Tranchieren, Kategorisieren, Hierarchisieren

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Eine sensorische Untersuchung von Victoria Langmann

Abstract

Dieses Essay ist der Versuch, die Einteilung von Sinnen grundsätzlich in Frage zu stellen. Am Beispiel des Riechens werde ich zeigen, wie eine umfassende Raumwahrnehmung zustande kommt. Gleichzeitig möchte ich sensorische Ethnografie auf ihre Alltagstauglichkeit hin überprüfen. Am Anfang wird es um die Theorie von Balibar/Wallerstein gehen, die sie in ihrem Gespräch über „Race Nation Class“ nochmals Revue passieren lassen. Die Kategorien von Diaconu zur taktilen und kinästhetischen Erfahrung der Spaziergängerin werden anschließend weiteren Anlass zur Diskussion bieten. In einem Wahrnehmungsspaziergang habe ich meine Sinneseindrücke gesammelt und niedergeschrieben. Diese selbst erstellte Quelle soll zum Überpüfen der Theorien dienen. Der Spaziergang stellt gewissermaßen das Werkzeug dar, mit dem ich die Theorien auf ihre Brauchbarkeit hin untersuchen möchte. Das Forschungsinteresse gilt dabei der Frage, ob Sinneseindrücke getrennt voneinander betrachtet werden können und ob sich das als hilfreich darstellt. Ebenso möchte ich der Frage nachgehen, ob eine sensorische Ethnografie bei der Planung des neuen Stadtviertels „Nordwestbahnhof“ hilfreich gewesen wäre.

Einführung in das Thema

Ich wollte über Gerüche schreiben, weil sie mir durch die Lehrveranstaltungen der Ethnologie wieder aufgefallen sind. Ich dachte eigentlich, ich hätte keinen guten Geruchssinn mehr, seit ich vor einiger Zeit eine Nasen-Nebenhölen-Entzündung hatte – doch diese Annahme hat sich als falsch herausgestellt. Das bewusste Riechen hat bei mir zu einer neuen Wahrnehmung der Stadt geführt. Ich bin eine passionierte Hobby-Köchin und rieche generell an sehr vielen Dingen. Ich empfinde Riechen als einen sehr wichtigen Sinn. Ich rieche tatsächlich an den meinsten Lebensmitteln, bevor ich sie esse. Ich rieche beim Kochen, manchmal „errieche“ ich, ob die Tomatensoße schon fertig gekocht ist, oder ob ein Lebensmittel noch frisch genug ist. Ich rieche auch an meiner Wäsche, an Oberflächen, an mir selbst, an Menschen, die mir nahe stehen. Das erste Mal in der Stadt fiel mir der Geruch von Hundeurin auf. Der Geruch paarte sich aber unverzüglich mit den schwarzen Linien, welche er auf den Gehsteig zeichnete, und so verknüpfte ich die beiden Sinneseindrücke zu einer umfassenden Raum-Wahrnehmung. Diese stellte eine Art Kausalbeziehung dar, eine Art „Gedankengang“ – vielleicht sogar im wörtlichen Sinne. Ich folgerte also: überall, wo ich diese schwarzen Striche am Boden sehe, werde ich gleich den Hunde-Urin riechen. Was ist bei diesem Wahrnehmungs-Vorgang passiert? Ich würde es am ehesten mit den folgenden Worten beschreiben: tranchieren, kategorisieren, hierarchisieren. Dies sind notwendige Schritte um sich zu orientieren. Durch sie wird Planbarkeit und Verfolgung eines bestimmten Ziels, sowie Stringenz ermöglicht. Ähnlich, wie die Gesellschaft aufteilt und aufgeteilt wird, werden in einigen wissenschaftlichen Texten auch die Sinne aufgeteilt. Für mich ergibt sich hier eine Analogie. Ob es letzten Endes dienlich ist, sei dahingestellt – es ist auch eine wissenschaftliche Methode, das heißt, eine Methode, die die Wissenschaft ergründet und auf der sie letzten Endes auch fußt: Kategorisierung und Systematisierung von Erkenntnissen zu Wissen. Das damit einer Hierarchisierung nicht Einhalt geboten werden kann, liegt unter Umständen auch an der schieren Fülle an Informationen, Erkenntnissen und Gedanken. Diese ständig entsprechend zu ordnen dürfte schlicht nicht menschenmöglich sein.

Ein Wahrnehmungsspaziergang als Feldeinstieg – Empirischer Ausschnitt

Mein empirischer Ausschnitt sind die Gerüche meines Wahrnehmungsspaziergangs, den ich am 17. März 2020 gegen 17 Uhr 30 am Nordwest-Bahnhof unternommen habe.

Route des Wahrnehmungsspaziergangs

17.03.2020, 1 Tag, nachdem Österreich auf den Notbetrieb heruntergefahren wurde, Beobachtungen:

Ganz generell fällt in den letzten Tagen auf, dass es viel mehr Hundepisse auf den Gehsteigen gibt. Wie schwarzes Graffiti bemalt es von den Häuserecken abwärts die Gehsteige. Jemand niest und singt anschließend. Ein Vater mit Kind und Kinderwagen geht auf selber Höhe wie ich, allerdings auf der anderen Straßenseite. Eine Mutter mit Kinderwagen kommt mir entgegen. Ich versuche, mich primär auf Gerüche und Farben zu konzentrieren. Die Große Sperlgasse wird durch erstaunlich viele Gelb-Töne charakterisiert. Als erstes fällt mir der Geruch zum Pisse-Graffiti auf. Jemand putzt das Wohnungs-Fenster. Ich denke, dass dafür noch genügend Zeit sein wird in Zukunft. Bisher haben mich mehrere Fahrradfahrer passiert, die Häuserfassaden werden allmählich beige bis braun. „Vorsicht, Kotze!“ sagt mein Begleiter. Das erste Auto fährt vorbei, ansonsten ist es sehr ruhig und es gibt kaum Verkehr. Erst jetzt bin ich bei der Oberen Augartenstraße angelangt. Die blühenden Bäume fallen visuell wie olfaktorisch im Kontrast zur sonstigen Szenerie auf. An der Ecke zur Castellezgasse beobachte ich doch tatsächlich den ersten Polizist, der zwei Leute, die auf einer Bank mit einer Dose Bier sitzen, aufklärt. (Ich rieche das Bier jedoch nicht.) Es gebe derzeit nur drei Gründe, das Haus zu verlassen. Insgesamt habe ich 13 Fahrradfahrer aufgezeichnet, es müssen aber mehr gewesen sein. Die Castellezgasse ist gegen Ende hin in Beige, Blau und Grau gehalten, dazu noch etwas mehr Pisse. Etwa auf der Höhe Lili Grün Platz riecht es nach frisch geschnittenem Holz. Ich halte bei 7 Hunden bisher, die Gassi geführt werden. Eine Liste für die Kothaufen auf den Gehwegen führe ich nicht mehr weiter. Es riecht nach noch mehr Pisse, daneben ein Haus in Pistaziengrün. Auch Kinder sind unterwegs, auf kleinen Fahrrädern oder auf einem analogen Roller. Zwei Mädchen kommen mir mit Inlineskates entgegen. Auch die Liste der Jogger führe ich ab der Nordwestbahnstraße nicht mehr weiter, bis dorthin zähle ich über 10. Das Ende der Castellezgasse ist wieder in Beige, Gelb, Weiß und ein bisschen Altrosa gehalten. Ich sehe die erste Straßenbahn. Ich bin „Am Tabor“, vier seltsam vereinsamte Hochhäuser markieren diese Ecke. Die Abgase des Verkehrs riecht man an dieser Ecke wieder vermehrt. Es ist deutlich weniger Hundepisse auf der linken Seite der Nordwestbahnstraße zu verzeichnen. Die ersten Schilder fallen mir auf und es sind „Studios“, Laufhäuser, mit einer „Happy Hour“, angeblich von 20:00 bis 02:00 Uhr. Vor mir sieht man erstmals das Gelände des Nordwest-Bahnhofs. Graffiti tauchen auf und Gebäude, deren Nutzung man nicht ablesen kann. Mein Auge fällt auf die verschiedenen Wandbeläge. Mal ist ein hässlicher Putz, der schon ganz schmutzig ist, zu sehen, dann wieder Ziegelsteine, die unter dem abgeschlagenen Putz mancher alter Häuser zum Vorschein kommen. Die Gebäude haben sich nun stark verändert. Von alten Gründerzeit-Bauten, die gerade noch um den Augarten standen, erreicht man über die vier dislozierten Plattenbauten an der Ecke Taborstraße nun bauliches „Neuland“. Ich vermute, 60er, 70er, vielleicht sogar schon 2000er Bauten werden in die Lücken zwischen den alten Gebäuden gefüllt. Mein Begleiter erklärt mir, dass hier viele Parkplätze sind und bemerkt, wie abgetrennt dieser Teil des Viertels erscheint. Getrennt durch die Schienen, meint er, und sofort fotografiere ich ein paar Straßenbahn-Schienen, die wir überqueren, um zum Parkplatz einer Lebensmittelkette zu gelangen. Alles ist in Grau gehalten, bis auf ein paar Blassgelbe Türen und einen Knallorangen Container, der sich hinter einem Zaun, der den Hofer-Parkplatz vom ehemaligen Bahnhofsgelände trennt, befindet. Man sieht nur vereinzelt Licht hinter den Häuserfenstern. Wir verlassen den Parkplatz und gehen jetzt auf der rechten Seite der Nordwestbahnstraße weiter. Ein paar Meter vor uns geht ein Mann, ich kann sein Parfum riechen. Auf einmal ist ein Grünstreifen zu sehen, der präzise angelegt wurde und die Straße vom Gehsteig trennt. Große Werbeplakate tauchen im Straßenbild auf. Eine Weite tut sich auf. Ich klettere auf einen kleinen Betonpfeiler, der Teil der Absperrung des Geländes ist. Plötzlich hört man Jubel und Menschen, die klatschen. Ich schaue auf mein Handy, es ist 18 Uhr – entweder wurde aus Solidarität Musik gespielt oder für das Gesundheitspersonal geklatscht. (Ein Habitus, der sich kurzzeitig in den Städten ausbreitete.) Plötzlich fallen mir die Bäume auf, die wir seit einiger Zeit wieder passieren. Sie stehen auch in dem viel zu kleinen Grünstreifen und sind teilweise richtig groß. Man hört zum ersten Mal einen LKW. Wieder überqueren wir die Straße an der Ecke Wallensteinstraße und gehen auf der linken Seite der Nordwestbahnstraße weiter. Der Lärm nimmt zu. Zwischen all dem städtischen Ensemble fällt mir ein riesiger Löwenzahn zwischen Gehsteig und Plakatwand auf. Ich beginne, die Hydranten zu zählen. Meistens sehe ich sie im Stadtbild nicht. Es riecht nach einer E-Zigarette oder einer Zigarillo, jedenfalls passieren wir eine süßlich duftende Wolke, rings um uns ist aber niemand, der raucht. Mir fällt auf, dass zwei Männer, die jetzt hinter uns gehen, eine andere Sprache sprechen. Kurz vor der Ecke Nordwestbahnstraße/Pappenheimgasse fahren zwei Autos an uns vorbei, aus denen man dumpf den Bass der Musik hört. Wir halten an, mein Begleiter macht ein paar Fotos und mir fällt eine Art „selbstgemachtes Werbeplakat“ auf und der unangenehme Geruch von kaltem Rauch – und tatsächlich, da liegt ein Zigarettenstummel am Boden. Mein Handy möchte den automatischen Blitz aktivieren, als ich ein Foto machen möchte. Es ist jetzt 18 Uhr 17, die Straßenbeleuchtung ist auch an. Wieder kommt uns ein Schwall an Abgasen entgegen und ein Geräusch taucht auf, das sich an der Ecke Pappenheimgasse als Wiener Linien Bus zu erkennen gibt. Hier beende ich die detaillierten Aufzeichnung meines Wahrnehmungsspaziergangs. Wir sind noch einige Zeit unterwegs, bevor wir gegen 18 Uhr 40 zuhause eintreffen.

Theoretischer Bezug

Der Wahrnehmungsspaziergang eröffnet die Möglichkeit, sich über die Dimension des Forschungsfeldes ein Bild zu machen. Er dient außerdem dazu, sich der persönlichen Annahmen bewusst zu werden und diese gegebenenfalls zu korrigieren oder zu erweitern. Er kann zudem dabei helfen, „die unveränderlichen Strukturen der Lebenswelt“ (Rolshoven 2001, S. 12.) sichtbar zu machen. Dadurch kann eine Sensibilisierung für den Raum geschaffen werden, die sich bei der weiteren Vorgehensweise als nützlich herausstellt. Wie Diaconu treffend beschrieben hat, gibt es Hautkrankheiten im Stadtbild (Diaconu 2011, S. 2). Diese Überlegung hilft, die Eindrücke des Wahrnehmungs-spazierganges einzuordnen. Kann sensorische Ethnografie bei der Planung neuer Stadtteile behilflich sein? In ihrem Gespräch über das Buch „Race Nation Class – Ambiguous Identities“ geben die beiden Autoren, Etienne Balibar and Immanuel Wallerstein, ihre Definition von Kapitalismus wieder. Dieser verlange gewissermaßen eine Einteilung von Menschen oder Dingen in Kategorien und nehme anschließend eine Hierarchisierung vorweg. Wenn man diesem Gedanken folgt verwundert es nicht, dass die weniger sichtbaren Eindrücke, die auf unseren Gehörsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn und Tastsinn einwirken, auch weniger intensiv in der Forschung betrachtet wurden.

Zwischenschritt:

Der Flaneur ist eine literarische Figur, die von Walter Benjamin „theoretisiert“ wurde. Irgendwie verband sich die Figur des Flaneurs mit der Idee, sich die Welt zu „ergehen“. Sarah Pink sagt, dass man in anderen Disziplinen gerne „von oben“ auf eine Begebenheit schaut – eine Karte würde Dinge jedoch verflachen, und so sehe man nur einen abstrakten Ausschnitt aus einer Sache. Dem gegenüber stünde die (sensorische) Ethnografie, die versuche, anstatt „von oben“ besser „durch“ eine Sache zu blicken.

Sie verstünde es, das Leben als Prozess zu begreifen und an diesem teilzuhaben, anstatt die Sache durch das Kartografieren von Raum und Zeit zu trennen und so nur eine artifizielle Probe der Wirklichkeit darzustellen. Geht man jetzt weiter und denkt über den Flaneur und seine Blicke nach, (Stichwort: „male gaze“) und paart diesen Gedanken mit der Hierarchisierung der Sinne, nämlich dem Voranschreiten des visuellen Eindrucks als primärem Fokus des wissenschaftlichen Diskurses (Frage dazu: wer machte den Diskurs? Männer.), so verwundert es wenig, dass die „emotional konnotierten Sinne“ wie ich sie im Folgenden gern nennen möchte – Riechen, Fühlen, Schmecken – der Kategorie der „weiblichen Wahrnehmungen“ zugeschrieben werden konnten und so, quasi inhärent und systematisch, übersehen wurden. Jedoch hilft uns das Riechen (wie alle anderen Sinne ebenso) dabei, unsere Umwelt wahrzunehmen. Um sie auch wahrzunehmen als das, was sie ist: eine multi-sensorische dreidimensionale Welt, durch die wir uns ständig bewegen.

Fazit

Der Wahrnehmungsspaziergang am Nordwestbahnhof dürfte besonders durch den von der Regierung vorgeschriebenen Lockdown, infolge der Pandemie, selbige wiederum ausgelöst durch den Corona-Virus, beeinflusst worden sein. Der beginnende Frühling aber auch die Tatsache, dass schlicht mehr Menschen (und Haustiere) in der Stadt unterwegs waren, aber auch der verminderte Verkehr, haben meine olfaktorische Wahrnehmung der Gegend geprägt. Dennoch halte ich die Geruchswahrnehmung ohne das Verknüpfen von visuellen Eindrücken, sowie akustischen und taktilen Erfahrungen als nicht zielführend. Sinneswahrnehmungen getrennt voneinander zu betrachten kann in meinen Augen zu keinem Mehrwert führen.

Dieser Text entstand im Rahmen der Vorlesung „Spezielle Felder: Flanieren als kulturwissenschaftliche Praxis“ der Dozierenden Cornelia Dlabaja und Işıl Karataş für den von Işıl Karataş geleiteten Teil „Synästhetische Stadtforschung“. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Literatur

  • Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel. (23.03.2018). Intersecting Optics: A Dialogue on „Race, Nation, Class“ 30 years on. https://www.youtube.com/watch?v=EhPlDgHewAo&t=97s
  • Brady, Emily. (2005). Sniffing and Savouring, The Aesthetics of Smells and Tastes. The Aesthetics of Everyday Life
  • Diaconu, Mādālina. (06.01.2011). City Walks and Tactile Experience. Contemporary Aesthetics Journal
  • Pink, Sarah. (27.03.2015). What is Sensory Ethnography by Sarah Pink. https://www.youtube.com/watch?v=ON7hfORQUio&t=8s
  • Pink, Sarah. (24.01.2018). Sarah Pink: Design Anthropology for Wellbeing. https://www.youtube.com/watch?v=gM8q3l6nPCk
  • Pink, Sarah. (26.02.2018). Sarah Pink: Digital Ethnography. https://www.youtube.com/watch?v=0ugtGbkVRFM
  • Pink, Sarah. (31.10.2018). Sarah Pink @ Why the World Needs Anthropologists: Designing the Future.
    https://www.youtube.com/watch?v=xrRPu3kE-G0
  • Rolshoven, Johanna. (2001). Gehen in der Stadt. Volkskundliche Tableaus: eine Festschrift für Martin Scharfe zum 65. Geburtstag von Weggefährten, Freunden und Schülern, S.11-27