Barbara Tobler über die Strukturierung des Alltags durch Routinen und Normen

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Interview mit MA Absolventin Barbara Tobler über die Strukturierung des Alltags durch das Papierformat DIN A4

Worum geht’s in deiner MA-Arbeit? Wie bist du darauf gekommen?

Meine Masterarbeit trägt den Titel „Formatierter Alltag. Medienethnographische Perspektiven auf DIN A4“. Damit deute ich an, dass unser Alltag durch Routinen und Normen strukturiert ist, darunter Papiernormen und im Speziellen durch das Papierformat DIN A4.

Drauf gekommen bin ich 2019 in einem Seminar von Klara Löffler zum Thema „Materialisierung von Ordnung“. Eine Kollegin wählte als Gegenstand für eine Objektbiographie den Aktenordner. Im gemeinsamen Nachdenken kam mir der Gedanke, dass der Aktenordner passend für Papier im Format DIN A4 ist und Regale und Aktenschränke wiederum passend für Aktenordner gebaut sind. Das Format eines Blattes Papier gestaltet demnach nicht nur die Oberflächen, auf denen das Blatt liegt, sondern auch den Raum. Es wird umgesetzt in andere Materialitäten und führt aus dem Milieu des Schreibtisches und des Büros in unseren gesamten Alltag.

Aber so weit kam ich an diesem Nachmittag gar nicht, und es war ja nicht mein Thema, das ich in diesem Seminar bearbeiten wollte. Ich bemerkte allerdings in den folgenden Wochen, dass sich der Gedanke in meinem Kopf festgesetzt hatte und ich in unterschiedlichsten Situationen auf DIN A4 traf: Beim Kauf einer Handtasche vergewisserte ich mich, ob ich darin auch Unterlagen in DIN A4 unterbringen könne. Sie sollten natürlich auch in Aufbewahrungsboxen und –Möbeln Platz finden. Dass mein Drucker auf DIN A4 voreingestellt ist, war ganz selbstverständlich und dass in Discountern Aktenvernichter angeboten werden, die Papier im Format DIN A4 schreddern, überraschte mich nicht mehr, sondern war ein Beweis, dass das Format mitten in unserem Alltag angekommen ist, und das wortwörtlich. In der Beschreibung von Briefkästen auf dem Werbeprospekt fehlt der Hinweis darauf nicht, dass Poststücke in DIN A4 mühelos durch den Schlitz geschoben werden können.

Doch was tun mit der wachsenden Zahl von Einzelbeobachtungen und Funden? Es brauchte noch eine Zeit des Zweifeln und Überlegens, ob und wie sich daraus eine Abschlussarbeit machen lassen würde, zumal einige Menschen, denen ich von meinem Vorhaben erzählte, den Kopf schüttelten ob des für sie ungewöhnlichen Themas. Aber ich bekam auch Unterstützung in Form von Literaturtipps und Hinweisen auf die mathematischen Besonderheiten des Formates und die Personen, die sich damit vor 100 Jahren beschäftigt hatten. Es wurde klar, dass DIN A4, so selbstverständlich, wie es unseren Alltag gestaltet, auch eine Vorgeschichte hat. Genauer gesagt interessierte mich die Frage, in welchen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexten die Bemühungen um die Vereinheitlichung von Papierformaten positioniert waren, welche Faktoren für die erfolgreiche Verbreitung von DIN A4 relevant waren und wie sich Bezüge zur Gegenwart herstellen lassen würden.

Wie DIN A4 unseren Alltag ordnet, prägt und unterstützt, zeige ich in der Arbeit an unterschiedlichen „Fundstücken“ als Ergebnis gezielter Suche sowie zufälligen Beobachtungen und überraschenden Entdeckungen. Hinter einem Format steht noch kein Tun. Die Herausforderung bestand darin, Konzepte und Artefakte in ihrer Beziehung zu DIN A4 in einem dialogischen Prozess zum Sprechen zu bringen.

Das Format DIN A4 wurde am 18. August 1922 im Rahmen der DIN-Norm 476 über die Papierformate veröffentlicht, auf der die aktuelle internationale EN ISO 216 basiert. Es stellte sich die Frage, welche Faktoren für die rasche und weltweite Verbreitung des Formates maßgeblich waren. Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Papierformate hatte es nämlich schon seit dem Mittelalter gegeben.

Ich überlegte, wie ich den Übergang zwischen dem Davor, der Epoche der historischen Papierformate, und dem Danach, der raschen Verbreitung der Formatreihe A darstellen könne. Naheliegend war die Suche im Bereich der Universität und im Bereich der Verwaltung, des Büros, Orten des Schriftlichen und Verschriftlichten, des Verfassens und Vervielfältigens von Texten. Ich dachte an Dissertationen, die nicht gedruckt, sondern mit Schreibmaschine verfasst waren, zeitlich an das Jahr 1922 herangerückt. Und ich dachte an Verschriftlichtes aus dem Inneren der Verwaltung, wovon ich mir Regeln und Vorschriften zum Gebrauch von Papier erwartete.

Ich wurde fündig. Eine Heiratsurkunde von 1922 und eine Abschrift von 1945 zeigen zwei unterschiedliche Formate. Das Duplikat von 1945 ist im Format DIN A4 ausgestellt, das Original ist höher und schmäler und entspricht dem historischen Foolscap. Eine Dissertation von 1921 ist ebenfalls noch im alten Format verfasst. Ein besonders aussagekräftiger Fund waren Kanzleiordnungen für die Bezirksverwaltungsämter des Burgenlandes bzw. der Bezirkshauptmannschaften, so die aktuelle Bezeichnung. Die Kanzleiordnung der Bezirksverwaltungsämter von 1922 ist maschinschriftlich verfasst, vervielfältigt (hektographiert) und gebunden. Die Blätter haben das gängige historische Format 20,3 x 33 cm, sind höher und schmäler als DIN A4. Interessant ist der Zeitpunkt, das Jahr 1922. Das Burgenland wurde Österreich erst 1921 als neuntes Bundesland angeschlossen. Bis dahin gehörte es als „Deutschwestungarn“ zu Ungarn. Mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie war der Landstrich nicht mehr Teil des Königreichs Ungarn, sondern wurde Teil der Republik Österreich. Damit war eine doppelte Umstellung der Verwaltung nötig: von der Monarchie zur Republik, von Ungarn zu Österreich. Die Kanzleiordnung zeigt Elemente des „Noch“ (im Format), des „Schon“ (im Inhalt) und des „Dazwischen“ (die darin genannte Hauptstadt Ödenburg sollte sich nicht durchsetzen; nach einer Volksabstimmung verblieb Ödenburg bei Ungarn und Eisenstadt wurde zur Hauptstadt des Burgenlandes). Spätere Kanzleiordnungen wurden gedruckt.

Bereits aus dem Bisherigen wird deutlich, in welchen Zusammenhängen wir das neue Format sehen können. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in Europa neue Staaten, die Nachkriegszeit bedeutete – jedenfalls in Österreich – wirtschaftlich schwierige Jahre. Sparsamkeit in der Verwaltung war angesagt. In den Kanzleiordnungen finden sich Aufforderungen zu sparsamem Papierverbrauch. Papier im bisher gängigen Format sollte aufgebraucht werden, bevor das DIN-Format zum Einsatz kam. Bedeutsam ist auch die Verwendung der Schreibmaschine. Es gab bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche diesbezügliche Erfindungen. Mit der Umstellung der früheren herrschaftlichen Kanzlei zum Büro, dem Wechsel vom handgeschöpften und gefalteten Papierbogen zum maschinell hergestellten Einzelblatt, vom Beruf des Schreibers zur Stenotypistin an der Schreibmaschine gingen bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen vor sich.

Waren in den Jahrhunderten vor der DIN – Formatvereinheitlichung bestimmte Papierformate bestimmten Adressat*innen und bestimmten Inhalten vorbehalten, war mit der DIN A-Reihe und besonders mit DIN A4 ein Format entstanden, das im Sinne der Demokratisierung allen Menschen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen zur Verfügung stand.

Was ist nun das Besondere an DIN A4 und welche Akteur*innen stehen hinter seiner Verbreitung?

Das Ausgangsproblem war die Vielfalt von Maß- und Gewichtseinheiten, z.B. Flächen-, Längen- oder Hohlmaßen, Geldeinheiten und eben auch Papierformaten in den unterschiedlichen Regionen und Ländern zu unterschiedlichen Zeiten. Vor der Proklamation des Deutschen Reiches 1871 gab es eine Vielzahl von Königreichen und Herzogtümern mit jeweils eigenen Maßen, die ineinander umgerechnet werden mussten. Mit der Pariser Meterkonvention 1875 setzte sich in Deutschland und international zumindest das dezimalmetrische System weitgehend durch.

Bestrebungen zur Formatvereinheitlichung lassen sich bereits im Mittelalter in Bologna und in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution nachweisen. Der Göttinger Universalgelehrte Georg Christoph Lichtenberg publizierte im „Göttinger Taschenkalender“ von 1796 einen Artikel „Über Bücherformate“. Darin drückte er sein Missfallen über die damals gängigen Formate Patentform, Folio, Quart, Octav, Sedez aus, vor allem über das Seitenverhältnis der Formate „lang, unangenehm“, einige Formate seien für Listen und Rechnungsbücher noch zu gebrauchen, andere verlören sich in Schuster- und Schneidemaßen und Unterlagen für die Pastetenbäcker. Die Wahl eines Formates gab demnach Aufschluss über seinen Inhalt und seine Bedeutung. Was ihn so störte, waren die Ergebnisse eines gefalteten Blattes: Sie sahen dem ursprünglichen Format nicht oder nur in jeder zweiten Faltung ähnlich. Ein gefaltetes Quadrat z.B. ergibt zwei Rechtecke, die nach dem Falten wieder Quadrate ergeben. Lichtenberg stellt in seinem Artikel die (rhetorische) Frage nach einem Papier in einer Form, sodass alle Formate einander ähnlich würden und ob dieses Format „bequem und schön“ sei. Er meinte damit ein Blatt, dessen Seitenverhältnis nach jeder Hälftung oder Verdoppelung unverändert bleibt, eine Aufgabe, die „jeder Anfänger in der Algebra“ lösen könne. In der Tat erfüllt ein Blatt mit einem Seitenverhältnis von 1: √2 die Anforderung, nach jeder Hälftung ähnlich auszusehen und das gleiche Seitenverhältnis aufzuweisen. Und prompt ergibt sich ein „sehr gefälliges und bequemes Format“, wie Lichtenberg schreibt.

Wovon Lichtenberg nicht sprach: 1787 hatte die Göttingerin Dorothea Schlözer, Tochter von August Ludwig von Schlözer, der in der Soziologie als bedeutender Gründer der Statistik gilt, als zweite Frau in Deutschland promoviert. Zu den Prüfungsaufgaben zählte auch die oben geschilderte Frage, welche sie erfolgreich beantwortet hatte.

In der Diskussion der Aufklärungszeit tritt die Bedeutung der Ästhetik des Formates besonders hervor und die Bindung eines Formates an bestimmte Inhalte oder Verwendungszwecke.

Etwa hundert Jahre später, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, stand der gesellschaftliche Diskurs unter der Vorsilbe „Welt“. Sämtliche Erdteile waren entdeckt. Die Großmächte errichteten Kolonien, und Schifffahrtslinien und Eisenbahnen erschlossen die Welt. Dies machte die Errichtung von Zeitzonen und Fahrplänen notwendig und begünstigte generell die Vereinheitlichung von Maßen und Einheiten. Es tauchten aber auch Forderungen nach einer Sprache auf, mittels derer sich die Menschen überall verständigen können sollten, z.B. Esperanto, nach Weltgeld als einheitlicher Währung, und Weltausstellungen holten die Welt in amerikanische, australische und europäische Großstädte.

Erfüllt von dem Gedanken des ökonomischen Einsatzes von Energie durch Vereinfachung und Vereinheitlichung war der deutsche Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald. Er investierte das Preisgeld gemeinsam mit zwei Mitstreitern in ein Unternehmen, das sich vorrangig der Erstellung von „Weltformaten“, wie er es nannte, widmete. „Vom Straßenplakat bis zur Briefmarke“ sollten die Formate geordnet werden und zwar entsprechend dem bereits von Lichtenberg publizierten Hälftungs- und Verhältnissatz. Ordnung im Sinne von Ressourcenschonung war handlungsleitendes Kriterium. Als dritte Komponente führte Ostwald den sog. Formatanschlusssatz ein. Für das kleinste Rechteck, von dem aus sich durch Verdoppelung ähnliche Rechtecke ergeben sollten, schlug er eine Seitenlänge von 1: 1,4 cm vor. Mit diesem von ihm so genannten Weltformat erwartete er eine umwälzende Vereinfachung von der Herstellung des Papiers durch Papiermaschinen über die Herstellung von Büchern, Buchregalen bis zu Räumen, die durch Druckwerke in einheitlichen Formaten sinnvoll ausgenützt würden. Wie vor ihm Lichtenberg war auch Ostwald von der ästhetischen Wirkung des „bequemen und hübschen Taschenformates“ überzeugt.

Obwohl Wilhelm Ostwald mit seinem Weltformat die wesentlichen Kriterien der DIN-Formate erfüllte, blieb ihm die große Anerkennung versagt. Sein junger Sekretär und Assistent Walter Porstmann transkribierte die Diktate Ostwalds nicht nur, sondern eignete sich als Physiker und Mathematiker deren Inhalt an und nutzte sie für seine eigenen Projekte.

1917, während des Ersten Weltkriegs, veröffentlichte Porstmann sein erstes Werk „Normenlehre“, Damit fiel er dem Geschäftsführer des DIN (Deutsches Institut für Normung) auf, der ihn als Mitarbeiter in den Normenausschuss der Deutschen Industrie holte und mit der Entwicklung eines normfähigen Formatsystems beauftragte. So verbindet sich die Veröffentlichung der DIN 476 über die Papierformate mit dem Namen Walter Porstmann. Er hatte Ostwalds Formatanschlusssatz insofern abgeändert, als er ein Ausgangsmaß von 1 m2 für das Format A0 festlegte, also ein Flächenmaß statt des von Ostwald vorgeschlagenen Längenmaßes.

Ostwald hatte sich in Kreisen der Universität unbeliebt gemacht, emeritierte früh und war als Privatgelehrter mit zahlreichen Projekten erfolgreich. Seine Tochter schreibt über ihren Vater, er habe über Papiersorten in dem von ihm entwickelten Weltformat hinaus „Sofakissen, ja sogar Tischdecken und Handtücher“ geschenkt bekommen. Walter Porstmann wurde 1923 Geschäftsführer der Fabriknorm GmbH, die die neu entwickelten Normen, vor allem im Bürobereich durch die Produktion von normgerechten Geräten, Möbeln und Vordrucken umsetzte.

Was Porstmann mit dem „Normformat und seinem Gefolge“ und der „Filosofie der Schreibfläche“ ausdrückte, bezeichnet die Medienwissenschaftlerin Gloria Meynen als „geschlossenes System mit Vererbungsfunktion“. Damit ist gemeint – und das will ich in meiner Arbeit zeigen –, dass das Format DIN A4 innerhalb der Formatreihe A auch die Formatreihen B und C nach sich zieht. Über das Einzelblatt hinaus entwickeln sich aus dem Format und über die Materialität des Papiers hinaus Büromaterialien und Büromöbel. Die Wirkmächtigkeit von DIN A4 reicht jedoch weit darüber hinaus in ganz unterschiedliche Bereiche des Alltags und der Alltagsroutinen.

Dass die A4-Tauglichkeit meiner Handtasche ein Kaufkriterium ist, habe ich bereits erzählt. In dem Kapitel ‚„… kann man getrost nach Hause tragen.“‘ zeichne ich in großen Zügen die Entwicklung der Handtasche für Frauen/für Männer, für Transport/Einkauf/Business/Studium nach. „Weltformatkissen und Memobottle. Quengelware für Erwachsene“ präsentiert Fundstücke, die sich in ganz unterschiedlichen Materialien auf das Format beziehen. „Hylemorphismus oder: kurz, präzise, prägnant“ untersucht das Verhältnis von Form und Inhalt. Einen Text auf einer DIN A4-Seite, einen Antrag, ein Konzept, eine Zusammenfassung auf einer DIN A4-Seite abzuliefern, – solchen Aufforderungen kommen wir routiniert und ohne viel Überlegens nach. Und wer ein Bahnticket oder das Ticket für eine Veranstaltung nicht auf dem Mobiltelefon speichert, sondern ausdruckt, wird darüber informiert, dass dies auf einem DIN A4-Blatt erfolgen müsse.

„Klare Sicht, blickdichte Hülle“ beginnt mit Überlegungen zur Klarsichthülle als einem Produkt aus dem Umfeld von Büro und Verwaltung und legt wieder das Netzwerk offen, mit dem die DIN A-Reihe das Büro formiert und formatiert und „zur Norm aller Papierdinge“ (Gloria Meynen) wird, von DIN A0 (841 x 1189 cm) für Landkarten und technische Zeichnungen über DIN A1 (Flipcharts, Schreibtischunterlagen), DIN A2 (Plakate, Aushänge, Zeitungen), DIN A3 (Plakate, Zeichenblock), DIN A4 (Brief- und Druckerpapier, Schulhefte, Schreibblöcke), DIN A5 (Schreibblöcke, Karteikarten, Flyer, Bücher), DIN A6 (Postkarten, Karteikarten) bis zu DIN A7 und kleiner (Notizblöcke, Karteikarten). Die Formate der B-Reihe sind die größten unter den DIN-Gruppen, größer als die C-Formate, die wir als Kuverts kennen.

Das Kapitel „Kleine Geste. Blättern, falten, falzen“ führt von Praktiken des Faltens über „Wissen am Rande“ zu der Frage, wie oft sich ein DIN A4 Blatt mit der Hand über die Mitte falten lässt (7 mal) und zu einem Papierfliegerset aus dem Shop des Technischen Museums. „Ein rechteckiges Papier ist das untere Ende der Technologie um das Fliegen“.

Wie ich bei meiner Arbeit vorgegangen bin?

Billy Ehn und Orvar Löfgren schildern in der Reflexion ihres „Doing Ethnography of ‚Non-Events‘“ die Phase des „Stumbling Along“. Anfänglich bin auch ich herumgestolpert zwischen Ideen, Fundstücken, Personen, Routinen, Situationen und Ebenen. Bruno Latour spricht in diesem Zusammenhang vom „Nachzeichnen von Assoziationen“, von Verknüpfungen und macht den Vorschlag, „gleichzeitig den Akteur und das Netzwerk zu betrachten“. Jens Wietschorke sieht dies als Plädoyer, „den Untersuchungsgegenstand Kultur bzw. Gesellschaft nicht in verschiedene Ebenen oder Tiefenschichten aufzufalten, sondern möglichst konsequent eine situative und prekäre Konstitution durch Praktiken nachzuzeichnen.“ Tim Ingold vergleicht Clifford Geertz‘ Begriff der „dichten Beschreibung“ mit Ölgemälden niederländischer Meister des 17. und 18. Jahrhunderts, nach der eine Ethnographie dieses Stils eine „vollständige Darstellung“ ergäbe. „Wenn jedoch das Ziel darin besteht, Menschen zu folgen, während sie sich in einem Leben, das nicht durch das Ganze vorstrukturiert ist, sondern ständig neue Muster erzeugt, umherbewegen (…), dann sollte man einen Bleistift verwenden.“ In diesem Sinne bin ich Latours Aufforderung zum Nachzeichnen mit einem Bleistift gefolgt.

Was war eine überraschende Erkenntnis? Was hast du dabei gelernt?

Dass wir in diesem Jahr „100 Jahre DIN A4“ feiern können, verleiht der Arbeit eine gewisse Aktualität. Was mich jedoch zur Beschäftigung mit DIN A4 bewegt hat, war die Beobachtung, wie sehr das Format über das Medium Blatt hinaus unseren Alltag bestimmt. Die „Vorgeschichte“ von DIN A4 war für mich neu. Überraschend war, wie die Leitideen der Ästhetik, der Ordnung, des Energiesparens, des Umweltbewusstseins und des Verhältnisses von Form und Inhalt sich durch die Jahrhunderte ziehen. Dass der Erste Weltkrieg als Katalysator für die Verbreitung der Papiernorm eine große Rolle gespielt hat, ist aus meinen ersten Untersuchungen nicht so deutlich hervorgetreten. Mit der Rolle der Normen und Standards ab den 1920er Jahren hatte ich mich auch noch nie beschäfigt. „Austrian Standards“, wie das österreichische Normungsinstitut aktuell heißt, hat 2020 sein 100jähriges Jubiläum mit einer Ausstellung gefeiert, das Deutsche Institut für Normung DIN ist 1917 gegründet worden. Der damalige Diskurs bewegte sich jedoch nicht nur im Bereich der Technik. Papiernormen hatten nicht nur Auswirkungen auf Maschinen und die maschinelle Erzeugung von Papier. Norm, Ordnung und Standards waren auch wichtige Begriffe im Architektur- und Designdiskurs der 1920er und -30er Jahre. Dem Papier als Einzelblatt und der „Ordnung der Dinge“ galten Überlegungen im größeren Kontext von ethnographischen Sammlungen und Museen. Sollte Wilhelm Ostwalds Einschätzung von 1927, dass „das mit Schrift- und anderen Zeichen versehene Papierblatt die technische Grundform aller Kultur“ sei, doch nicht so übertrieben sein, wie es auf den ersten Blick erscheint?

Was machst du jetzt? Was sind deine Pläne für die Zukunft?

In einer aktuellen Lehrveranstaltung für Bachelor-Studierende am Institut für Europäische Ethnologie beschäftige ich mich weiterhin mit dem Thema „Normen, Routinen und Alltag“ am Beispiel von DIN A4 und freue mich über neue Gedanken und Erkenntnisse.

Mein nächstes großes Projekt ist eine Dissertation zum Thema „Seniorenstudium“. Wie wird Alter(n) definiert und gelebt? Wie positionieren sich Universitäten, Institute und Kommiliton:innen gegenüber Seniorstudierenden? Und was ist das Schöne am Studieren im Alter? Das sind nur einige der Fragen, die mich in den nächsten Jahren beschäftigen werden …