Fotographie eines archäologischen Profils mit Schichtenverlauf in einer Schauvitrine in der Station Simmering
Fotos und Beitrag von Florian-Jan Ostrowski
Die Stadt als Landschaft
Landschaft, gerade auch die großstädtische Landschaft, sollte in erster Linie nicht als physischer Raum, sondern, wie die Geographin Lisa Ellmers vorschlägt, als „räumliche Repräsentation“ mit vielen Varianten gedacht werden, welche sich auch als ein Palimpsest verstehen lässt. Immer wieder und je nach Bedarf wird deren Schreibfläche ausgebessert, weggekratzt, glattgestrichen oder neu beschrieben. Manchmal stören die Spuren der vorherigen Beschriftung beim Schreiben oder Lesen, manchmal werden sie auch hervorgehoben. Jeder Schreibvorgang legt sich in der städtischen Landschaft als Schicht nieder.
Die geschichtete Stadtlandschaft ist immer in Bewegung. Allerdings entstehen und bewegen sich die Schichten der Stadt nicht von selbst. Es sind die Bewohner*innen, die ihren Lebensraum verändern, die das Stadtbild an ihre Bedürfnisse, Wünsche, Anforderungen anpassen und so prägen. Die städtische Landschaft ist ein kollektives Produkt und wird gemeinsam erschaffen, gestaltet, erhalten, bewohnt und verändert. Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges werden innerhalb der Stadt und durch ihre Bewohner*innen ausverhandelt – irgendwo zwischen Nutzungen, Funktionen, Ästhetik und Ideologie. Nicht alle Bewohner*innen engagieren sich als Landschaftsgärtner*innen. Aber Veränderungen in der Landschaft müssen zumindest von einem Großteil der Bewohner*innen getragen werden. Schließlich lebt man ja zusammen, und das auch über Jahrzehnte hinweg.
Die U-Bahn als Medium
Die Transformationen einer städtischen Landschaft haben deshalb einen öffentlichen, ja sogar gesellschaftspolitischen Charakter. Manche Veränderungen sind gering und fallen kaum auf, andere, wie der U-Bahn-Bau, dauern jahrelang und lassen nichts, wie es vorher war. Die U-Bahn als urbane Erscheinung bewegt sich dabei zwischen den einzelnen Schichten einer Stadt. Sie ist verankert, fixiert in einer sich stetigen verändernden Landschaft und wirkt selbst als Katalysator städtischen Geschehens. Doch der U-Bahn-Bau verändert nicht nur die städtische Oberfläche und den Untergrund, er ist Problemerkenntnis, Problemlösung und Projektion zugleich. Die U-Bahn steht heute für ein Angebot an die Bewohner*innen der Großstadt, ein attraktives, klimafreundliches, schnelles, komfortables und kreuzungsfreies Transportmittel nutzen zu können, welches allen offensteht, solange eine Fahrkarte gekauft wird. Die U-Bahn ist damit ein Plädoyer für mehr Klimaschutz, aber auch ein Hoffnungsträger für eine Aufwertung ganzer Stadtviertel und damit verbunden, für die Steigerung von Lebensqualität, nicht zuletzt auch für die Verbesserung der Betriebseffizienz der Verkehrsbetriebe.
Die U-Bahnfahrt, deren Komfort und Geschwindigkeit sind längst eine Selbstverständlichkeit. Doch ein U-Bahn-Bau ist dies nicht. Da wird jahrelang geplant: Streckenführungen werden überlegt, Probleme besprochen, Lösungen gefunden. Treffen für Treffen, wochenlang, monatelang, über Jahre hinweg. Man streitet sich über die Finanzierung, über die Gestaltung der Stationen, über Licht, Farben, Sicherheit. Die Bauarbeiten selbst sind genauso kompliziert und nicht weniger langwierig. Kilometerlang technische, auch geologische Herausforderungen. Es wird ganzjährig gearbeitet, unabhängig vom Wetter. Die jahrelange Lärmbelästigung beim U-Bahn-Bau ist zwar für viele Menschen eine Zumutung, die Baumaßnahmen sichern allerdings über einen langen Zeitraum genauso Vielen ein geregeltes Einkommen. Der U-Bahn-Bau ist eine gemeinsame Anstrengung von vielen Beteiligten, ein gesellschaftspolitisches Projekt und eine Investition in das Zusammenleben der städtischen Bewohner*innen mit offenem Ende.
Prospektion und Archäologie
In der Großstadt Wien baut man kontinuierlich das öffentliche Verkehrsnetz aus. In den kommenden Jahren bekommen mit den Linien U2 und U5 auch die ehemaligen Vororte zwischen Stadtmauer und Linienwall eine U-Bahn-Verbindung. Dabei ist man in Wien wie in so vielen Orten, beim U-Bahn-Bau auch mit archäologischen Fragen konfrontiert: Was macht man mit den materiellen Spuren der Vergangenheit im städtischen Untergrund, bei einem Projekt der Gegenwart, das auf die Zukunft der Stadt zielt? Interessiert sich irgendwer für Vergangenes, wenn der Blick schon auf die vollautomatische, klimatisierte U-Bahn der Zukunft gerichtet ist?
Dazu können in Wien besonders drei Einrichtungen Auskunft geben: die Stadtarchäologie, welche dem Wien Museum untergeordnet ist, das Bundesdenkmalamt (BDA) als ausführende Behörde der zuständigen Gesetzgebung, die Verkehrsbetriebe, die Wiener Linien & Co KG, welche für die Stadt Wien als Bauherren fungieren. Diese Gruppen habe ich um Stellungnahmen gebeten. Meine Online-Befragungen von Vertreter*innen dieser Instanzen waren ergiebig, aber auch unterschiedlich intensiv. Mit den Wiener Linien eher kurz und formal, mit der Stadtarchäologie freundlich und präzise, mit dem Bundesdenkmalamt informativ und ausführlich.
Den Gesprächen lagen mehrere Vorannahmen und Überlegungen zu Grunde. Materielle Hinterlassenschaften unterschiedlicher historischer Zeiten werden erst über die archäologische Praxis und deren Akteur*innen zu kulturellem Erbe. In der Folge, so meine These, ersetzen die Geschichten über archäologisch untersuchte Orte und Artefakte in urbanen Räumen wie in der Stadt Wien die Orte und Artefakte. Diese archäologische Historisierung der Stadt beim U-Bahn-Bau geht mit dem Narrativ einer parallel verlaufenden Modernisierung einher.
Schicht 1: „Die generelle Planung“ – Wiener Stadtregierung und Magistrate
In der Stadt Wien folgt die Planung und der Bau der U-Bahn einem erprobten Schema. Nach der politischen Entscheidung zum U-Bahn-Bau und der Klärung der Finanzierung mit dem Bund wird die Magistratsabteilung 18 (Stadtentwicklung und Stadtplanung) mit ersten Planungsarbeiten beauftragt. Als Bauberechtigte werden dabei die Wiener Linien GmbH & Co KG eingesetzt, welche ein Tochterunternehmen der Wiener Stadtwerke GmbH sind. Diese wiederum befinden sich im Eigentum der Stadt Wien. Nach einer ersten Planungsphase erfolgt eine „generelle Planung“ unter Einbindung der verschiedensten Interessensvertreter und der Teilnahme der betroffenen Bezirke. Weitere städtische Fachabteilungen werden in enger Abstimmung mit den Bauberechtigten in die Planungen involviert. Nach einer Genehmigung durch die Stadtbaudirektion erfolgt die Detailplanung und die bauliche Umsetzung auch unter Bürgerbeteiligung.
Schicht 2: Der erprobte Prozess – die Wiener Linien
Bei den Wiener Linien bekam ich die Gelegenheit, mit einer Person der Abteilung B67 (Ingenieurbau und Großprojekte-Management) zu sprechen. Demnach sind archäologische Maßnahmen beim U-Bahn-Bau Teil der Projektentwicklung und somit Bestandteil der Einreichphase sowie der Ausschreibung und werden von unterschiedlichen Teams betreut. Aus bautechnischer Sicht ist Archäologie in erster Linie eine gesetzliche Verpflichtung, welche zu Beginn des Bauprojektes (bei Schachtherstellungen, Verstärkung von Kellern, beim Rohbau) durchgeführt wird, allerdings haben die Maßnahmen seitens der Wiener Linien auch einen gesellschaftlichen Mehrwert, weil dadurch zahlreiche Aufschlüsse über die Wiener Vergangenheit erfolgen können. Man habe in Anbetracht der vielen anstehenden archäologischen Maßnahmen einen „vernünftigen Zugang“ gefunden, welcher in einem „erprobten Prozess“ abläuft. Die Bauleitung informiert sich regelmäßig vor Ort über deren Fortgang und verfolgt diesen mit Interesse, auch wenn Archäologie nicht das Hauptanliegen der Wiener Linien, sondern Sache des Bundesdenkmalamtes (BDA) und der Stadtarchäologie sei, mit denen die Kooperation gut funktioniere.
Schicht 3: Das Baufeld freimachen – die Stadtarchäologie
Die Stadtarchäologie wurde von den Wiener Linien als Generalunternehmerin in Sachen Archäologie beauftragt und war von Anfang in die „generelle Planung“ zum U-Bahn-Ausbau der Linien U2 und U5 eingebunden. In dieser mehrjährigen Planungsphase wurde archäologisches Wissen über das Bebauungsgebiet eingebracht, ein Zeitplan für die einzelnen Bauabschnitte festgelegt und eine Ausschreibung an Grabungsfirmen durchgeführt. Neben dem Bauzeitplan orientieren sich die Stadtarchäologie Wien und die beteiligten Grabungsfirmen am tatsächlichen Baufortschritt und sind bei Bedarf auch kurzfristig abrufbar. An neuralgischen Punkten werden archäologische Maßnahmen vorgezogen, um entsprechend sorgfältig und unter etwas weniger Zeitdruck arbeiten zu können.
Während des gesamten Bauprojekts sind 150 archäologische Maßnahmen geplant, wovon rund ein Drittel auf offene und somit sichtbare Flächengrabungen bei zukünftigen Stationsbereichen oder Lüftungsschächten und zwei Drittel im Zusammenhang mit Hausertüchtigungsmaßnahmen (wie Fundamentverstärkung, Einfügen von Bodenplatten oder Hebungsinjektionen) anfallen. Dabei übernimmt die Stadtarchäologie die Aufgabe der „Baufeldfreimachung“, welche notwendig ist, um weitere Baumaßnahmen durchführen zu können, wo Bodendenkmäler vorhanden sind.
Schicht 4: Eine Relaisstation – das Bundesdenkmalamt
Dass beim U-Bahn-Bau überhaupt Archäologie betrieben wird, liegt an den geltenden Denkmalschutzgesetzen bzw. dem BDA. Denn sobald bei Bodeneingriffen Archäologie absehbar ist, entscheidet das BDA, „wie mit den Objekten umgegangen wird und wer daran manipulieren darf.“ Wer mit Funden im Boden rechnet oder auf materielle Überreste stößt, braucht zum einem die Genehmigung zur Ausgrabung (wozu eine bestimmte Ausbildung Voraussetzung ist), und sofern etwas bereits unter Denkmalschutz steht, auch die „Bewilligung zur Veränderung“ des Denkmalschutzstatus. Dabei steht das BDA dem Projekt U-Bahn-Bau grundsätzlich positiv gegenüber, „obwohl natürlich jeder Bodeneingriff auch ein Verlust an Originalsubstanz ist.“ Um die behördlichen Abläufe, die Erstellung von Bescheiden und die Zuständigkeiten transparent und nachvollziehbar zu halten, hat das BDA bereits zu Beginn des Projektes Treffen bzw. Kleinveranstaltungen organisiert, um es für alle „überschaubar und durchschaubar zu halten.“
Wie die Stadtarchäologie wurde auch das BDA mit den Abteilungen für Archäologie und Wien bereits zu einem frühen Zeitpunkt in das U-Bahn-Projekt U2 und U5 involviert. Neben den frühen Planungstreffen kommt es im Laufe des Projektes immer wieder zum gemeinsamen Austausch, wo die Vorgänge der jeweiligen Bauabschnitte und die anstehenden Arbeiten besprochen werden:
Es kommen verschiedene Fachbereiche sehr ausgiebig und breit zum Zug. Es werden hier, für das vollständige Projektgebiet alle Anliegen von betroffenen Parteien wie Bezirk, Anrainer, Energieversorgung, Verkehrsteilnehmer und von Fachgebieten wie Umwelt, Lebensqualität und Kulturgüter mit den Themen Archäologie und Denkmalschutz – natürlich auch Baudenkmale, eingebunden. Das gelingt eigentlich recht gut.
Schicht 5: Die Stadtgeschichte
Auch die Stadtarchäologie lobt die gute Zusammenarbeit aller am Projekt beteiligten Personen und die guten Beziehungen zu den Bewohner*innen:
[…] die Kommunikation mit den Anrainern ist für die Stadtarchäologie Wien in erster Linie eine Bereicherung, da das Interesse der Öffentlichkeit an der 7.000 Jahre alten Geschichte dieser Stadt und den Funden, welche diese Geschichte erzählen können, enorm ist.
Zudem zeigen die Wiener Linien laut Stadtarchäologie ein großes Interesse an den archäologischen Quellen im Boden und tragen den Mehraufwand von Anfang an mit. Im Rahmen der Ausschreibung für archäologische Maßnahmen wurde von Seiten der Wiener Linien ein Budget zur Verfügung gestellt, welches sowohl die fachgerechte Bergung, die Auffindung, die Verbringung im Depot, als auch die Fundverwaltung abdeckt, über die die Stadtarchäologie frei verfügen kann. Darüber hinaus müssten weitere finanzielle und zeitliche Spielräume für archäologische Maßnahmen im Einzelfall entschieden werden.
Schicht 6: Das kulturelle Erbe sichern, dokumentieren, erforschen und erzählen – die Stadtarchäologie
Unterstützt werden diese Maßnahmen beim U-Bahn-Bau durch die Stadt Wien, welche sich laut Stadtarchäologie „ihrer Verantwortung um das kulturelle Erbe und die Bodendenkmale vollinhaltlich bewusst“ ist. Da sowohl die Wiener Linien, als auch die Stadtarchäologie Teil der Stadt Wien sind, gibt „es in Hinblick auf Eigentum der Funde auf öffentlichem Grund und der angefertigten Dokumentation keine Diskussionen“. Funde auf privaten Grund erfordern zwar intensive Gespräche mit den Besitzern, bislang konnte aber jede Situation im beidseitigen Interesse gelöst werden. Gerade weil die fundkonforme Restaurierung, Konservierung und Verwahrung gesetzlich geregelt und mit Auflagen verbunden ist, übernimmt die Stadtarchäologie als kompetenter Ansprechpartner in Sachen Archäologie auch die Verbringung der Funde in das Depot der Museen der Stadt Wien.
Dabei hat die Stadtarchäologie bei den Funden und Befunden eine ganzheitliche Perspektive auf die Stadtgeschichte. Alle Funde und Fundgattungen besitzen denselben Stellenwert und werden auch dementsprechend mit gleicher Sorgfalt behandelt. Während die meisten beweglichen Artefakte im Depot landen, können ausgewählte Funde bei entsprechenden Möglichkeiten auch am Auffindungsort z. B. in Vitrinen präsentiert werden.
Die Frage nach der Bewahrung von archäologischen Befunden und unbeweglichen Strukturen vor Ort (in situ) ist dagegen komplizierter und hängt von mehreren Faktoren, unter anderem von der Wirtschaftlichkeit und der Bauweise selbst ab. Wird in „offener Bauweise“ (eine tiefe Baugrube) gebaut, ist in der Regel der Erhalt von Fundgut vor Ort nicht möglich. Beim unterirdischen Bau mit Tunnelvortrieb verlaufen die Arbeiten zwar unterhalb der archäologisch relevanten Schichten, der Spielraum zum Erhalt von Strukturen in den Stationsbauten oder bei technischen Bauwerken wie Lüftungsschächten ist begrenzt. Umso wichtiger ist daher die archäologische Begleitung und Dokumentation während des U-Bahn-Baus.
Schicht 7: Die Abwägung öffentlicher Interessen – das Bundesdenkmalamt
Da eine Ausgrabung auch immer Zerstörung von Landschaft ist, sieht das BDA die Dokumentation als genauso wichtig an wie den Erhalt der Originalsubstanz im Boden, besonders wenn die Befunde durch Gas-, Wasser-, Strom- und Fernwärmeleitungen und Kanalisation bereits gestört sind. Unter diesen Umständen lenkt das BDA „das Geschehen in die Richtung, dass es qualifiziert freigelegt, geborgen und dokumentiert wird und, dass die wissenschaftliche Aussage als Ersatz für den Erhalt im Boden angesehen werden kann.“ Bei der aktuellen U-Bahn-Erweiterung der Linien U2 und U5 kommen dem BDA zu Folge zwar sehr wohl viele archäologische Fundzonen vor, „aber mit leider relativ wenig Berührung an Objekte wo wir sagen, die sind so hochrangig, dass wir auf eine unveränderte Erhaltung im Boden pochen würden.“ Der Erhalt oder die Zerstörung von Kulturgut hängen somit von öffentlichen Interessen und deren Abwägung ab. Das öffentliche Interesse am Erhalt von Kulturgut „wird immer in Abwägung mit gleichrangigen öffentlichen Interessen diskutiert, die auch auf diesen Punkt zutreffen.“ Genau diese Ausverhandlungen machen die Arbeit im BDA so spannend, „weil man alle Argumente abwiegt und auf Expertenmeinung und auf der Basis von gültigen Gesetzen für jede Fachmaterie hier versucht sehr vernünftige Entscheidungen herbeizuführen.“
Sollte etwas „unerwartet Tolles“ zum Vorschein kommen, besitzt das BDA mit dem Denkmalschutzgesetz auch das entsprechende Instrumentarium, um etwas „sehr schnell unter Schutz stellen“ zu können, allerdings muss die Unterschutzstellung in absehbarer Zeit verständlich argumentiert und für alle nachvollziehbar gemacht werden, um diesen Status nicht wieder zu verlieren. Außerdem können Unterschutzstellungen in Hinblick auf ihre Gesamtheit, einzelne Aspekte oder deren geplante Nutzung und Funktion neu evaluiert werden. Zwar gehe es um die Vermittlung (österreichischer) kultureller Werte und Geschichte über Objekte, aber diese auf einer Liste vorab zu definieren, ist für das BDA wenig sinnvoll: „[…] meistens geht es da drum, was bringe ich wie in die Zukunft […].“
Schicht 8: Archäologie als öffentlicher Schnittpunkt – die Stadtarchäologie und das Bundesdenkmalamt
Auch wenn die Zurschaustellung von Objekten an der Oberfläche eine Herausforderung darstellt, sei aus Sicht des BDA die Bewahrung von archäologischen Funden und Befunden in einem öffentlichen Massenverkehrsmittel für die Stadt Wien Prestigesache und Motivation, die Stadtkultur, die Lebensqualität und auch die städtischen Arbeitsweisen zu zeigen, weshalb es weniger eine Sache des Geldes sei, als der technischen Umsetzbarkeit bzw. der behördlichen Auflagen und Sicherheitskonzepte. Auch die Stadtarchäologie sieht bei der Präsentation und Sichtbarmachung von archäologischen Ergebnissen im U-Bahn-Bereich vielfältige konservatorische und restauratorische Fragestellungen an erster Stelle. Es geht weniger um die Bewahrung von Kulturgut im Boden oder vor Ort um jeden Preis, sondern darum zu gewährleisten, dass „das Alte nicht zugunsten des Neuen“ zerstört wird. Gleichzeitig lautet deren Credo: „Eine Stadt wie die Bundeshauptstadt muss wachsen.“
Sowohl die Stadtarchäologie als auch das BDA verweisen auf die gelungene Integration von archäologischen Strukturen oder Denkmälern oder die Ausstellung von Teilen davon in neuen Gebäuden (wie z.B. bei Stationen entlang der Linie U3 oder im Rahmen der Schnellbahn-Station „Quartier Belvedere“). Für alle Beteiligten sind die Öffentlichkeit, deren Aufklärung, Information, aber auch Bildung, zentral, weshalb der Vermittlung der archäologischen Ergebnisse ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird. Während die Stadtarchäologie einen „Beitrag zur Geschichtsforschung“ der Stadt leistet und in der Vermittlungsebene eine ihrer Kernkompetenzen sieht, wirkt sich eine informierte Öffentlichkeit wiederum positiv auf die Arbeit der Archäolog*innen aus:
Das große Interesse der Wiener Bürger an der Archäologie ist ein enormes Kapital für die Stadtarchäologie Wien, da es oftmals Argumentationen und Unterstützung in schwierigen Verhandlungen mit Entscheidungsträgern bietet.
Das Bundesdenkmalamt sieht ebenfalls in einer gut koordinierten Medien- und Öffentlichkeitsarbeit und der Vermittlung bisheriger Ergebnisse und Arbeitsweisen einen Schlüssel, um in der Stadtbevölkerung Akzeptanz zu erreichen, wenn Kulturgut verloren geht und wenn Neues entsteht. Archäologie als Praxis fungiert dabei, wie die Stadtarchäologie betont, als Schnittstelle:
Hier treffen sich die Planer, die Erbauer, die Forscher, die Anwohner und die interessierte Öffentlichkeit bei einem spannenden und konfliktfreien Thema der Geschichte der Stadt Wien.
Funde und Befunde – Archäologie, Urbanität und Öffentlichkeit
Im Gegensatz zu Städten wie Athen, Rom oder Neapel verweisen die Stationsnamen im System der Wiener U-Bahn weder auf archäologische Überreste in der Umgebung, noch findet man großflächige, in die Stationsbereiche integrierte archäologischen Strukturen. Trotzdem sind archäologische Themen, Schaufenster, Originalbefunde und Funde in der Wiener U-Bahn-Landschaft auf verschiedenen Ebenen präsent: bei der Oberflächengestaltung (Stephansplatz, Herrengasse), beim Stationseingang (Stubentor), in Passagen (Stephansplatz, Simmering) und bei den Bahnsteigen (Rochusgasse), welche entweder in Ruhe studiert werden können, im Vorbeigehen ins Blickfeld geraten oder beim Warten auf den Zug die Zeit verkürzen. Schwerpunkte dieser Repräsentationen liegen dabei auf dem römischen Wien (Grabbeigaben), dem mittelalterlichen Wien (Virgilkapelle, Ludwigschor, Stadtmauer) und auf verkehrsgeschichtlichen Aspekten (römischer Limes, mittelalterliche Schotterstraße). Gerade im Umgang mit Archäologie und dem kulturellen Erbe der Stadt, der Einbindung der Stadtarchäologie zu einem frühen Planungszeitpunkt, der Berücksichtigung von archäologischen Interessen und der kontinuierlichen archäologischen Begleitung beim Bau nehmen die Wiener Linien seit den 1970er Jahren eine Vorreiterrolle in Europa ein und behandeln Archäologisches gleichberechtigt zu Kunstanliegen.
Auch bei der neuesten Ausbauphase der Linien U2 und U5, mit Baustellen in dicht bebauten Gebieten, kommt in Wien die Archäologie zum Einsatz. Die kontrollierten Veränderungen des Untergrundes bedeuten zum einen den Verlust bestehender Bausubstanz und die Veränderung der Landschaft. Zum anderen bieten sie die Chance, überhaupt neue und vertiefende Erkenntnisse über die Entstehung und den Verbleib von materiellen Überresten und die Genese des urbanen Raumes zu gewinnen.
Ein großer Vorteil ist, dass sowohl hinter der Stadtarchäologie als auch den Wiener Linien die Stadt Wien steht, die an beidem, einer Historisierung wie an einer Modernisierung des Stadtlebens reges Interesse zeigt. In beiden Fällen werden letztendlich Angebote für eine Öffentlichkeit gemacht, zum einem in der Form einer Erinnerungslandschaft, zum anderen in der Form einer Innovationslandschaft. Gerade diese Verbindungen und das Nebeneinander zeichnet einen urbanen Raum wie die Stadt Wien aus.
Durch das Zusammenspiel von Historiker*innen, Archäolog*innen, den verschiedenen Projektbeteiligten und einer interessierten Öffentlichkeit sowie deren Eingebundenheit in Diskurse und soziale Organisationsformen, bekommen die materiellen Hinterlassenschaften eine Bedeutung. Was wir an kulturellem Erbe wahrnehmen, ist nicht festgeschrieben oder weist eine immerwährende und gleichbleibende Gültigkeit auf, sondern entsteht aus einem dynamischen Netzwerk von Personen, Orten, Instituten und Praktiken heraus. Dementsprechend kann Erbe auch nicht verloren sein, wenn es zuvor nicht gemacht und angeeignet wurde. Dabei ist die Konstruktion von kulturellem Erbe in erster Linie ein sozialer und politischer Prozess, in denen in reflexiver Weise ein Bewusstsein für (historisch-archäologische) Alteritäten außerhalb des individuell Bekannten geschaffen wird. Für die Anerkennung dieser Alteritäten ist es zweitrangig, ob das in Form von archäologischen Objekten im Museum oder im Depot, durch integrierte Strukturen in Stationsgebäuden oder durch Geschichten erfolgt.
Florian-Jan Ostrowski hat Geschichte sowie Urgeschichte und Historische Archäologie studiert. Gegenwärtig arbeitet er als Universitätsassistent am Institut für Geschichte der Universität Wien und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit Archäologie und Medien.
Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.
Danksagung
Ich danke den Wiener Linien, der Stadtarchäologie und dem Bundesdenkmalamt für spannende Einsichten und interessante Gespräche sowie den Kolleg*innen des Seminars, in dessen Rahmen die Arbeit entstand, insbesondere Melanie Haberl und der Kursleiterin Klara Löffler für Kommentare und Anregungen.
Nachweise
Ellmers, Lisa: Politische Geographie und Landschaft. In: Olaf Kühne, Florian Weber, Karsten Berr, Corinna Jennal (Hg.): Handbuch Landschaft. RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft. Wiesbaden 2019, 397-406.
Hesberg, von Henner, Jürgen Kunow, Thomas Otten (Hg.): Mit der U-Bahn in die Vergangenheit – Erinnerungsorte im Massenverkehr. Regensburg 2019.
Wiener Linien GmbH & Co KG (Hg.): Wiener U-Bahn-Kunst. Moderne Kunstwerke – Archäologische Funde – Zeitlose Architektur. Wien 2011.
Zappe, Ursula: Schnittstellen des Wiener U-Bahn-Baus zur Stadt Wien: Von der Idee bis zum Bau gemeinsam für die beste Lösung. In: Lukas Steinschaden, Institut für Interdisziplinäres Bauprozessmanagement (Hg.): 2. Wiener U-Bahn-Tagung. Wien wächst – Herausforderung für das U-Bahn-Netz Wiens, 4.-5. Juni 2014, Tagungsband. Wien 2014, 63-69.
Interaktive Karte mit archäologischen Maßnahmenbereichen zum Linienkreuz U2xU5 <https://www.arcgis.com/home/webmap/viewer.html?webmap=46a06ba46e6f48ea9758c616f52f1772> (Aufruf 14.02.2021)
Webseite der Wiener Stadtarchäologie speziell zum U-Bahn-Linienkreuz U2xU5 <https://stadtarchaeologie.at/start/u-bahn-archaeologie-linienkreuz-u2-u5/> (Aufruf 14.02.2021)
Webseite der Stadt Wien zum Linienkreuz U2xU5 <https://u2u5.wien.gv.at/> (Aufruf 14.02.2021)