Warten

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Beitrag, Foto und Projekt von Mariella Neuberg und Niklas Schrade

Die Welt befindet sich seit dem Beginn der Corona-Pandemie in einem kollektiven Wartezustand – der Alltag der Gesellschaft wurde abrupt angehalten und stattdessen zog ein Zustand der Ungewissheit, Furcht, Vorfreude, Langeweile, Hoffnung und Sehnsucht ein. Wir warten auf neue Informationen und Erkenntnisse, Testergebnisse, Impfungen, Anfang und Ende politischer Maßnahmen, Reisen und Besuche, den Wiederbeginn des alltäglichen Lebens und das Ende des pandemischen Zustands – das Ende des Wartens.

So extrem uns das Warten in der Pandemie auffällt, ist es doch essenzieller Bestandteil des Alltags und daher ein höchst spannendes und aufschlussreiches Feld. In der Art wie Menschen warten zeigen sich aktuelle Aushandlungen, wie der Umgang mit der spätkapitalistischen beschleunigten Gesellschaft. Hierbei steht Warten in einem ambivalenten Verhältnis, ist es einerseits eine Befreiung aus den Zwängen einer modernen Leistungsnorm, der Moment des Ausruhens, Ausbrechens. Gleichzeitig liegt in der Erlebnisökonomisch geprägten Gesellschaft immer auch die Furcht vor leerer Zeit, der Verlust von Zeit, denn Warten unterbricht das linear gedachte Kontinuum des Alltags. Dabei schaffen aber gerade die Unterbrechungen einen Rhythmus des Alltags, sie strukturieren ihn. Gleichzeitig werden Individuen ermächtigt, sie erhalten die Möglichkeit, sich den gegenwärtigen Problemen zu entziehen, sie aufzuschieben. Entscheidend ist hier die zeitliche Dimension des Wartens, die Gegenwart wird der Zukunft untergeordnet, allerdings lässt sich über die Selbstbestimmtheit streiten, mit dem Warten gehen auch immer Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit einher. Stark lassen sich aktuelle Machtkonstellationen und -verhältnisse ablesen.

Warten als spezifischer Geisteszustand ist kaum beobachtbar, wie Menschen warten verbirgt sich der Betrachtung. Es zeigt sich aber in den (Nicht-)Handlungen der Menschen. Dabei haben die physische Umgebung wie die kulturellen Erwartungen einen hohen Einfluss auf die individuelle Qualität des Wartens.

In unserem audio-visuellen Projekt legen wir somit den Fokus auf die performativen Handlungen, gerade in Bezug auf digitale Medien. Wie verändern Technologien wie Smartphones unser Erlebnis von Wartezeit? Welche Rolle spielt Perzeption von medialen Inhalten im alltäglichen Warten? Aber auch welche emotionale Ebene findet im Wartezustand statt?

In unserem Projekt stellen wir diese Fragen an den/die Zuschauer_in und fordern auf zu einer autoethnographischen Selbstbeobachtung. Die Interaktivität und real-time perception sind hierbei von ausschlaggebender Bedeutung und ermöglichen eine verkörperte Erfahrung der Warteperformance.

Dieses audio-visuelle Projekt und der Text entstanden im Rahmen der Lehrveranstaltung „Gesellschaft: Audio-Visual Media and Embodimentunter der Leitung von Işıl Nur Karataş. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.