Beitrag und Fotos von Maria Prchal
Seit aus den großen Musikboxen die Klänge der 1990er Alternativ-Szene gedröhnt sind, ist schon etwas Zeit vergangen. Seit Jahren stehen sie jetzt unberührt und von Staub überzogen in R.s Jugendzimmer. Nicht einmal mehr funktionieren tun sie, erzählt er. Wieso sie dann noch hier sind? „Na weils cool ausschaut“, erklärt der ehemalige Bewohner des Zimmers. Als Besitzer würde er sich noch immer sehen, auch wenn er längst nicht mehr hier wohnt. So wie die Lautsprecher sammeln sich hier noch mehr Gegenstände aus verschiedenen Etappen seines Lebens. Seit R. aus dem Elternhaus ausgezogen ist, bringt er mit jedem Umzug neue Überbleibsel in sein ehemaliges Zimmer. Vor Kurzem hat er seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt und alles, was er jetzt noch in Österreich besitzt, sammelt sich in diesem Raum. Aber es steht nicht unsortiert neben den kaputten Verstärkern, nein, alles habe seine Ordnung. „Kosmos“ und „Chaos“ finden sich in seinem Zimmer, sagt R. mit Augenzwinkern. Die Gegenstände und Möbel seiner letzten Wohnung bilden den „Kosmos“ und in der anderen Zimmerhälfte des großen Raums staue sich das „Chaos“.
Als R. mir sein Zimmer zeigt, beginnt er im „Kosmos“ – mit seiner neuesten Gitarre. Daneben eine Stehlampe, dann der Teppich und die Couch. Gleich als nächstes steht ein Bett, das der ehemalige Bewohner auch benutzt, wenn er im Land ist. Doch halt, das Bett ist gar nicht aus seiner alten Wohnung, genauso wenig wie das Regal dazu. Und eigentlich, die Stehlampe auch nicht. Was ist also mit der „Chaos“/„Kosmos“-Theorie? Ja gut, gibt R. zu, das alte Bett passe einfach besser hinein. Also noch einmal von vorne, wie ist das Zimmer aufgeteilt? R. bleibt dabei, es gibt das „Chaos“ und den „Kosmos“. Doch sortiert ist nicht nach „alt“ und „neu“, nach Jugend und Erwachsener – sondern nach seinen Stilpräferenzen, Geschmack und vor allem Handhabe. Sofa, Bett und Kasten brauche er, die benutze er auch jeden Tag, wenn er eben da ist. Dieser Bereich des Zimmers ist zugänglicher, räumlich wie auch emotional, meint R.: „Der Teil in dem gelebt wird, der belebt wird. Wo ich mich aufhalte und wohlfühle.“ Mit dem (alten) Tisch in der zweiten Zimmerhälfte beginne das „Chaos“. Dort stehen die Umzugskisten mit Geschirr, eingewickelt in Zeitungspapier. Dort steht das abgebaute Bett aus der letzten Wohnung in Österreich, dessen Einzelteile auf dem Sofa aus Jugendtagen liegen. Die bereits erwähnten Verstärker, ein wenig entfernt die genauso mehr oder weniger funktionierenden Gitarren und Bassgitarren aus R.s Zeiten in einer lokalen Punkband. Mit der neuen Gitarre in der „Kosmos“-Hälfte widme er sich jetzt dem Jazz und Blues. Bücher stehen in beiden Raumhälften – doch auf der „Chaos“-Seite, das sei nur die „Schundliteratur“.
„Subjektiv durcheinandergewürfelt, aber objektiv am rechten Platz“
Doch was ist das überhaupt für ihn, das Chaos? „Naja einerseits Dinge die, die nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Alles was mittelbar ist. Also, umgekehrt. Alles was unmittelbar da ist, ist für mich kein Chaos. Und alles was erst vielleicht auch zusammengebaut werden muss und jetzt nicht verwendbar ist, ist Chaos.“ Chaos wird von ihm also an der Verfügbarkeit der Dinge festgemacht. Die Gegenstände im Raum seien „objektiv durcheinander gewürfelt, aber subjektiv ist alles am rechten Platz.“
Was das denn heißt, erklärt er so: „[Es] ist einfach alles gut und am Platz und was auch immer kommt, weiß ich, wo die Dinge sind und ich kann sie sofort so adjustieren, wie ich es brauch, ohne dass da irgendwas attached ist, irgendein string. Das macht mich halt frei.“ Auf nochmalige Nachfrage ergänzt er: „Dinge und Besitz erzeugen immer eine gewisse Abhängigkeit. Wenn ich mich irgendwo einrichte, dann stecke ich da auch Energie hinein und möchte, dass alles perfekt ist. Da mein Zimmer aber nur eine temporäre Lösung ist, möchte ich mich hier nicht binden und keine Energie reinstecken müssen. Also auch keine Gedanken daran verschwenden. Ich möchte mich aber dennoch wohlfühlen. Das heißt, Pragmatismus und Funktionalismus steht über Design und Form. Das heißt, Mut zur Unperfektion.“
Ein wenig scheint hier eine Dialektik auf, denn einerseits betont R., es gehe ihm um die Funktion und Verfügbarkeit der Dinge. Andererseits lege er großen Wert auf Ästhetik, wie im Gespräch immer wieder herauskommt. Welches Bett aufgebaut ist hängt davon ab, wie es für ihn in den Raum passt. Das andere Bett aus seiner letzten Wohnung ist eigentlich größer, doch durch seine Maße würde es sich nicht gut ins Zimmer einfügen. Anscheinend besteht für R. die Funktion des Dings nicht nur in dem, wofür es als Gegenstand zu gebrauchen ist – also das Bett als Schlafort. Sondern es erfüllt eine mindestens so wichtige ästhetische Funktion als Raumelement. So fügt sich das Zimmer für ihn zu einer ästhetischen Einheit zusammen.
Noch bevor mir R. sein Zimmer per Video gezeigt hat, habe ich ihn gebeten, darüber zu schreiben. Dabei hat er die einzelnen Gegenstände erst gar nicht erwähnt: „Genau“, sagt er auf Nachfrage „das ist mir jetzt eigentlich gar nicht wichtig. Weils ja auch nur ein Gefühl ist.“ Wieso sind die Dinge ihm nicht wichtig, will ich wissen: „Ja, weil die Einzeldinge jetzt nicht so den Stellenwert haben, sondern es ist immer die Gesamtheit der Dinge. [Pause] Ich geh jetzt nicht ins Zimmer, um einen bestimmten Gegenstand zu brauchen oder zu benutzen. Sondern wenn ich reingeh‘, dann ist die Atmosphäre das, was den Eindruck vermittelt wie‘s ist. Es ist jetzt nicht so, dass ich unbedingt einen Gegenstand brauch damit das Zimmer jetzt genau den Charakter dieses Zimmers bekommt.“ Die teuren Designersessel, die Ordner, die das ganze Wissen seiner Studien zusammenhalten, der empfindliche Vollholztisch oder das alte Bandplakat seien alles nicht die Dinge, die ihm wichtig seien. Sondern eben das „Gesamtpaket“, das dem Raum seinen bestimmten Charakter gibt, seine „Atmosphäre.“ Als ich R. vorgeschlagen habe, sein Zimmer mit ihm zu beforschen, hat er ganz verwundert gemeint, da gäbe es ja nichts zum Entdecken, es sei rein funktional eingerichtet. Doch im Laufe des Gespräches wurde immer klarer, die Funktion des Zimmers liegt darin, eine bestimmte Atmosphäre heraufzubeschwören.
Eine „heimelige“ Stimmung und der Geruch nach „damals“
R. ist nicht der einzige, für den die Atmosphäre des Raums zählt. Jürgen Hasse ist einer der wichtigsten Vertreter einer „Atmosphären-Theorie“. Die hat sich die (Stadt-)Soziologie aus der Philosophie angeeignet, wo Gernot Böhme sie in Anlehnung an Theorien der Ästhetik vorangetrieben hat. Atmosphären-Theoretiker*innen achten bei der Forschung von Räumen (wobei Raum hier weiter gefasst ist, zum Beispiel eine Stadt sein kann) nicht nur auf die materielle Umgebung, sondern sehen auch nicht-materielle Faktoren als konstitutiv und prägend für Handlungspotenziale. Das Licht, die Raumhöhe, die Luftfeuchtigkeit – all diese sensorischen Eindrücke sorgen dafür, dass wir uns in einer Kirche anders verhalten und fühlen als in einem Kindergarten. Diese entsteht immer gemeinsam mit dem/der Benutzer*in. In diesem Fall R. Der beschreibt die Atmosphäre in „seinem Zimmer“, wie er den Raum trotz anderem Lebensmittelpunkt immer noch nennt, vor allem als „wohlig“. Aber auch als „heimelig“ und „vertraut“, „behaglich“ und „geborgen“. Wärme und Stille sind Eindrücke, die R. immer wieder anspricht. Das Zimmer rieche auch nach „damals“ durch die alte Wäsche und den Hauch von Waschpulver aus vergangenen Zeiten. Dieses Gefühl des „Ankommens“ und der „Nostalgie“ kommt durch das Licht, die Optik, die Temperatur und alle Sinneseindrücke – durch die Atmosphäre eben – zustande.
Als der Raum noch Jugendzimmer war, wären es wahrscheinlich noch andere Assoziationen gewesen. Das erklärt Hasse damit, dass sich das Verhältnis zur Umgebung mit den subjektiven Lebenssituationen wandelt. Die soziale Situation der Person ändere den Bezug zum Raum. Der Soziologe hat sich damit beschäftigt, wie sich die Projektionen auf das Elternhaus während der Kindheit, der Adoleszenz und schließlich mit dem Auszug verändern.
Aber wenn die Materialität immer gleich ist, wie kann sich die empfundene Atmosphäre verändern? Sie ist nicht nur abhängig von den räumlichen Voraussetzungen, sondern auch von den Subjekten, die sich durch den Raum bewegen. In dieser Benutzung reflektieren sich die erlernten Routinen und damit die „impliziten kulturellen Schemata“ der Nutzer*in, erklärt Andreas Reckwitz. Er spricht von „affektiven Räumen“, meint damit aber dasselbe wie sein Fachkollege Hasse mit „Atmosphären“. R. ist älter geworden, deswegen sind Orte der jugendlichen Konflikte jetzt Orte des „Heimkommens“. Auch wenn das Zimmer das gleiche ist, R. ist es nicht. Damit ändert sich für ihn die Atmosphäre.
R. erklärt, er habe mehrere Heimaten. Wo er gerade wohne und sein Elternhaus. In modernen Wohnbiografien sei die „Organisation des Lebensalltags über mehrere Wohnorte“ zur Normalität geworden, schreibt der Soziologe Sebastian Schinkel in „Unschärfen der Verortung im Zusammenleben als Familie. Räume und Routinen einer Praxis multilokalen Wohnens“. Multilokales Wohnen nennt er das nach der Stadtforscher*in Johanna Rolshoven.
Mit dem Älterwerden komme es zu einer Ausweitung der Lebensräume und die persönlichen Räume, die in der Adoleszenz entstehen, bieten Sicherheit und ein vertrautes Territorium, schreibt der Psychologe Tilman Habermas. An diesen Orten würden sich persönliche Gegenstände ansammeln und „Sedimente vergangener Zeit [bilden] aus Objekten, die nutzlos gemacht worden sind aber trotzdem aufbewahrt werden.“ So wie R. Dinge aufhebt, die keinen Nutzen mehr für ihn haben und teilweise gar nicht mehr intakt sind. Sachbesitz sei Teil von Assemblagen, „die sich aus Dingen mit unterschiedlichen Lebenswegen und Halbwertszeiten zusammensetzen“, schreibt der Ethnologe Hans Peter Hahn. Nicht allen angesammelten Gegenständen würde der/die Besitzer*in mit Wertschätzung begegnen, manchen auch mit Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Das Zufällige, Ungeplante und Chaotische des Alltags führe zur Komplexität der Ordnungen: „Dingwelten weisen nicht immer fixierte sinnstiftende Ordnung auf.“ Deswegen rät Hahn, nicht auf die Funktion der einzelnen Gegenstände zu schauen, sondern darauf, was sich aus deren Kombination ergibt. Das ist auch nicht stabil: Ein Haushalt sei in jedem Moment ein anderer.
Ein Spiegel des Älterwerdens
Das ist genau was R. sagt, wenn er sein Zimmer deutet. Die Gesamtheit der Eindrücke mache für ihn den Raum aus. Einerseits geht es um seine Benutzbarkeit, andererseits ist es die Atmosphäre, die er zuerst mit dem Ort verbindet. Im Vorfeld unseres Interviews habe ich ihn um ein Freewriting zu seinem Zimmer gebeten. Mit dem Leitsatz „Wenn ich an mein Zimmer denke, dann…“ habe ich ihn gebeten, zehn Minuten frei assoziativ ohne Unterbrechung zu schreiben. Dabei hat er beinahe nur „atmosphärische“ Eindrücke des Raums wiedergegeben. Mobiliar, Gegenstände, etc. wurden erst im Interview Thema. Zur Erinnerung: „[W]enn ich reingeh‘, dann ist die Atmosphäre das, was den Eindruck vermittelt wies ist. Es ist jetzt nicht so, dass ich unbedingt einen Gegenstand brauch damit das Zimmer jetzt genau den Charakter dieses Zimmers bekommt.“
Gleichzeitig hat R. häufig betont, er sei ein „sehr geordneter“ Mensch. Ist die Ansammlung von nicht-funktionalen Dingen dann ein Widerspruch? Nein, meint er und verweist häufig darauf, dass Zimmer sei ein „Übergangsraum“. Ordnung schaffen würde er erst, wenn er die Dinge aus dem Zimmer für eine Wohnung in Österreich brauchen sollte. Dann würde er sie (aus-)sortieren. Derweil müsse der Raum nur praktisch sein.
Der Raum biete eine Konstante für seinen mobilen und transnationalen Lebensstil. Es ist der Ausgangs- Fix- und Rückkehrpunkt der Bewegungen meines Gesprächspartners. Für ihn symbolisiert er Stabilität, „fühlt“ sich nach Geborgenheit und Freiheit an – ist aber gleichzeitig ein Übergangsort. Die Dinge im Raum sind dafür konstituierend. Sie haben ihre eigene Ordnung, die den Zweck hat, die für R. „richtigen“ Handlungsmöglichkeiten zu bieten. Nicht jeder Gegenstand hat eine Funktion und manche sind überflüssig. Das mache aber Ansammlungen von Gegenständen aus, so Hahn. Es werden eben nicht nur Dinge von unmittelbarem Wert aufgehoben und nicht immer in einer sinnstiftenden Ordnung platziert.
Für R. dient das Zimmer als Ort der Rückkehr. So wie es angeordnet ist, bedeutet es für ihn Sorglosigkeit. Er hat für die kurze Zeit, die er es bewohnt, genau das zur Verfügung, was er braucht. Die „Behaglichkeit“ des Raumes kommt einerseits durch das Wissen zustande, er müsse sich hier um nichts kümmern und hat alles was er benötigt. Sie wird andererseits vermittelt durch die Atmosphäre des Zimmers selbst. Die ist mindestens genauso konstituierend für den Raum wie die reine Materialität der Gegenstände, die ihn füllen. R. kann sie gut im Zimmer orten, wenn er von all den Gefühlen spricht, die er mit dem Ort verbindet. Er hat sie klar mit bestimmten Eindrücken verbunden – Vertrautheit bedeutet für ihn der Geruch des alten Waschpulvers, die Wärme der Fußbodenheizung, die Stille.
In R.s Zimmer spiegelt sich durch die Anhäufung von immer mehr Gegenständen seine Biografie wider. Allerdings handelt es sich nicht um eine bloße Aufschichtung nach Lebensabschnitten – die Dinge sind danach sortiert, ob sie jetzt gebraucht werden, müssen aber zur selben Zeit R.s ästhetischen Ansprüchen entsprechen. Gleichzeitig spiegelt sich R.s Älterwerden in seinem Umgang mit dem Zimmer. Die Atmosphäre und damit die Handlungspotenziale des Raumes verändern sich mit der sozialen Situation seines Benutzers. Obwohl es immer die gleichen vier Wände sind, der Kosmos darin ist stets fluide, ebenso wie dessen Bedeutung.
Maria Prchal ist Masterstudentin am Institut für Europäische Ethnologie. Ihren Bachelor hat sie ebenfalls in der Europäischen Ethnologie gemacht sowie einen zweiten Bachelor am Institut für Sprachen und Kulturen Südasiens und Tibets.
Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.
Nachweise
Interview mit R. am 6.01.2021, geführt von Maria Prchal
Habermas, Tilmann: Geliebte Objekte: Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Reprint. Berlin 2020.
Hahn, Hans Peter: Das Wuchern der Dinge. In: Prinz, Sophia, Göbel, Hanna Katharina (Hg.): Über Sachuniversen und die vergessenen Teile unseres Sachbesitzes. Bielefeld 2015, 61-78.
Hasse, Jürgen: Wohnen. In: Eckardt, Franz (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden 2012, 475-502.
Hasse, Jürgen, Verena Schreiber: Einleitung. In: Dies (Hg.): Räume der Kindheit: Ein Glossar. Bielefeld 2019, S. 9-14.
Reckwitz, Andreas: Affektive Räume: Eine praxeologische Perspektive. In: Mixa, Elisabeth, Vogel, Patrick (Hg.): E-Motions. Wien 2012, S. 23-44.
Schinkel, Sebastian: Unschärfen der Verortung im Zusammenleben als Familie. Räume und Routinen einer Praxis multilokalen Wohnens. In: Tervooren, Anja, Robert Kreitz (Hg.): Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Opladen 2017, S. 81-99.