Was wir diesen Frühling lesen

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Bild von Florencia Viadana auf Unsplash

Studierende und Mitarbeiter*innen des Instituts für Europäische Ethnologie empfehlen Bücher und Texte für die freien Frühlingstage in den Osterferien.

Nicole

Sabine Hark, Paula-Irene Villa-Braslavsky (2017): Unterscheiden und Herrschen: Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Transcript Verlag. Bielefeld.

Ein superspannendes Buch (ausborgbar bei der Bildungswissenschaftsbib und ich glaub Publizistikbib) über die Verflechtungen zwischen Rassismus, Sexismus und Feminismus am Beispiel der medial verbreiteten und heiß diskutierten „Kölner Silvesternacht“ 2015/16. Kurz und knackig: Wofür steht der Begriff „Köln“ in Deutschland? Wie hat sich die Bedeutung des Begriffes durch die Silvesternacht und dem darauffolgenden Diskurs verändert? Es geht um Islamophobie, (Frauen-)Körper, Ethnosexismus, Body Politics, Medien/Bilder. Dabei geben sich die Autorinnen sehr viel Mühe ihre eigenen Perspektiven ins Tausendfache zu hinterfragen und man kommt den vielen „Aha-Momenten“ nicht aus. (zumindest für mich 😉 ALERT: Hineinsteigern und brummen während des Lesens vorprogrammiert!)

Viktoria Weber

May Ayim: blues in schwarz weiss. nachtgesang. gedichte. UNRAST-Verlag Münster 2021.

Die Lyrikerin May Ayim gilt als wichtige Stimme Schwarzer in Deutschland. In ihren Gedichten verarbeitet sie immer wieder individuelle, aber auch kollektive Erfahrungen. Vor allem die Wiedervereinigung und die hierauf folgenden Pogrome der 90er Jahre in Deutschland nimmt sie als traumatisch wahr.

„Die weißen, christlich-deutsch-kollektiven Schuldkomplexe hatten sich scheinbar über Nacht in Luft aufgelöst und dabei die Gegenwart von der Vergangenheit gerissen. Wer waren die KäuferInnen, wer die ProduzentInnen der feilgebotenen Freiheit, und für wen und wie viele war Platz in der gepriesenen neuen Heimat? Wer umarmte sich da in deutsch-deutscher Vereinigung, und wer wurde umarmt, vereinnahmt, verstoßen? Wer zum ersten Mal, wer schon wieder, wer noch immer?“ (In: May Ayim. Grenzenlos und unverschämt.)

Ihre Gedichte sind schwer, gehen nahe und stimmen nachdenklich über die Kontinuität rassistisch motivierter Übergriffe bis heute.

Konstantina Hornek

„Kalt ist der Abendhauch“ (Ingrid Noll, Ersterscheinung 1996)

Unterhaltsame, ironische und außergewöhnliche Erzählung vom Leben der dreiundachtzigjährigen Charlotte mit ihrer treuen Lebensbegleitung, der Schaufensterpuppe Hulda. Entlang einer Liebes- und manche mögen meinen, Kriminalgeschichte – werden Familienmitglieder und Freude porträtiert und Intrigen und Geheimnisse aufgedeckt, besonders zentral ist dabei die Wiederbegegnung von Charlotte und ihrer großen Liebe Hugo. Der Roman lässt auf stereotypische großelterliche Zuschreibungen vergessen und arbeitet neben dem Alter(n) Themen wie Transsexualität, Männer- und Frauenrollen und auch einen versehentlichen Mord auf. Berührend und humorvoll-komisch zugleich, noch ein Bonus: wurde nach Vorlage des Romans auch verfilmt!

Eduard Rakaseder

Freudenschuss, Magdalena (2014). Digitalisierung. Eine feministische Baustelle – Einleitung. Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 23(2), 9-21.

Das Handy ist längst über ein bloßes Instrument zu einer Erweiterung des Körpers geworden. Digitale Inhalte reorganisieren die analoge Welt. Damit ist gemeint, dass Digitalisierung die Praktiken und Werte der materiellen Welt nicht neu strukturiert, sondern diese übernimmt. Dieser Text widmet sich der Frage, inwieweit der Feminismus das Verständnis von Digitalisierung und den Umgang damit verändert.

Rebecca Akimoto

Stefan Aust & Adrian Geiges (2021): Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt.

Die Biografie des chinesischen Präsidenten Xi Jinping bietet vor allem für ‚China-Neulinge‘ eine unterhaltsam geschriebene Einführung in das Thema. Baader-Meinhof-Komplex Autor Stefan Aust und Schriftsteller Adrian Geiges bieten, entlang des Werdegangs des chinesischen Staatsoberhauptes, Einblicke in die Geschichte und Politik des Landes. Von Corona, über die Uiguren in Xinjiang bis hin zur neuen Seidenstraße werden verschiedene Themen angeschnitten. Obwohl mehrere Expert*innen und Insider*innen zu Wort kommen, hätten die Autoren, meiner Meinung nach, dabei eine noch diversere Auswahl treffen können. Trotzdem kann man sich vor allem durch den sehr bekömmlichen Schreibstil mit dem Buch einen guten Überblick über die Vergangenheit und Gegenwart des Reichs der Mitte und dessen Position in der Welt verschaffen.

Joachim Meierhoff (2013): Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. (Alle Toten fliegen hoch, Band 2).

Eines der lustigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. In dem zweiten Band des Vierteilers „Alle Toten fliegen hoch“ erinnert sich der Ich-Erzähler an seine Kindheit in Norddeutschland. Hauptschauplatz ist sein Zuhause auf dem Gelände einer Kinder- und Jugendpsychatrie, die von seinem Vater geleitet wird. Eine Sammlung von herzlich geschilderten Anekdoten, die komisch und berührend zugleich sind.

Anna Weichselbraun

Ali Smith: Autumn, Winter, Spring, Summer (auf Deutsch bei Luchterhand Literaturverlag: Herbst, Winter, Frühling, Sommer)

Ich bin gerade dabei Sommer, das vierte Buch von Ali Smiths Jahreszeiten Quartett zu lesen, in dem sie sich mit dem generell zerrütteten Zustand der Gesellschaft, des Planeten und Politik auseinandersetzt. In den Büchern folgt man unterschiedlichen Charakteren die mal mehr mal weniger sympathisch mit den üblichen Schwierigkeiten des westlichen Menschseins in der pandemischen, spätkapitalistischen, hyper-polarisierten Welt zu kämpfen haben. Dabei mischt sie die Handlung der Charaktere mit kurzen Off-Texten in denen die verflochtenen Stimmen einer bis ans Rande der Sinnhaftigkeit getriebene Mediengesellschaft einen Grundton der moralischen Verzweiflung angeben. Eingebettet in die dunklen Themen zeigen die Charaktere uns ihre menschliche Verwundbarkeit die unter diesen Umständen zunehmend als Trost wirkt.

Martin Nepesty

Daniel L. Everett: Don’t Sleep, There Are Snakes: Life and Language in the Amazonian Jungle

Linguist Daniel Everett erzählt über seine Erfahrungen und Erkenntnisse, die er bei den Pirahã – einem kleinen Stamm der Amazonas-Indianer in Zentralbrasilien – gemacht hat. Ihre Lebensweise stellt viele selbstverständliche Annahmen über unsere westliche Werte in Frage. Die Pirahã haben kein Zählsystem und keine klaren Begriffe für Farben. Ebenso die Vorstellung von Krieg oder persönlichem Eigentum ist ihnen völlig fremd. Sie leben ganz in der Gegenwart, machen sich keine Gedanken über die Zukunft und gehen mit dem Tod anders um als wir. Das Buch hält daher unserer Gesellschaft einen Spiegel vor und hat auch mich zum Hinterfragen mancher augenscheinlich fester Bestandteile unserer Gesellschaft gebracht.