Korrespondenzen und Fotografien werden zu Quellen ab dem Moment, ab dem sie an eine wissenschaftliche Einrichtung übergeben, dort gescannt und sowohl analog als auch digital archiviert und der Forschung zur Verfügung gestellt werden. Auf die Statusänderung eines Alltagsgegenstandes hin zu einer historischen Quelle, welche nach der Übergabe an ein Archiv stattfindet, verweist auch die Historikerin Li Gerhalter. Dadurch wird ihr Fortbestehen und ihre Dauer, also eine Zukunft, garantiert (Eidenhammer). Die Hinterlassenschaft der Großmutter wandert vom familiären, privaten in den institutionalisierten Raum wissenschaftlicher Öffentlichkeit, in diesem Fall ins Archiv Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien. Dort wird dafür Sorge getragen, dass das neue Archivgut nicht nur aufbewahrt, sondern auch erhalten und benutzbar gemacht wird. Die Tradierung der Hinterlassenschaft bedeutet in diesem Fall also auch deren Transformation und Einordnung in eine neue Logik, die eines Quellenbestand. 

Die Briefe, Postkarten und Fotografien, nunmehr als „Kiefer-Scholz-Collection“ bezeichnet, wurden bereits in einem internationalen studentischen Projektseminar im Sommersemester 2020 zu Teilen transkribiert und beforscht. Die Ergebnisse der Forschung veröffentlichte man als Online-Publikation mit dem Titel „From Langenbrück to Kansas City. The Kiefer-Scholz Family“. Ein Tag, auf den die Familienmitglieder sehnsüchtig warteten, so meine Interviewpartnerinnen. Endlich könne man die Korrespondenzen verstehen, sie lesen und auch in Erfahrung bringen, welche Informationen diese über die Großmutter, die Familie u.v.m. beinhalten. Durch das wissenschaftliche Interesse und die Auswertungen der Hinterlassenschaft überlagern sich unterschiedliche Wertigkeiten: jene der Familie mit jenen von Gesellschaft und Wissenschaft. Bereits die Benennung als „Kiefer-Scholz-Collection“ und der damit einhergehende Statuswechsel hin zu wissenschaftlichen Quellen wertet die Hinterlassenschaft auf. Den Familienmitgliedern wird dadurch nicht zuletzt die Möglichkeit eröffnet, die Inhalte der Korrespondenzen zu erschließen, auf eigene Spurensuche zu gehen und die Anfangszeit der Großmutter als oberschlesische Emigrantin besser zu verstehen. Dies wäre ihnen ohne eine wissenschaftliche Aufbereitung nicht möglich.

Kiefer-Scholz-Collection, gelagert in säurefreien Kartonschachteln kurz nach ihrer Ankunft in der Sammlung Frauennachlässe am 16.06.2021, Universität Wien. Quelle: Li Gerhalter, Sammlung Frauennachlässe, 2021

Katharina Burgstaller-Mühlbacher ist Masterstudierende der Europäischen Ethnologie an der Universität Wien. Ihre thematischen Interessenfelder sind u. a. Biographieforschung, materielle Kultur, Historische Anthropologie, sowie Kolonialismus und Postkolonialismus in Wissenschaft und Alltag.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Nachweise

Interview mit Marjorie (Margie) Ann McHale am 25.01.2021, geführt von Katharina Burgstaller-Mühlbacher

Interview mit Elizabeth (Lisa) Carol Weis am 24.01.2021, geführt von Katharina Burgstaller-Mühlbacher

Eidenhammer, Lisa: Ein Stück Erbe. Zur Bedeutung von Erbstücken. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): Erbe_n. Macht – Emotion – Gedächtnis. Weitra 2018, 29-49.

Gerhalter, Li: Selbstzeugnisse sammeln. Eigensinnige Logiken und vielschichtige Interessenslagen. In: Dallinger, Petra-Maria, Hofer, Georg (Hg.): Logiken der Sammlung. Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik. Berlin/Boston 2020, 51-70.

Langbein, Ulrike: Behalten und Bewahren, Verprassen und Vergessen. Potentiale einer kulturanthropologischen Erbschaftsforschung. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): Erbe_n. Macht – Emotion – Gedächtnis. Weitra 2018, 17-27.

Pfaffenthaler, Manfred: Perspektive von Räumen und Dingen. Einleitung. In: Ders., Lerch, Stefanie, Schwabl, Katharina, Probst, Dagmar (Hg.): Räume und Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2014, 11-18.

Steets, Silke: Keller. In: Hasse, Jürgen, Schreiber, Verena (Hg.): Räume der Kindheit. Ein Glossar. Bielefeld 2019, 138-144.

Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. In: Ders.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 7-18.