Beitrag von Maj Karlotta Neumann und Fotos von Cornelia Dlabaja
Es ist ein Donnerstagmittag, Ende März, einer der ersten warmen Tage des Jahres und die Sonne scheint durch die Fenster des Seminarraums mit Blick auf Albertina und Burggarten im Zentrum von Wien. Die großen, alten Flügelfenster sind geöffnet, eine leichte Brise weht durch den Raum. Während Brigitta Schmidt-Lauber, Cornelia Dlabaja und Manuel Liebig die letzten Vorbereitungen für den Workshop treffen, sitze ich auf einem Stuhl in der hinteren Ecke und beobachte. Ich bin eingeladen den Workshop des Netzwerks kulturwissenschaftliche Stadtforschung in einem Blogbeitrag für das Institut für Europäische Ethnologie der Uni Wien festzuhalten. Das Netzwerktreffen findet einmal jährlich statt und wurde 2012 von Brigitta Schmidt-Lauber gegründet. Dieses Jahr wird es von Cornelia Dlabaja und ihr organisiert und der Schwerpunkt Nachbarschaft für die Vorträge und den Austausch gesetzt. Ich arbeite zurzeit an meiner Masterarbeit, die sich mit den Bedeutungen von Nachbarschaft beschäftigt und bin nun in der Doppelrolle als Forscherin und Berichtende dabei. Die Stimmung ist locker und fröhlich, es werden Brötchen arrangiert und nach und nach trudeln die Teilnehmer*innen ein. Alle bedienen sich an den kunstvoll belegten Brötchen und freuen sich einander wiederzusehen. Ich gewinne den Eindruck einer angenehmen, gemütlichen, freundschaftlichen (und eingeschworenen) Gemeinschaft, die dieses wiederkehrende Format scheinbar mit sich bringt. Ich nehme dieses Jahr zum ersten Mal Teil, kann aber schon jetzt sagen, dass es nicht das letzte Mal sein wird.
Nachdem sich alle vor Ort Anwesenden begrüßt und kulinarisch gestärkt haben, wird der Workshop, auch online, eröffnet. Die ersten 1 ½ Stunden sind für eine Begrüßungsrunde geplant, in der alle Teilnehmenden sich und ihren Bezug zum Thema Nachbarschaft vorstellen. Die hybride Veranstaltung eröffnen die online Zugeschalteten, wodurch deutlich wird, dass sich das Netzwerk der kulturwissenschaftlich Stadtforschenden von Südfrankreich, über München, Klagenfurt, Berlin, Wien und Kopenhagen bis nach Brasilien erstreckt. Alle haben sich in ihren aktuellen oder vergangenen Forschungen mal mehr mal weniger intensiv mit Nachbarschaft auseinandergesetzt. Es wird sich noch zeigen, dass sich das daraus gewonnene Wissen überschneidet. Im Laufe der zwei Tage sind Inputs von Johanna Rolshoven, Jens Wietschorke, Christoph Reinprecht, Katharina Kirsch-Soriano, Patrick Bieler, Manuel Liebig und Olga Reznikova im Rahmen der Veranstaltungen im Institut geplant. Am Freitag ist ein Besuch der Garage Grande in Ottakring angesetzt, wo weitere Akteur*innen aus dem Feld der Nachbarschaftsforschung und -aktivierung zu Wort kommen sollen.[1] Schon während der Vorstellungsrunde wird aufeinander und die jeweiligen Forschungen Bezug genommen und im Anschluss liest Jens Wietschorke aus einem Fundstück von 1906 vor. Einem Reisebericht Alfred Hammer-Frieds „Wien-Berlin“, der einen Vergleich der beiden Städte beschreibt. Der Ausschnitt, den Jens Wietschorke vorliest, erläutert die Unterschiede der Wohnhäuser in Wien und Berlin. Er macht den Konnex zwischen den räumlichen und sozialen Aspekten von Nachbarschaft deutlich und zeigt auf, dass bestimmte räumliche Gegebenheiten (Flure, Bassenas, Küchenfenster auf den Gang) sozialen Austausch begünstigen können.
Im Anschluss an die Vorstellungsrunde findet die Vorstellung der Monografie „Stadtforschung als Gesellschaftsforschung: Eine Einführung in die Kulturanalyse der Stadt“ von Johanna Rolshoven mit anschließender Diskussion von Jens Wietschorke Text „Ist Nachbarschaft planbar? Zur Geschichte eines Schlüsselkonzepts in Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie“ statt. Die Zusammenführung dieser Perspektiven, einerseits aus einem Lehrbuch und andererseits aus einem Tagungsband funktioniert gut. Zum einen da sich ähnliche historische Dimensionierungen darin wiederfinden, so beispielsweise die Settlement-Bewegung, die im beginnenden 20. Jahrhundert durch die Mischung heterogener Bewohner*innen die Nachbarschaft als „Keimzelle klassenübergreifender Solidarität“ planten. Zum anderen, weil in beiden Texten die Nachbarschaft als solidarische Hilfe in Notsituationen beschrieben wird. Außerdem werden in beiden Texten die unterschiedlichen sozialen, räumlichen, materiellen und gedanklichen Ebenen von Nachbarschaft deutlich. Für beide Autor*innen bietet die Forschung zum Thema Nachbarschaft einen Blick auf die Gesellschaft, den es innerhalb der Arbeit stark zu machen gilt. Dabei können gerade Konflikte als Zugang zum Thema gelten, die im Leben in funktionaler, räumlicher Nähe leicht entstehen. Die Diskussion führt zu der Frage, in welchem Maße Nähe und Distanz eine Rolle spielen bzw. wie sie ineinandergreifen; sind Nachbar*innen schließlich einerseits räumlich eng beisammen, während sie andererseits sozial häufig distanziert seien. Außerdem werden viele weitere Gegensatzpaare hervorgehoben, die im Zusammenhang mit Nachbarschaft eine Rolle spielen. So beispielsweise: homogen/ heterogen, connections/ disconnections, Angst/ Sicherheit, Überwachung/ Freiheit, Gemeinschaft/ Anonymität, Dörflichkeit/ Städtischkeit. Bereits hier kommt die Idee auf, ob es einer Moderation und/oder Kuration dieser Praktiken räumlicher Näheverhältnisse brauche, die in den darauffolgenden Diskussionen weiter argumentiert wird.
Am Abend ist das Institutskolloquium in den Workshop eingegliedert, welches als öffentliche Veranstaltung weitere Interessierte, außerhalb der Teilnehmenden des Workshops, zur Diskussion einlädt. Auf dem Podium, moderiert von Brigitta Schmidt-Lauber sprechen Christoph Reinprecht (Stadtsoziologie), Katharina Kirsch-Soriano (Stadtplanung/ Stadtteilarbeit) und Jens Wietschorke (Empirische Kulturwissenschaft/ Stadtforschung) aus ihren Perspektiven und Erfahrungen über die unterschiedlichen Zugänge zu Nachbarschaft(en). Reinprecht bringt hier das Bild der Wände des eigenen Wohnraums als Membran, die verletzlich und durchlässig ist. Seiner Erfahrung nach spielen Grenzen, seien es räumliche oder auch persönliche, eine zentrale Rolle in der Definition von Nachbarschaft. So werden die Wände der Wohnung zur Erweiterung der eigenen Körpergrenze. Sie bieten Sicht-, nicht aber Hörschutz und grenzten zwar räumlich den privaten vom öffentlichen Raum ab, nicht aber sozial. Auf einer politischen Ebene diskutiert Reinprecht, dass im 2. Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt innerhalb eines Hauses zwar Menschen unterschiedlicher Schichten systemisch integriert scheinen, tatsächlich aber keinerlei soziale Integration stattfinde. So belegt er, dass heterogene Nachbarschaften keinesfalls als politische Maßnahme für Integration genutzt werden können. Er schließt daraus, dass es einer rechtlichen Grundlage bedarf, die die Vergesellschaftung unterschiedlicher Gruppen erst ermögliche. Wohnpolitik und Mietrecht erlauben, dass Personen bleiben und Widerstand gegen beispielsweise Gentrifizierung leisten können. Wietschorke erläutert in seinem Input zur Diskussion gebräuchliche Bilder, die mit Nachbarschaft in Verbindung gebracht werde. So zum Beispiel der romantisierende Blick auf Dörflichkeit als Ideal gemeinschaftlichen Lebens in der (Groß-)Stadt: sich kennen, einander grüßen und helfen, solidarisch miteinander umgehen. Aber auch im Gegensatz dazu die soziale Kontrolle und Überwachung und daraus entstehende Konflikte. Nachbarschaft bietet laut Wietschorke als Kleinraum eine Überschaubarkeit, die in der kulturwissenschaftlichen Forschung eine zentrale Größe sei, aus der heraus zusätzliche Bezüge zur gesellschaftlichen Lage hergestellt werden können. Kirsch-Soriano, die sich selbst als aus der Praxis kommend beschreibt, stellt wiederum die Frage, ob Nachbarschaft ein Ort oder eine soziale Beziehung sei. Häufig seien es gerade vulnerable Gruppen, die auf eine funktionierende Nachbarschaft mit gegenseitiger Förderung und Unterstützung angewiesen seien. Sie benennt Nachbarschaft daher als Möglichkeitsraum (für Begegnungen). Dabei sei es zentral solche Räume auch physisch zu planen: Gemeinschaftsräume, Gänge, Freiflächen. Auch Krisch-Soriano beschreibt den Zusammenhang von aktiver Nachbarschaft(shilfe) und Notlagen.[2] Diese Räume seien auch potentielle Orte der Solidarität, die allerdings nicht von selbst entstehen, sondern aktiv gefördert werden müssen. Daher plädiert sie für die Aushandlung, Kuration und Begleitung von Nachbarschaften durch Gemeinwesenarbeit (von außen). Es gäbe nicht die Nachbarschaft, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Nachbarschaften.
Die abschließende Diskussion des Kolloquiums und damit auch des Workshoptags stellt einmal mehr Nachbarschaft als relationales Beziehungskonzept und vulnerable soziale Kategorie der Grenzziehung heraus. Aus einer analytischen Perspektive auf Nachbarschaft braucht es die Verknüpfung von sozialen Beziehungen und räumlichen Orten, in der es um lebensweltliche und gesellschaftliche Aspekte geht. Bei nachbarschaftlichen Aktivierungs- und Begleitprozessen bleibt die Frage offen, wer sich beteiligt, wer Mitspracherechte hat und wer von diesen Möglichkeiten weiß? Auch: Braucht es den Traum einer gelungenen Nachbarschaft oder das Versprechen auf solidarische Nachbarschaft?
Am Freitagvormittag sind drei Inputs aus unterschiedlichen aktuellen Forschungen geplant. Patrick Bieler stellt seine Forschung unter dem Titel „Nachbarschaft in Begegnung und Bewegung: Konzeptionen einer relationalen Anthropologie von urbaner psychischer Gesundheit“ vor. Seine Annahme ist, dass Begegnungen für städtisches Leben und psychische Gesundheit fruchtbar sind. Dabei seien Begegnungen ein „flüchtig ablaufender, situierter Prozess des Zusammentreffens und Verwebens menschlicher Körper und mehr-als-menschlicher Elemente“[3] der mithilfe des Begriffs „rubbing shoulders“ gefasst werden kann. Nachbarschaft sei Kontext und Effekt menschlichen Wirkens und dabei sowohl physisch als auch sozial konstruiert. Auch Bieler stellt fest, dass es den Blick auf Konflikthaftes braucht, um Nachbarschaften greifbar zu machen. Innerhalb seiner Forschung sei dies vor allem der Lärm, der auch die Durchlässigkeit zwischen öffentlichem und privatem Raum deutlich mache.
Manuel Liebig arbeitet aktuell zum Thema „Mikroperspektivische Forschung in und zu Nachbarschaften: Kategorien des Feldes – Kategorien der Analyse“ und stellt in diesem Zusammenhang den Begriff des gesellschaftlichen Klimas in den Fokus. So interessiert ihn die Akzeptabilität rechter Positionen, abseits von politischen Akteur*innen (Personen der Öffentlichkeit). Er setzt daher den Fokus auf Alltagskonflikte und den Umgang mit Ambivalenzen nachbarschaftlicher Verhältnisse. In einem studying sideways (Ulf Hannerz) betrachtet er das „Stadtleben als konfliktuelle Konstellation“ (Johanna Rolshoven). Auch in seiner Forschung taucht das Bild des Dörflichen als Wunsch nach nachbarschaftlichen Beziehungen auf und es wird abermals die Empfindlichkeit/Verletzlichkeit der Grenzen zwischen Nachbar*innen deutlich. Nachbarschaft ist situativ und nur als solche greifbar. Die Diskrepanz zwischen Heterogenität und Homogenität, dem Wunsch nach Austausch und Rückzug usw. all jene Befunde müssen im ethnografischen Schreiben im Sinne eines ineinander Greifens geschildert werden.
Olga Reznikova Input zur „Methodische[n] Reflexion einer empirischen Forschung zu Nachbarschaften-Initiativen in Moskau und New York“ steht unter den aktuellen politischen Ereignissen in Russland und der Ukraine. Sie hat sich daher dazu entschlossen ihr gesammeltes Material anders als geplant in Hinblick auf die Politisierung der Nachbarschaften und Ideologien hin zu untersuchen. Für sie steht die Widersprüchlichkeit und Widerständigkeit des Subjektes im Fokus, aus ihrem Material im Vergleich zwischen Moskau und New York wird deutlich, dass gesellschaftliche Konstellationen nicht universal sind, sondern ortsgebunden. Sie arbeitet die Zusammenhänge von lokalen Protesten und Nachbarschaften heraus und zeigt auf, dass in Moskau ein feindliches Bild des*der Nachbar*in vorherrscht. Auch hier wird wieder die konfliktiöse Beziehung zur Nachbarschaft sowie die Grenzziehungen deutlich.
Den Abschluss des zweitägigen Workshops bildet die Planung des nächsten Netzwerktreffens kulturwissenschaftlicher Stadtforschung. Dabei wird gemeinsam entschieden, dass es auch im folgenden Jahr einen Schwerpunkt geben soll; welcher es wird, entscheidet sich zu einem anderen Zeitpunkt. Vorschläge sind: Umgang mit Krisensituationen und dem Einfluss auf die eigene Forschung, postkoloniale Perspektiven auf Stadt, Übersetzen von Forschung in unterschiedliche Formate (Handlungsanweisungen?) oder das Leben und Arbeiten einer*s Stadtforschenden in der Stadt. Wir beenden den Workshop vor Ort, wie wir ihn begonnen haben, mit gutem, gemeinsamem Essen, anregenden Gesprächen und dem Blick auf den sonnenbeschienenen Burggarten.
Die Autorin, Maj Karlotta Neumann, hat ihren Bachelor in Kultur der Metropole an der HafenCity Universität in Hamburg absolviert. Seit 2017 studiert sie im Master Gender Studies und Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Stadtforschung, Feminismus und Körperpolitiken. Wenn sie nicht gerade wissenschaftlich arbeitet, malt sie Latte Art auf Kaffees oder tanzt und schreit auf Demos.
Zum Programm des Workshops geht’s hier.
[1] Tatsächlich muss die Abschlussveranstaltung spontan verschoben werden, weshalb für Interessierte bald die Möglichkeit besteht diesem Teil des Workshops beizuwohnen.
[2] Wie auch bei Jens Wietschorke, Bernd Hamm, Max Weber
[3] Zitat aus dem Vortrag von Patrick Bieler, 25.03.2022