Text & Bild: Veronika Penz
© aller Bilder: Veronika Penz
Der Gang zum Ausstellungsraum ist nur spärlich beleuchtet. Rechts ist ein verdrecktes Waschbecken, auf dem Wasserhahn liegt ein Buch der britischen Nobelpreisträgerin Doris Lessing, eine Malerbürste. Daneben lehnt eine alte, ausgehängte Tür. Ein Stück weiter: Ein großer, lichtdurchfluteter Raum, an den Wänden verschiedenste Werke, die von Spotlampen in Szene gesetzt werden, an der Decke weiße Stoffbahnen. Wird im Gang nebenan kein Hehl aus der Zwischennutzung gemacht, bemüht man sich hier um einen Museumscharakter. […] Schön hergerichtete Ecken wechseln sich mit totaler Bekenntnis zum Provisorium ab. (Feldnotiz und Fotodokumentation vom 14.07.2024)
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Der Gebäudekomplex am Areal des ehemaligen Gersthofer Schlosses in Währing, dem 18. Wiener Gemeindebezirk, hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Von 1908 bis 1910 als Niederösterreichisches Zentralkinderheim errichtet und später von der Stadt Wien übernommen, wurden 1943 zwei der fünf Pavillons zur Ignaz-Semmelweis–Frauenklinik umgebaut,denn Wiens Krankenhäuser waren aufgrund des Krieges an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen. Rasch nahm sie eine Vorreiter-Rolle ein und stieg zu einer der wichtigsten und beliebtesten Geburtskliniken Wiens auf. 2019 zog die Frauenklinik wegen der Neuordnung der Wiener Spitalslandschaft in die neu gebaute Klinik Floridsdorf um. Das Areal wurde daraufhin eigentumsrechtlich zerschlagen, nachdem das Kinderheim bereits 2000 geschlossen und etwas später verkauft worden war. Während heute in anderen Pavillons Wohnungen und eine Privatschule untergebracht sind, ist Haus 4, das ehemalige Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude der Klinik, aktuell Arbeits- und Veranstaltungsstätte für über 90 Künstler*innen. Für meine räumlich-materiell fokussierte Feldforschung im Seminar Ethnografische Verfahren im Sommersemester 2024 tauchte ich drei Monate lang in das Universum dieses Zwischennutzungsprojekts ein.
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Der speziell hierfür gegründete Kunst- und Kulturverein Semmelweisklinik erfüllt seit 2022 ein dringendes Bedürfnis der freien Szene Wiens. Denn leistbare Ateliers sind ein rares Gut in dieser Stadt – und so wird aus der teils maroden Bausubstanz mit geringen finanziellen Mitteln, aber viel Initiative und Improvisationskraft herausgeholt, was herauszuholen ist.[1] Das Projekt ist dabei kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines seit den späten 1960er Jahren zu beobachtenden Phänomens.[2] Von Vertreter*innen öffentlicher Institutionen einst als „Wildwuchs“ bezeichnet, dem möglichst etwas entgegen zu setzen war, gelten Zwischennutzungen heute als „wertvollste Ressource der Stadt.“[3]
Aufgrund des temporären und kostengünstigen Charakters wird damit auch innovativen Projekten ein Raum geboten, die „(heute noch) außerhalb der Verwertungslogik liegen, nicht profitorientiert sind.“[4] Mitunter fördern die Projekte auch das soziale Miteinander im Stadtteil, da sie häufig die öffentliche Bevölkerung zur Partizipation einladen.[5] Leere ist in diesem Kontext ein Raum der Möglichkeiten, ein Raum zum Experimentieren und Kollaborieren; die Energie flüchtig, intensiv, alles in Schwebe. Von außen ein ehrwürdiger Otto-Wagner-Bau mit klarer Formsprache, besticht innen jeder Raum durch eine ganz eigene Atmosphäre. Sich durch die Semmelweisklinik zu bewegen gleicht einem Abenteuer; einmal um die Ecke gebogen ist es ungewiss, was einen dort erwartet.
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Rechts: Ein WC im Westtrakt; um zu spülen, muss an der Schnur mit der Sandschaufel gezogen werden.
Der Verein hat sich das „Haus“, wie sie das rund 3.800m2 große Gebäude liebevoll nennen, zu eigen gemacht. Sticker des Vereinslogos oder Slogans, die sich für Außenstehende nicht erschließen, zieren Türen, Heizkörper und Schilder aus den Zeiten als Verwaltungsgebäude, dazu gibt es Gemeinschaftsküchen, Pflanzen, Teppiche. „Es ist eine WG potenziert auf hundert, so ungefähr“, erzählt mir ein Künstler bei einem gemeinsamen Rundgang Anfang Juli 2024 lachend. Dass sie hier heimisch geworden sind, zeigt sich subtil auch darin, dass sie sich mitunter selbst als „Semmeln“ bezeichnen.[6] Gleichzeitig bemühen sie sich sehr um den Austausch mit der Bevölkerung: Die Klinik darf auch abseits von den zahlreichen Veranstaltungen besucht werden. Diversität, Inklusion, Niederschwelligkeit und Nachhaltigkeit liegen dem Verein sehr am Herzen.
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Ich brauchte eine ganze Weile, um mich im Feld einzufinden, all die widersprüchlichen Empfindungen und Informationen einzuordnen. Es verwirrte mich, wie frei man sich als fremde Person durch das Gebäude bewegen darf, wie freundlich die Künstler*innen einem begegnen – kommuniziert die Raumaneignung doch eher eine private Sphäre, Unzugänglichkeit. Ich bin zwischen Irritation und Faszination hin- und hergerissen, auf jeden Fall in den Bann gezogen.
Leichter und klarer wurde es für mich, als ich mich von dichotomischen Begriffen wie „öffentlich“ und „privat“ trennte – mit diesen stößt man hier nämlich rasch an Grenzen. Die Zwischennutzung in der Semmelweisklinik ist vielmehr ein Zwischenraum, in der „natürliche“ Ordnungen und Grenzen der Gesellschaft aufgezeigt und infrage gestellt werden. Was andernorts institutionell bedingt unmöglich erscheint, wird hier, in dieser räumlichen wie zeitlichen Unbestimmtheit, ausprobiert, kann gelebte Praxis sein.
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Anstatt die Werke bei einer Ausstellung hinter Glas und Absperrseilen sicher zu verwahren, werden sie hier, ganz nonchalant, wie Inventar im Raum platziert; bei installativen Arbeiten wird auch explizit zum Anfassen und Ausprobieren eingeladen. Die Prinzipien Niederschwelligkeit und Partizipation setzen sich dabei auch auf anderen Ebenen fort: So setzt der Verein auf kollektive Care-Arbeit, jede Person gibt, was ihr zeitlich und materiell gerade möglich ist, und darf nehmen, ohne dass eine sofortige Gegenleistung erwartet wird. Der auch für die Nachbarschaft frei zugängliche „Soli-Kühlschrank“ auf der Terrasse, in dem nicht mehr verwendete Lebensmittel und Gerichte verschenkt werden, kann als Symbol für diesen Ansatz gewertet werden.
Obwohl das Projekt mit der primären Intention gestartet wurde, das für künstlerisches Schaffen grundlegende Bedürfnis nach finanzierbarem Raum zu stillen und damit kulturpolitische Versäumnisse zumindest ein Stück weit auszugleichen, leistet es heute sehr viel mehr als das. Auf kleinem Raum wird erprobt, wie Kunst abseits des White Cubes noch erfahren und Gemeinschaft im Sinne der Commons gelebt werden kann. In dieser flüchtigen Energie zeigt sich, dass es auch anders geht.
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Mit dem voraussichtlichen Start der Generalsanierung Ende 2025 und dem darauf folgenden Umbau zu einem Schulzentrum ist das Ablaufdatum des Zwischennutzungsprojekts nah. Dennoch: Es wird nachhallen, weiterwirken; dazu beitragen, dass die Künstler*innen, Besucher*innen und hoffentlich auch Entscheidungsträger*innen der Kulturpolitik die Dinge auch anderswo anders denken und machen. Meine Wahrnehmung von Museen hat sich jedenfalls schon jetzt nachhaltig verändert.
Wer jetzt Lust bekommen hat, den Ort selbst zu besuchen: Über aktuelle Veranstaltungen informiert der Kunst- und Kulturverein z.B. über die Website oder Instagram.
Veronika Penz ist Fotografin und Filmemacherin. Sie besuchte die Lehrveranstaltung Ethnografische Verfahren im Rahmen eines außerordentlichen Studiums an der Universität Wien und studiert nun im Bachelor Europäische Ethnologie.
[1] Walk-Along Interview, 04.07.2024, 22; Oswalt, Philipp / Overmeyer, Klaus / Misselwitz, Philipp: Urban catalyst. Mit Zwischennutzungen Stadt verstehen. Berlin 2013, 81f.
[2] Frey, Oliver: Perspektive Leerstand. Erster Teil einer dreiteiligen Studie zum Themengebiet Leerstandsnutzung, Zwischennutzungen und Freiräume. Wien 2010, 11.
[3] Vgl. Oswalt, Philipp / Overmeyer, Klaus / Misselwitz, Philipp: Urban catalyst. Mit Zwischennutzungen Stadt verstehen. Berlin 2013, 7.
[4] Frey, Oliver: Perspektive Leerstand. Erster Teil einer dreiteiligen Studie zum Themengebiet Leerstandsnutzung, Zwischennutzungen und Freiräume. Wien 2010, 21.
[5] Vgl. Oswalt, Philipp / Overmeyer, Klaus / Misselwitz, Philipp: Urban catalyst. Mit Zwischennutzungen Stadt verstehen. Berlin 2013, 12.
[6] Kunst- und Kulturverein Semmelweisklinik, Instagram, 30.10.2023.