Das Kochbuch und der Kasten (m)einer Urgroßmutter. Vom Weitergeben und Weitererzählen (m)einer Familie

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Beitrag und Fotos von Stephanie Pfeiffer

Ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter: „Haben wir eigentlich Erbstücke in der Familie?“ „Nein.“ Die Mutter hebt kurz den Kopf. Schaut in die Ferne und überlegt. „Nein eigentlich nicht.“ Ich bin irritiert. Irgendetwas muss es doch geben. Ich blicke ins Nichts, an meiner Mutter vorbei und sehe einen alten braunen Holzkasten: groß mit links und rechts zwei schmalen Türen und einer Glasvitrine im Mittelteil. Ich schaue meine Mutter an. „Was ist mit dem Kasten hinter dir?“ Meine Mutter dreht sich um, obwohl sie genau weiß, welcher Kasten hinter ihr steht. „Der Kasten ist doch von deiner Oma“, frage ich nach. Meine Mutter dreht sich wieder zu mir, mit einem Lächeln im Gesicht. „Stimmt, der ist von meiner Oma.“ Und meiner Mutter fällt ein, dass der Kasten nicht das einzige Erbstück ist. Sie erzählt mir von einem handgeschriebenen Kochbuch, auch von ihrer Oma.

Das ist nicht das erste Mal, dass sie mir von dem Kochbuch erzählt. Mir fällt auf, dass sie das in letzter Zeit wieder öfter getan hat. Vielleicht weil bald wieder Weihnachten ist. Erstmals erzählt hat mir meine Mutter von dem Kochbuch letztes Jahr zu Weihnachten, weil ich mich an Rumkugeln versucht habe und ihr deswegen die Rumkugeln ihrer Oma eingefallen sind, die sie immer „besonders gut“ fand. Das Kochbuch hat eine Generation übersprungen. Meine Mutter hat es entdeckt, als sie die Wohnung ihrer Oma übernommen hat und verband es sofort mit dem Gasthaus ihrer Oma. Wo sie es gefunden hat, wie genau das damals war, weiß sie nicht mehr – auch nicht, ob sie mit anderen Familienmitgliedern darüber gesprochen hat. Das dies nicht der Fall war, bestätigt sich in den Gesprächen mit meiner Tante und meiner Oma. Beiden ist das Kochbuch unbekannt, sie wussten nicht, dass es existiert, woher es kommt, wann es entstand. Es ist ein Kochbuch mit unbekannter Geschichte. So vermutet meine Oma, dass meine Urgroßmutter es bereits „in jungen Jahren“ als sie als „Küchenhilfe“ in einem „Stadtrestaurant“ angefangen hat, begonnen haben könnte. Jedoch kennt meine Oma, genauso wie meine Tante, das Buch nicht. Auch meine Mutter hat keine Erinnerungen daran. Keine weiß, woher es die Urgroßmutter hat, wann sie es geschrieben hat, ob alles von ihr geschrieben ist oder ob sie es nur weitergeführt hat.

Das Kochbuch hat einen schwarzen festen Einband und zirka 250 Seiten. Es ist außen deutlich abgegriffen, an den Ecken und in den Falten des Buchrückens löst sich der Karton bereits. Mittig in der oberen Hälfte des Buchdeckels befindet sich ein vergilbter, an einigen Stellen schon eingerissener, ovaler Aufkleber auf dem handschriftlich die Autorin sowie der Titel „Kochbuch“ geschrieben steht. Der Umstand, dass es sich hierbei um den Mädchennamen meiner Urgroßmutter handelt sowie einen Kosenamen, den meine Oma nicht kennt, deutet ebenfalls daraufhin, dass meine Urgroßmutter das Buch bereits „in jungen Jahren“ – wie es meine Oma vermutet – bekommen, begonnen, weitergeführt hat. 

Schlägt man das Buch auf, wird seitlich ein handgeschriebenes Register des Kochbuches sichtbar, welches die Rezepte in klassischer Abfolge einteilt: Suppen, Saucen, Gemüse, Vorspeisen, Braten, Beilagen, Mehlspeisen, Backwerk, Obst und Krankenküche. Die einzelnen Rezepte sind innerhalb dieser Gruppen laufend durchnummeriert. Blättert man durch das Buch fallen einem zwei Dinge auf: Erstens verändert sich die Schrift, anfangs ist es in Kurrent geschrieben, später in lateinischer Schreibschrift. Zweitens finden sich immer wieder eingeklebte oder eingelegte Zeitungs- oder Zeitschriftenausschnitte von Rezepten, Zubereitungstipps oder Lebensmittel- und Ernährungshinweise. Das Kochbuch hat deutliche Gebrauchsspuren: Flecken auf dem Umschlag und auf den Seiten, die Seiten sind vergilbt, abgegriffen, eingerissen und teilweise schon lose. All das deutet daraufhin, dass es von meiner Urgroßmutter häufig und intensiv geführt und genutzt wurde.

Meine Mutter hat es nie als Kochbuch verwendet, auch wenn sie sich das immer vorgenommen hat. Sie seufzt tief und erzählt mir: „Ich hab immer vorgehabt“, sie hält kurz inne, „immer schon seit es in meinem Besitz ist, es mir zur Hand zu nehmen und dann und wann mal ein Rezept nach zu kochen, aber irgendwie ist man so im Strudeln das ganze Leben, dass ich es bis jetzt nie gemacht hab“. Für sie ist es ein „Erinnerungsstück aus der Oma ihrem Leben nämlich auch aus ihrem Berufsleben, aus ihrem Gasthaus“. Meine Mutter kennt das Gasthaus ihrer Oma nicht mehr, das Lokal wurde vor ihrer Geburt verpachtet. Aber sie erzählt mir, dass sie aus Erzählungen anderer Leute gehört habe, dass es „ein sehr gutes, beliebtes Gasthaus gewesen sein muss“. Auch meine Oma erzählt mir, dass es „ein gut besuchtes Restaurant“ war, vor allem Richter und Anwälte vom nahegelegenen Landesgericht kamen regelmäßig zum Essen. Meine Mutter ist „stolz“, das Kochbuch als „Erinnerungsstück“ an ihre Oma zu haben, mit dem Kochbuch verbindet sie die Erinnerung an ihre Oma als erfolgreiche Gastwirtin und an ihre Oma, die „besonders gern und viel und gut gekocht hat“.

Bei meiner Tante ist es anders. Sie wusste nichts von dem Kochbuch, bis ich ihr in unserem Gespräch davon erzählt habe. Die Erinnerung, dass ihre Oma Gastwirtin war, ist bei ihr weniger präsent und die Rumkugeln, von denen meine Mutter schwärmt, kennt meine Tante gar nicht. Sie erzählt mir, dass sie zwar wusste, dass ihre Oma „Köchin war im Wirtshaus, aber mir ihr Essen nie geschmeckt hat. Ich kann mich an die gatschigen Topfenknödl von ihr erinnern, ansonsten an nichts“. Meine Tante meint es nicht böse, sie beginnt zu lachen.

Wie bei meiner Mutter dient das Kochbuch auch in den Gesprächen mit Oma und Tante als Brücke, als Auslöser, um über Urgroßmutters Essen und Berufsleben zu sprechen, jedoch anders als bei meiner Mutter. Bei ihr löst das Kochbuch ganz bestimmte Erinnerungen an ihre Oma aus. Sie ist „stolz“ das Buch zu besitzen – stolz auf ihre Oma. Mir stellt sich die Frage, inwiefern das gefundene Kochbuch die Erinnerungen meiner Mutter an ihre Oma geprägt hat. Ist in den Erinnerungen meiner Mutter Urgroßmutter als Gastwirtin, Urgroßmutters Berufsleben präsenter als in jenen ihrer Schwester, weil sie dieses Kochbuch von ihr gefunden hat oder weil ihr Urgroßmutters Essen einfach besser geschmeckt hat? Oder sind ihre ähnlichen Biografien der Grund, dass das Kochbuch jene Erinnerungen hervorruft. So beschreibt die Ethnologin Lisa Eidenhammer, dass geerbte Objekte etwas „symbolisieren, das in handlungsbezogenem und charakteristischem Zusammenhang mit ihrem/ihrer Vorbesitzer_in“ stehe. Das Kochbuch könnte symbolhaft für die Vorbildfunktion, welche ihre Oma für meine Mutter hatte, stehen. Denn wie ihre Oma hat auch meine Mutter in jungen Jahren einen Beruf gelernt, welchen sie immer selbstständig, in ihrem eigenen Frisörsalon, ausüben wollte und es heute auch tut.

Das Erzählen über den Kasten meiner Urgroßmutter ist konkreter und vielfältiger, womöglich wegen seiner raumgreifenden Größe und der Wege durch die Wohnungen einzelner Familienmitglieder. Anders als das Kochbuch, das einige Jahre nicht sichtbar, vergessen, unbekannt war, war der Kasten immer sichtbar platziert – so wie auch aktuell: zentral in unserem Wohnzimmer. Bei besagtem Kasten handelt es sich um einen Massivholz-Schrank, zirka zwei Mal zwei Meter groß und einen halben Meter tief. Der Kasten hat im oberen Drittel zwischen zwei quadratischen Fächern mit Glastüren, ein offenes Fach. In der Mitte darunter hat der Kasten eine doppelte Glastüre mittig sowie links und rechts Holztüren.

Meine Oma erzählt mir, dass der Kasten ursprünglich vom Vater meiner Urgroßmutter stammt. Er soll Teil einer Schlafzimmereinrichtung gewesen sein, zusammen mit zwei Messingbetten, die in den 1960er Jahren verkauft worden seien. Trotzdem bezeichnet ihn meine Oma als „Wohnzimmerschrank“. Ich habe von Beginn an immer die Bezeichnung Kasten verwendet und ihn keinem bestimmten Raum zugeordnet. Auch meine Mutter und meine Tante sprechen, wenn nicht vom „Kasten“ dann vom „Wohnzimmerschrank“. Das könnte daran liegen, dass ihre frühesten und auch dominantesten Erinnerungen an den Kasten aus der Zeit sind als er bei ihrer Oma „in der Mitte des Wohnzimmers“ – wie es meine Tante beschreibt – stand. Die erste Erinnerung meiner Mutter ist, dass sie ihr „Papa immer auf den Kasten gesetzt hat“ und, dass sie es „geliebt“ hat und es „immer total super“ für sie war „da oben auf dem Kasten“ zu sitzen. „Da müsste ich ein Bild haben“, sagt sie und noch während sie mir die Geschichte erzählt, blättert sie in einem Fotoalbum und sucht das Bild. Man spürt noch heute, wenn sie die Geschichte erzählt, welche Freude sie damals daran hatte – noch bevor sie mir das Bild zeigt, habe ich das freudig lächelnde Mädchen vor Augen, welches die Beine vom Kasten baumeln lässt und dabei vor sich hin kichert. 

Auch meine Tante erzählt mir diese Geschichte, unsicher ob sie sich wirklich daran erinnern kann oder ob sie die Szene auf einem Foto gesehen hat. Meine Tante verbindet den Kasten „total stark“ mit ihrer Oma und erzählt mir, „dort war immer alles drinnen, was uns Kinder interessiert hat, der Eierlikör, die Keksdose, die Manner Schnitten – da waren oft Zitronen Manner Schnitten drinnen und die Sparbüchse für uns Kinder. Ich schlage meiner Tante die Bezeichnung „Schatzkiste“ vor, welche sie auch gleich aufnimmt: „Schatzkammer, das triffts wirklich total gut“. Beide – meine Mutter und meine Tante – erzählen mir, dass ihre Oma immer besonders gute Süßigkeiten hatte, die es zuhause nicht gab und, dass sie sich immer sehr gefreut haben, wenn sie etwas bekommen haben, sich aber manchmal auch „einfach was geholt“ haben „von dort“, formuliert es meine Mutter und lacht. Ich kann mir die zwei gut vorstellen: die eine immer die Türe im Blick, um nach Oma Ausschau zu halten, die andere den Sessel als Leiter nutzend, um an die guten Süßigkeiten im oberen Fach des Kastens zu kommen. 

Ansonsten, beschreiben meine Mutter und meine Tante, hätte ihre Großmutter neben den für sie als Kinder so wichtigen Dingen, vor allem Bücher im Kasten hinter Glas sichtbar aufbewahrt. Mit zunehmendem Alter ihrerseits und dem Auszug ihrer Großmutter aus dem Wohnhaus, rückte der Kasten und seine Bedeutung in den Hintergrund. Beide rätseln im Gespräch mit mir darüber, wo denn dieser Kasten stand, bei wem, in welcher Wohnung, in welchem Raum.

Erst als meine Urgroßmutter auszog und meine Mutter in die Wohnung ihrer Oma einzog, taucht der Kasten in den Erinnerungen meiner Mutter und meiner Tante wieder auf. Es kam der Moment, als der Kasten an seinem aktuellen Ort im Weg war – und er weg musste. Doch wegwerfen war keine Option für die Schwestern, trotzdem wollte den Kasten keine der beiden so richtig haben, aber weggeben wollten sie ihn auch nicht. Meine Mutter erzählt mir, dass „halt momentan kein Platz da war für den Kasten, weil man halt natürlich die Wohnung“ – meine Mutter sucht nach den richtigen Worten – „anders einrichten musste- also praktikabler einrichten musste“. So nahm ihn meine Oma zu sich und der Kasten wanderte vom dritten Stock in den vierten Stock. Jedoch empfand ihn meine Oma immer „als Kleiderschrank unpraktisch“ und nutzte ihn als „Aufbewahrungsschrank“ – wie es meine Mutter nennt. Meine Tante empfand den Kasten damals als „missbräuchlich verwendet“ und glaubt, dass meine Oma den Kasten wegen ihres schlechten Verhältnisses zur Schwiegermutter nicht sehr geschätzt habe, auch wenn dieser für sie zum Familienbesitz gehörte.

Ich kann mich erinnern, dass er bei Oma in der Wohnung stand, aber bewusst wahrgenommen habe ich ihn nicht, es war nur ein Kasten, für mich nichts Besonderes. Dass der Kasten von meiner Urgroßmutter ist, hat mir niemand erzählt. Die Wohnung meiner Oma war klein, eine Einzimmerwohnung mit Küche und Bad. Der Raum, in dem der Kasten stand, war „sehr finster, sehr dunkel, sehr klein, sehr eng“, wie ihn meine Tante beschreibt. Trotzdem habe ich, während der Erzählungen meiner Mutter und meiner Tante, das Gefühl, ich – als Enkelin – müsse meine Oma verteidigen. Aber ich lasse es. Der Gedanke, wo meine Oma den Kasten auch sonst hätte hinstellen sollen, lässt mich jedoch nicht los. Es war eine sehr kleine Wohnung und ein großer Kasten.

Der Ethnologe Hans Peter Hahn erklärt, dass „Objektbedeutung […] immer ein Teil der Beziehung zu einem anderen Menschen“ sei. So war der Kasten für meine Oma nicht nur unpraktisch, sondern womöglich durch ihr schlechtes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter sogar ein ungeliebter Gegenstand. Am ehesten war es für sie ein Erbstück, das sie für die Familie trotz allem in ihrer kleinen Wohnung aufbewahrte.

Als meine Oma ins Altersheim umzog und wir ihre Wohnung ausräumten, tauchte wieder die Frage auf: wohin mit dem Kasten. Diesmal jedoch nicht, weil er im Weg war, sondern weil er jetzt, wie es meine Tante treffend formuliert, „ein Erbstück, das alle gleich haben wollen [lacht]“ war. Erst zu diesem Zeitpunkt habe ich erfahren, dass der Kasten im Badezimmer meiner Oma ursprünglich meiner Urgroßmutter gehörte. In den Erinnerungen meiner Mutter hat meine Tante nachgegeben: „Und meine Schwester hat dann auch gesagt ja, sie hätte ihn nämlich auch haben wollen, […], das ist das Vorrecht des Erstgeborenen [lacht]“. Auf meine Nachfrage hin, was sie glaubt, warum ihre Schwester den Kasten haben wollte, antwortet meine Mutter: „ Ich denke auch aus den gleichen Gründen, wie ich, einfach“ – meine Mutter hält kurz inne, sie überlegt – „um es als Erbstück zu haben“. In den Erinnerungen meiner Tante hat meine Oma bestimmt, dass meine Mutter den Kasten bekommt. Meine Mutter erzählt mir, dass sie Oma bereits vor Jahren nach dem Kasten gefragt hat: „Ich hätte ihn schon früher einmal gerne im Vorzimmer verwendet, aber da ist mir die Mama nicht eingestiegen auf das Ausräumen [lacht] und Umsiedeln [lacht]“. Meine Tante erzählt mir, dass sie „wirklich oft, an diesen Kasten denke, weil das für [sie] so irrsinnig stark verbunden ist, mit den Aufenthalten bei meiner Oma“. Und auch wenn sie anfangs traurig war, dass sie den Kasten nicht bekommen hatte, ist sie trotzdem froh, dass er wieder „einen gebührenden Platz bekommen“ hat. Auch in den Augen meiner Mutter ist der Kasten nun wieder an einem passenden Ort: „Also seit der Kasten bei uns im Wohnzimmer steht, beherrscht er eigentlich würde ich sagen das Wohnzimmer und dient als, also es ist der Blickfang im Zimmer“.

Schon im ersten Gespräch mit meiner Mutter fiel mir auf, dass sie – und auch ich – weder den Kasten noch das Kochbuch anfangs als Erbstücke wahrgenommen haben, obwohl beides Gegenstände meiner Urgroßmutter und so seit mehreren Generationen in Besitz der Familie sind. Was ihnen fehlt ist das Bezeichnen als Erbstück: Beide Dinge wurden nicht von einem Erblasser an einen Erbnehmer weitergegeben, es gab kein Testament, keine Absprachen oder Zueignungen. Die Dinge blieben zurück, wurden gefunden, wurden beim Räumen ausgesucht, in der Familie verhandelt 

Eidenhammer macht das in ihrer Untersuchung „Ein Stück Erbe“, in der sie sich mit der Bedeutung von Erbstücken beschäftigte, zum Thema. Ihre Gesprächspartner sahen die „Erbstücke […] nur selten bewusst als solche“, weil sie einerseits nicht „direkt“ weitergegeben beziehungsweise keine „Erbversprechungen“ gemacht wurden, andererseits in ihnen kein materieller Wert gesehen wurde. Eher hätten sie von „Erinnerungsstücken“ gesprochen. Bei Erinnerungsstücken tritt die individuelle Bedeutung in den Fokus. Hahn erklärt: Ein Erinnerungsstück ist ein „einzigartige[r] Gegenstand, der mit subjektiv empfundener Bedeutung aufgeladen ist. […] [N]icht selten [sind es] auch Dinge, die innerhalb von Familien […] geteilt werden. Ihre Bedeutung besteht in solchen Kontexten darin, Erinnerungen an gemeinsame, zeitlich zurückliegende Erlebnisse zu vergegenwärtigen.“ Erbe hingegen sei „stark auf Weitergabe und Kontinuität, auf Dauer und Dauerhaftes fokussiert“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Ulrike Langbein.

Meine Mutter nutzt die Bezeichnung „Erinnerungsstück“ als sie vom Kochbuch erzählt, nicht jedoch beim Kasten. Den Kasten hingegen bezeichnet sie dann als Erbstück, als sie im Gespräch überlegt, warum auch ihre Schwester ihn haben wollte. Die anderen Familienmitglieder sprechen weder beim Kasten noch beim Kochbuch von einem „Erbstück“. Erst meine Frage, ob dies Erbstücke seien, beantworteten alle mit ja. Ihre Begründungen unterscheiden sich nur gering: Für meine Mutter ist das Kochbuch, neben der vorhin schon erwähnten „Erinnerung an die Oma“, ein Erbstück, weil sie „einfach stolz drauf“ ist, es von ihrer Oma zu haben. Für meine Tante ist es ein Erbstück, „weil es einfach meiner Oma gehört hat […], weil sie das Kochbuch entweder geschrieben, bekommen hat oder selbst geschrieben hat oder zumindest fortgeführt hat […]“. Meine Oma betont ihre Rolle als Schwiegertochter und sieht das Kochbuch zwar als Erbstück „für Kinder und Enkel“ ihres Ex-Ehemanns, nicht jedoch für sich selbst. Ich vermute das Kochbuch verbindet meine Oma stärker mit ihrer Schwiegermutter, weil es direkt von ihr stammt und sie dürften vor allem in der Küche, also beim Kochen, oft in Streit geraten sein. Den Kasten hingegen bezeichnet sie als „wertvolles Erbstück“ und nimmt Bezug darauf, dass er „so wie er jetzt in Gebrauch ist, ist er zu seinem ursprünglichen Gebrauch Wohnzimmerschrank für Geschirr etc. zurückgekehrt“. Meine Mutter sieht den Kasten als Erbstück, weil es „halt ein Stück ist, das halt irgendwie ja immer schon im Besitz der Familie war in meinen Erinnerungen“.

Die Frage ist, ob die Art, wie diese Dinge in der Familie ihren Besitzer gewechselt haben – das Kochbuch gefunden, der Kasten mehrfach umgezogen und dann als Erbe beansprucht –, einen Einfluss auf das Familiengedächtnis bezüglich dieser beiden Gegenständen haben könnte. Der Soziologe Harald Welzer nennt als einen der wichtigsten Aspekte von Familiengedächtnis, dass es „in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden besteht, die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen“. Diese „Vergegenwärtigung der Vergangenheit“ findet „beiläufig und absichtslos“ statt, erklärt Welzer weiter. In unserer Familie wird über Vergangenes nicht beziehungsweise sehr selten gesprochen. Sehr deutlich zeigt sich dies beim Kochbuch, von dem meine Oma und meine Tante in unserem Gespräch das erste Mal hören. Weder meine Urgroßmutter noch meine Mutter hatten mit ihnen darüber gesprochen. Nur mir hat meine Mutter davon erzählt. Der Unterschied zwischen mir und den anderen Familienmitgliedern ist, dass ich nachfrage – sowohl in der Rolle der Forscherin als auch in der Rolle des Familienmitgliedes. So sind auch jene Erzählungen, welche ich hier schildere, nicht wie üblich beiläufig geschehen, sondern durch bewusstes Nachfragen meinerseits entstanden. 

Wie sich in den geschilderten Gesprächen zeigt, hat mein Nachfragen nicht nur dazu geführt, dass unterschiedliche Erinnerungen verhandelt – und vielleicht auch in diesen Situationen erst – verfertigt wurden, sondern dass die verhandelten Gegenstände und deren Geschichte dadurch einen anderen Status erhielten. Die Historikerin Anke Ortlepp beschreibt Alltagsgegenstände als Gegenstände, denen sich Menschen „im Verlauf ihres täglichen Lebens bedienen, die sie zur Bewältigung ihres Alltages benutzen sowie zur Verrichtung stetig wiederkehrender Arbeits- und Handlungsabläufe heranziehen“. Die Gebrauchsspuren des Kochbuchs deuten darauf hin, dass es für meine Urgroßmutter durchaus ein Alltagsgegenstand gewesen sein muss, heute ist es nur mehr begrenzt ein solcher. Eidenhammer erklärt, dass sich durch die „Weitergabe“, der „Umgang mit den Dingen“ häufig verändert. So stand das Kochbuch, bevor ich es genutzt habe, im Bücherregal. Das Kochbuch meiner Urgroßmutter bewahrte meine Mutter, wie sie sagt, an einem „Sonderplatz“ auf: Es befand sich mittig des Bücherregals auf Augenhöhe in einem kleinerem Fach, in dem abgesehen von dem Kochbuch nichts anderes stand. Es wurde dadurch aus dem Zusammenhang der anderen Dinge herausgehoben – wie in einer Ausstellung. Zu Weihnachten war das Kochbuch für mich eine Möglichkeit, den Wunsch meiner Mutter zu erfüllen, die aus ihrer Erinnerung „immer sehr guten Rumkugeln“ von Urgroßmutter wieder einmal schmecken zu können. Eidenhammer beschreibt, dass die „‘Magie‘ der Erbstücke“, also ihre Symbolhaftigkeit, Erbstücke „klar von Alltagsgegenständen“ unterscheide. Doch so eindeutig ist das in meiner Familie nicht: So symbolisiert der Kasten vor allem für meine Tante die „Schatzkiste“, die ihre Oma für sie bewahrte und dient meiner Mutter als Erinnerung an ihre Oma sowie an einen schönen Moment mit ihrem Vater. Gleichzeitig ist der Kasten für meine Mutter trotzdem noch ein Alltagsgegenstand, in dem sie Geschirr aufbewahrt, welches täglich benutzt wird.

Stephanie Pfeiffer studierte 2016 Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Historische Kommunikationsforschung. Nach dem Abschluss des Bachelorstudiums begann sie 2020 den Master Zeitgeschichte und Medien ebenfalls an der Universität Wien. Aktuell beschäftigt sie sich mit den Themenfeldern Praktiken des Archivs, Geschichtsvermittlung und Geschichtsjournalismus.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Nachweise

Eidenhammer, Lisa: Ein Stück Erbe. Zur Bedeutung von Erbstücken. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): Erbe_n. Macht – Emotion – Gedächtnis. Weitra 2018, 30-48.

Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin, 2. Aufl. 2014.

Langbein, Ulrike: Behalten und Bewahren, Verprassen und Vergessen. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): Erbe_n. Macht – Emotion – Gedächtnis. Weitra 2018, 17-27.

Ortlepp, Anke: Alltagsdinge. In: Samida, Stefanie, Eggert, Manfred K. H.,Hahn, Hans Peter (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart, Weimar 2015, 161-165.

Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005.