Unsicherheit erforschen II

Geschätzte Lesedauer: 13 Minuten

Zwei Blogbeiträge aus dem Seminar mit Exkursion zum 16. SIEF Kongress „Living Uncertainty“ in Brno, Tschechien (6.-10. Juni 2023)

Der 16. Kongress des europäischen Fachverbands für Europäische Ethnologie, die Gesellschaft für Ethnologie und Folklore (SIEF) hat sich dem Thema „Living Uncertainty“ gewidmet. Die Nähe nach Brno (90 Minuten Zugfahrt von Wien) haben wir zum Anlass genommen, im Sommersemester 2023 ein Seminar mit Exkursion im Masterprogramm anzubieten, in dem Masterstudierende die wissenschaftliche Praxis einer internationalen Konferenz kennen lernen – und sich gleichzeitig forschend damit auseinandersetzen: Wie wird Unsicherheit derzeit in unserem Fach erforscht, welche Forschungsfelder liegen dabei nahe und welche werden dabei vielleicht auch übersehen?

Nachdem wir uns in der Vorbereitung intensiv mit dem Format Kongress und dem Fachverband, sowie mit dem Programm und den daraus ersichtlichen Methoden, Konzepten und Forschungsfeldern beschäftigt haben, haben wir während des Kongresses ausgesuchte Vorträge, Workshops, Panels und Side-Events individuell und in der Gruppe besucht.

In den zwei für den Blog überarbeiteten Abschlussarbeiten ist die kritische Positionierung als teilnehmend beobachtende Studierende ausschlaggebend, um einerseits der Qualität von Unsicherheit in der sozialen Praxis „Fragen“ nachzugehen („Fragen über Fragen – als Studierende auf dem 2023 SIEF-Kongress „Living Uncertainty“ von Johanna Resel), und andererseits Praktiken, die Sicherheit im Kontext eines Kongresses erzeugen sollen, als unterschiedlich starke Grenzziehungen zu befragen („Der ethnologische Kongress in Brünn: ‚Safe Space‘ oder ‚Blase‘?“ von Martina Mikulka).

Bis zum nächsten Kongress!

Der Kongress als Safe Space

„Safe Space“, „Insel“ oder „Blase“ ?

Beim Durchsehen des Programms für den 16. Kongress „Living Uncertainty“ von SIEF, der Internationalen Gesellschaft für Ethnologie und Folklore, in Brünn im Juni 2023, entschloss ich mich schon sehr früh, das angebotene „Curated audiovisual programme“ zur Gänze anzusehen. Das Hauptprogramm bestand aus Vorlesungen und Workshops, aber da ich mich für Fotografie und Film ganz generell interessiere, wollte ich das angebotene Programm an ethnografischen und dokumentarischen Filmen ausnützen.

Die Herausforderung, drei Filme pro Tag zu sehen und diese auch zu verarbeiten, hat mich gereizt. Ich wollte ein Gefühl oder eine Vorstellung von einem ‚Filmfestival‘ bekommen, wo sich Filmkritiker*innen auch mehrere Filme täglich ansehen müssen.

Ich kenne das vollständige ‚Eintauchen‘ in die Thematik einer Veranstaltung von der Biennale in Venedig oder der Documenta in Kassel und habe das immer positiv erlebt. Man bewegt sich in einem sehr engen Feld, sowohl thematisch als auch sozial, sieht über mehrere Tage immer dieselben Leute, dadurch entsteht auch eine besondere Form der Konzentration. Die Wahrnehmung von Zeit verschwimmt, man kommt in einen Zustand der meditativen Kontemplation. Ich wollte also wahrscheinlich ein positives Erlebnis wiederholen, etwas das ich schon kannte und habe damit für mich eine Art Sicherheit erzeugt.

Einerseits Blase

Gleich beim zweiten Film „Living Water“ (Pavel Borecký, 2020) hatte ich ein Schlüsselerlebnis. In dem Film geht es um ein Gebiet in Jordanien, Wadi Rum, wo bis heute nomadische Personen, Beduinen und Beduininnen leben.  Es gibt zwar unterirdisch vorhandene Wasser-Ressourcen, einen See, doch ist es schwierig, diese zu nützen. Verschiedene Gruppen beanspruchen ein Recht auf den Zugang zu diesem Wasser –  private Großfarmen, die Einwohner*innen einer naheliegende Stadt und verschiedene Investor*innen – insgesamt eine tickende Umwelt-Zeitbombe. Am wenigsten Zugang zu dem Wasser haben die nomadischen Personen, die ursprünglichen Einwohner*innen des Gebiets, die Wasser für ihre Herden brauchen und die damit ihre Lebensgrundlage verlieren.

Als ich nach dem Ende des Films den Saal verließ und zum nächsten Pausenraum ging, empfing mich ein ausladendes Büffet mit zwei mehrere Meter langen Tischen, bestückt mit Mineralwasserflaschen zur freien Entnahme (s. Beitragsbild oben). Dieses Bild machte mir in der Sekunde klar, dass ich mich in einer elitären Situation befand. Ich musste nicht um Wasser kämpfen, ich war gut versorgt und das war ganz normal. In gewisser Weise übertrug ich dieses Bild der Wasserflaschen auf die Situation des gesamten Kongresses. Wir, die Teilnehmer*innen des Kongresses beschäftigten uns zwar mit dem Thema „Living Uncertainty“, befanden uns aber zumindest für die Dauer des Kongresses in einem sehr sicheren Umfeld, einem ‚Safe Space‘, einer ‚Blase‘. Der Fürsorge der Veranstalter*innen konnte man gar nicht entkommen.

Inhaltlich waren die Filme sehr gut kuratiert und wurden dem Thema des Kongresses gerecht. Die insgesamt acht Filme behandelten ökologische Unsicherheit an Beispielen der Klimakrise, körperliche Unsicherheit an Hand von Behinderung, geografische Unsicherheit oder Zugehörigkeit mit den Themen Entwurzelung und Traumabewältigung. Alle Filme handelten von Menschen, die eine Veränderung ihrer Lebenssituation antizipierten oder eine krasse Veränderung erlebt hatten. Alle lebten in einem bestimmten sozialen Umfeld, einem Dorf, oder einer zusammengewürfelten Gemeinschaft. Manchmal machte das gemeinsam Erlebte, ein ähnliches Schicksal, sie zu einer Gruppe. Diese sozialen Gruppen waren jede für sich auch eine ‚Blase‘, eine abgekapselte Einheit.

Ich als Zuseherin gehörte aber zu keiner dieser Blasen, ich war draußen und sah hinein. Ich bekam einen Blick und einen Zugang zu ‚anderen‘ Leben, konnte mit Empathie, Unverständnis oder Kritik reagieren. „In der Dunkelheit des Theaters wird das Konzept eines geheiligten privaten Raumes reproduziert, in den ein Zuschauer mit seinen Blicken eindringt. [….] Dabei entsteht eine doppelte Reflexivität von Sehen und Erleben.“[i]

Andererseits bildet man beim Sehen eines Films auch eine Beziehung zu den Menschen im Film. MacDougall meint: „And the other being the sense of an emotional connection with the people in the film. Ultimately, the two kind of closeness become merged in a larger intersubjective relationship involving filmmaker, subject and viewer.”[ii]

Ich war aber in meiner eigenen ‚Blase‘ als Teilnehmerin an einem ethnologischen Kongress. Durch mein kleines Filmfestival bildete ich sogar eine zweite ‚Blase Film‘, zur ersten ‚Hauptblase Kongress‘.

Andererseits Insel

Alle Vorführungen fanden im gleichen Raum statt, einem kleinen, modernen Hörsaal, der abgedunkelt war. Wie in jedem Kino verursachte die Dunkelheit ein Gefühl von Abge-schlossenheit, ein Austreten aus der ‚Wirklichkeit‘ und der ‚normalen‘ Zeit. „The typical cinematic environment is one of sensory deprivation. The spectators sit in a darkened room insulated from the sounds outside. They remain motionless in their seats. They are often separated from others in a state of blankness, anticipation and receptivity. It is no wonder that early theorists compared this condition to dreaming, and films to artificial dreams that invade our consciousness.”[iii] Interessant ist hier die Verwendung der Bezeichnung „insulated”, also abgeschirmt, auf einer Insel sein, ähnlich einem „Safe Space“ oder einer ‚Blase‘. Eine Blase kann durchbrochen werden, eine Insel ist eher schwer zu erreichen. Im Fall des Vorführraums in Brünn wurde die ‚Insel‘, der „Safe Space“ durch das Lüften und Erhellen des Raumes zwischen den Filmen unterbrochen/aufgelöst, die ‚Blase‘ blieb.

Ich wechselte absichtlich für jeden Film meinen Sitzplatz, um eine neue Perspektive zu bekommen. Ich traf auf andere wiederkehrende Teilnehmer*innen, ich war aber die einzige, die zu allen Vorführungen kam. Was übrigens von den Kurator*innen am Ende des Programms positiv bemerkt wurde.

Und manchmal auch Höhle

Ich lasse mich sehr leicht von (schönen) Bildern emotional beeinflussen. Und alle gezeigten Filme waren in einer gewissen Weise ‚schön‘, mit wenigen Ausnahmen. Mit schön meine ich, dass schwierige Themen optisch ansprechend und visuell schön umgesetzt wurden. Film arbeitet in der Regel mit Emotionen, da es sich aber um ethnografische, bzw. dokumentarische Filme handelte, behandelten alle Filmemacher*innen ihre Themen auch mit einem gewissen Abstand und Distanz.

Dagegen werden die Filme der Ethnologin und Filmemacherin Jana Ševčíková, die mit drei Einreichungen (Old Believers, 2001; Gyumri, 2008; Those Who Dance in the Dark, 2022) vertreten war, auf ihrer Website als emphatisch, aber objektiv beschrieben. Weiter heist es dort: „Ševčíková’s intimately crafted works challenge the distanced conventions of ethnographic filmmaking.”[iv]

Alle Filme waren professionell umgesetzt und einige wurden auch schon auf tatsächlichen, künstlerischen Filmfestivals (Biennale, Viennale, Berlinale) gezeigt, nicht nur auf meinem privaten. Damit will ich sagen, dass der ethnografische Film die Möglichkeit hat, ein größeres und heterogeneres Publikum zu erreichen, über die ethnologische, wissenschaftliche ‚Blase‘, und einer Konferenz und die ‚Insel‘ der Filmvorführungen hinaus.

Foto: Martina Mikulka

Ich beobachtete an mir selbst, dass ich zuerst einmal während des Schauens und unmittelbar nach dem Ende jedes Films mit meinen Gefühlen reagierte und relativ unkritisch war. Erst beim Nachdenken über die Inhalte wurde ich wieder kritischer und sah die Filme dann mit mehr Distanz. Man könnte also behaupten, das Thema „Uncertainty“, zu dem die Filme durch das Programm in Bezug gesetzt wurden, wird mit dem Gefühl anders beurteilt als mit dem Verstand. Die Filme haben meine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt, dass ich keine ‚Zeit‘ hatte, mit dem Verstand zu reagieren.

Nach jeder Vorführung gab es für das Publikum die Möglichkeit, mit den Filmemacher*innen zu sprechen und Fragen zu stellen. Diese Interviews wurden von den Kurator*innen geleitet. Die Zuschauer*innen stellten wenige Fragen, wovon die meisten mit praktischen Details der Umsetzung zu tun hatten. Ich hatte den Eindruck, dass alle Filmemacher*innen sehr froh waren, ihre Filme zeigen zu können. Ihnen war die damit verbundene Anerkennung wichtig und sie sprachen sehr gerne über ihre Erfahrungen und Motivation. Der Anstoß zu den Filmen kam bei den meisten aus ihrem ethnologischen Interesse an einer Gruppe. Bei einem Film war das Interesse eher ein künstlerisches, und bei einem anderen Film stand eine philosophische Absicht im Vordergrund. „Uncertainty“ war für keinen der Filme ein eigentliches Thema, es gab also kein gemeinsames Konzept oder Ausgangspunkt. Das Interesse lag auf bestimmten Menschengruppen, bestimmten Landschaften oder bestimmten Tatsachen, die wiederum Handlungsweisen hervor riefen.

Unsicherheit bestand jedoch für die Filmemacher*innen selbst vor Beginn der Umsetzung, denn alle vorgeführten Filme wurden mit Förderungen verschiedenster Art finanziert. Das heißt, die Filmemacher*innen befanden sich in einer ungewissen finanziellen Situation. Nach Bewilligung der Förderung hatten sie andererseits die Verpflichtung, das Projekt durchzuziehen und mussten ein „wissenschaftliches Dokument“  abliefern. Fast alle Filmemacher*innen gaben an, dass sich ihr ursprüngliches Konzept, sowie ihr wissenschaftliches Interesse während des Filmens veränderte. Ich denke, das ist ein großer Unterschied zu einem kommerziell hergestellten Kunst- oder Unterhaltungsfilm, der nach einem abgesegneten Drehbuch abgearbeitet wird.  Bei ethnografischen oder dokumentarischen Filmen ist das Ende aber offen. Durch die gefilmten Interviews und die Beschäftigung mit einem Thema veränderte sich auch das Wissen und die Sichtweise.

Nur ich als Rezipientin der Filme war in einer sehr sicheren Position. Ich konnte mir alle Filme in einer abgeschirmten Umgebung ansehen und durfte bzw. konnte ein Urteil abgeben.

Auf Grund meiner Recherche habe ich gelernt, dass der ethnografische Film innerhalb der Ethnologie lange eine schwierige und unsichere Position hatte, als nicht wissenschaftlich genug galt. “Anthropological knowledge came to be understood as that which could be expressed in writing or in the schemata of diagrams and tables. Films, by comparison, do things in a different way, and anthropological films, partly as a consequence of this, have often failed to live up to anthropological expectations. In considering the potential of film-making for anthropological research, we need to look more closely at the sorts of knowledge films can create and how they create it.”[v] Der ethnografische Film hat also eine Sonderstellung und das Potential, ‚zusätzliches‘ Wissen zu erforschen – nämlich eines, das mit Sprache nicht ausgedrückt werden kann. Er hat auch die Möglichkeit, ein breiteres Publikum zu erreichen als die klassische Wissenschaft und erschließt damit eine andere Öffentlichkeit. Er kann aus der wissenschaftlichen ‚Blase‘ heraustreten. Öffentlich machen dient der Wissensproduktion: „Öffentlichkeiten als alltagskulturelle Anliegen und Modi entstehen nicht allein in den dafür vorgesehenen Institutionen. [….] Auch ist die Artikulation von Öffentlichkeit nicht auf spezifische Medien, wie Zeitungen, usw. beschränkt. Vielmehr entstehen Öffentlichkeiten aus der Verbindung dieser Elemente und in der Vermittlung von Wissensproduktion. [….] Verwissenschaftlichung ist so gesehen aufs Engste mit Vergesellschaftung und dem Versammeln und Verhandeln von Öffentlichkeit verknüpft.“[vi]

Foto: Martina Mikulka

In den Pausen zwischen den Filmen verließ ich natürlich meine ‚Blase Film‘ und begab mich in die ‚Hauptblase Kongress‘. Ich traf meine Kolleginnen und Kollegen des Seminars, wir aßen zu Mittag, tauschten uns aus und lernten uns auch besser kennen. Ich saß im Café, machte meine Notizen, auch Fotos, und beobachtete das Treiben um mich herum.

Wissenschaftliche Kongresse sind ein Bestandteil des Wissenschaftsbetriebs, sie sind eine Kommunikations- und Lernmöglichkeit für Wissenschaftler*innen und Student*innen. Sie sind Teil der Wissenschaftskultur und sie erfüllen auch eine soziale Funktion, dienen dem Kennenlernen und Pflegen von Kontakten. Aber bei mir blieb am Ende der vier Tage ein Gefühl von Isolation, nicht von mir persönlich in einem sozialen Sinn, aber durch das Eintauchen in die Welt des ethnografischen Films und der Konferenz war die ‚reale Welt‘ für mich still gestanden.

Ich gewann den Eindruck, dass dieser Austausch abgeschirmt von der Wirklichkeit ‚da draußen‘ war und auch wenig Einfluss auf die Welt ‚da draußen‘ hatte. Dieser höhlenartige Eindruck wurde vielleicht noch verstärkt durch das Gelände der Universität, auf dem der Kongress stattfand. Der Campus ist ein abgeschirmter Block mit Innenhof, zu dem man nur durch ein Tor Zugang hatte. Dadurch entstand bei mir der Eindruck, dass der Kongress einerseits eine intellektuelle ‚Blase‘, geeint durch das gemeinsame Interesse, war. Gleichzeitig war der Campus auch eine abgeschiedene ‚Insel‘, die zwar Schutz aber auch Isolation erzeugte.

Positiver Safe Space

Wissenschaftliche Konferenzen dienen nicht nur dem Austausch von Wissen und meaning-making, sowie der Produktion von wissenschaftlichen Wissens, sondern auch der gegenseitigen Versicherung. Die Fragestellung der Konferenz in Brünn war: „And so, we ask, what are the everyday practices of coping with uncertainty?“ Eine Antwort auf diese Frage in Bezug auf Wissenschaft ist, das Bilden von sozialen/intellektuellen ‚Blasen‘ und „Safe Spaces“ mit Hilfe von Konferenzen.

Dass Wissenschaftler*innen versuchen, sich gegenseitig zu „versichern“, ist absolut verständlich, leben doch viele in unsicheren beruflichen Verhältnissen und besonders bei den Geisteswissenschaften wird der Nutzen gerne in Frage gestellt. (Und Österreich hat den Ruf besonders wissenschaftsfeindlich zu sein.) Diese allen gemeinsame Prekarität wurde beim abschließenden Round Table der Konferenz zum Thema gemacht „On the Precarity of Our Disciplines: Possible Ways Forward”. Darüber nachzudenken und Lösungen anzustreben ist natürlich positiv und notwendig. Gerade durch die Betonung des Gemeinsamen wird aber auch das Blasendenken verstärkt – „we are in this together“.

Der Journalist Hans Rauscher zitiert in einem Artikel im Standard vom 28.7.2023 den österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen mit „Raus aus unserer Blase“. Dieser hatte bei seiner Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele 2023 gesagt: „Bringen Sie ihre Blase zum Platzen! Reden Sie mit Leuten, die Sie nicht kennen. Die nicht zu ihrer Gruppe gehören. Besuchen Sie einmal die benachbarte Blase.“ Hier ist die Blase also etwas negatives, etwas, das zu Engstirnigkeit und Einseitigkeit führt, etwas, das der offenen Diskussion und der Demokratie entgegenwirkt.

Was könnte die benachbarte Blase für die Europäische Ethnologie, die Wissenschaft sein? Muss sie andere Öffentlichkeiten suchen? „Insbesondere in Zeiten multipler Krisen wird Öffentlichkeit zum Anliegen, das problematisiert, in Frage gestellt oder verteidigt wird. Gesellschaftliche Polarisierung, ob sozial, ökonomisch, kulturell oder politisch, ist Auslöser und Ausdruck dieser Destabilisierung von Öffentlichkeit und Praktiken des Öffentlichmachens.“[vii]

Bei der abschließenden Keynote am letzten Tag des Kongresses sprach Andrea Petö von der Central European University, Vienna zum Thema „Teaching and Writing the Truth Today: Five Options“. Inhaltlich ging es um die Verteidigung der Demokratie und der Lehre von Wissenschaft und Wahrheit. Dabei fiel der Satz: „Why are we so weak today even though we know we are the good ones?” Ich sehe diesen Satz kritisch, geht er doch von der Annahme aus, alle Teilnehmer*innen des Kongresses wären derselben Meinung, und verallgemeinert somit  stark. Ein gemeinsames Interesse macht nicht unbedingt gleich und schon gar nicht gut. Gerade diese Verallgemeinerung erzeugt aber auch ein Gruppengefühl, verstärkt die ‚soziale Blase‘ des Kongresses, sowohl positiv als auch negativ.

Anders der Begriff „Safe Space“,  der generell positiv besetzt ist.

„Ebenso ist der Safe Space ein Raum der Gemeinschaft. Hier treffen sie auf Gleichgesinnte, die einander verstehen, aufbauen und empowern. Im Safe Space herrscht Ehrlichkeit und Verständnis, ganz frei von Angst und Gewalt.“[viii] Nach dieser Definition ist ein ethnologischer Kongress also eher ein „Safe Space“ als eine ‚Blase‘.

„Für mich sind Safe(r) Spaces aber vielmehr der Versuch einer Pause, als ein Versteck. [….] Aber diese Konfrontationen kosten Anstrengung und genauso wie es Momente gibt, in denen wir in den Dialog treten, muss es Momente geben, in denen wir ruhen dürfen.“[ix] Bezogen auf eine Konferenz als „Safe Space“ heißt es, dass man eine Pause machen kann vom regulären wissenschaftlichen Alltag. Eine Konferenz ist zwar eine ‚Blase‘ (wenn auch kein ruhiger Ort), aber sie kann der Vorbereitung dienen für ein späteres in den Dialog-treten mit einer anderen, größeren Öffentlichkeit.

„Safe Space“ oder ‚Blase‘, beides sind imaginierte und soziale ‚Räume‘. Und die Sozial- und Kulturwissenschaften sehen Raum schon lange als Handlungs- und Vorstellungsraum. Er ist einerseits soziales Konstrukt, andererseits konkreter Lebensraum.[x] „Wir kennen soziale Räume, symbolische Räume, Heterotopien, imaginierte Räume – all diese lassen sich in so ganz handfeste Raumordnungen wie dem Büro des Vorgesetzten, dem Supermarkt oder dem Friedhof erkennen.“[xi] Oder auch den Kongress.

Der imaginierte Raum eines Kongresses hat noch andere positive Aspekte. Er schließt ein kritisches Potential mit ein, die kritische Imagination, das Infragestellen auch gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen.[xii] Nur durch die physische als auch geistige Zielgerichtetheit sowie eine gewisse Isolation entsteht auch eine Konzentration auf das Wesentliche, bzw. auf das Wesen einer Sache.

Auf einem Kongress vermischen sich positive und negative Aspekte einer Gruppenerfahrung, er ist „Safe Space“, ‚Blase‘ ‚Insel‘ und ‚Höhle‘ gleichzeitig. Vielleicht ist aber mehr Raum für individuelle und diverse Erfahrung als es (für mich) auf den ersten Blick schien. Dazu ein Satz von Heather Paxson von der MIT Website für Anthropology, den man auch auf Kongresse anwenden kann, nicht nur auf MIT: “We are not a bubble – By encouraging universal, though not uniform, participation in the organization and life of the Institute, and in fostering for everyone, on their own terms, an experience of belonging.”[xiii]

Ich hoffe, dass, indem ich meine Erfahrungen über den Kongress in Brünn teile, die Blase geplatzt und dieser Blog ein Schritt in eine andere Öffentlichkeit ist.


[i] Rainer Winter, Elisabeth Niederer (Hg.) Ethnographie, Kino und Interpretation –
die performative Wende der Sozialwissenschaften, transcript Verlag, Bielefeld, 2008. S. 92. 

[ii] David MacDougall, The looking machine, Essays on cinema, anthropology and documentary filmmaking, Manchester University 2019. S. 69. 

[iii] Ebd., S. 79. 

[iv]  https://janasevcikova.com/en/bio.php

[v] MacDougall 2019, S. 138.

[vi] Matthias Beitl, Christian Elster, Alexa Färber und Anna Weichselbraun (Hg.),
Problematisieren und Sorgetragen. Kulturanalytische Konzepte von Öffentlichkeit und Arbeitsweisen des Öffentlichmachens, Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, Wien 2023. S.10-11.

[vii] Beitl et al. 2023, S. 7.

[viii] https://mias-anker.com/2021/04/12/was-sind-safe-spaces-und-gibt-es-sie-uberhaupt/

[ix] https://www.goethe.de/prj/zei/de/fem/22554555.html

[x] Katrin Bauer und Andrea Graf (Hg.), Raumbilder – Raumklänge. Zur Aushandlung von Räumen in audiovisuellen Medien, Münster, Waxmann Verlag, 2019. S. 7.

[xi] Ebd., S. 8.

[xii] Ebd., S. 37.

[xiii] https://anthropology.mit.edu/news/2022/culture-is-a-meaning-making-practice-heather-paxson-in-said-and-done