Das bleibt in der Familie? Wie sich Familienkonzepte auf dem Spielfeld Hinterlassenschaft begegnen

Geschätzte Lesedauer: 12 Minuten

Foto von Crew auf Unsplash

Ein Beitrag von Isabella Hesse

Unsichtbar, doch nicht zu übersehen

„After he passed away… in the apartment there where he lived, they saw that there was- there were things from somebody else that had been living there. Another man of smaller clothing size, it was pretty clear that there was somebody who – imagine! – was not able to get into the apartment, was quietly out of the way. It’s the way people lived in those days and in that generation.“

Es ist ein kurioses Stück Familiengeschichte, an dem mich meine Gesprächspartnerin teilhaben lässt. Als ich sie bitte, mir etwas über Erbschaftsfälle in unserer Verwandtschaft zu erzählen, vor allem unkonventionelle Fälle, erbe ich als Zuhörerin die Fragen, die sich die Sprecherin 1989 nicht beantworten konnten. Wer ist der Mann, dessen Habseligkeiten in der Wohnung eines verstorbenen Angehörigen gefunden wurden? Noch mehr interessiert mich eine andere Frage – wie kam es, dass er „quietly out of the way“ war? Dass nur seine Anzüge im Schrank, seine Schuhe im Flur übrig blieben?

Der verstorbene Mann blickt im Wohnzimmer aus einem großen schwarz-weißen Foto auf mich herab. Seine Nichte erzählt mir von Scham. Von einem inneren Widerspruch, über den die Familie Bescheid wusste, aber über den nicht gesprochen wurde. Sie beschreibt ihre Mutter und deren Bruder als streng katholisch und sehr traditionell denkend. „That’s a real SAD thing about both of them. I mean my uncle was such a strict catholic. And- and must have been so conflicted his whole life, so, so upset and, you know it was a REAL bad thing for him.“ Nach seinem plötzlichen Tod machten sich die Verwandten daran seine Wohnung auszuräumen und fanden die Lebenszeichen von zwei Männern. Sie waren ratlos, es gelang ihnen nicht den unsichtbaren Mann zu identifizieren, ihn als zurückgelassenen trauernden Partner anzuerkennen. Tragisch, sagt meine Gesprächspartnerin dazu. Merkwürdig und unnötig. Mich fragt sie: „How would you feel?“

Ich stelle mir vor, unversehens würde ich ohne meinen Geliebten dastehen, ohne unser Zuhause, ohne die Besitztümer, die mich im Alltag umgaben. Alle materiellen Verbindungen zu unserem gemeinsamen Leben gekappt. Seine Familie ist da, und packt seine Korrespondenz in Kisten. Warum kann ich ihnen nicht entgegentreten? Habe ich Angst, dass sie mich verurteilen? Habe ich mich zurückgezogen, um nichts sehen zu müssen, was mich an meinen Verlust erinnert? Befürchte ich ähnliche Diskriminierung zu erfahren wie mein Partner, der seinen Arbeitsplatz verlassen musste als seine Homosexualität entdeckt wurde, der sich um seine Rente zu beziehen als „psychisch krank“ melden lassen musste? Vielleicht war ich ganz vorsichtig, keine Spuren zu hinterlassen anhand derer man mich identifizieren könnte. Wenn ich wüsste, dass die Familie Fotoalben durchblättert, nach einem Hinweis sucht, wer ich sein könnte, ehe sie meine Kleidung spenden, meine persönlichen Gegenstände wegwerfen oder in ihrer Garage verstauen, wenn ich das wüsste – würde ich mich zeigen?

So spielt meine Fantasie. Wie es damals wirklich war, kann ich nicht wissen. Die Geschichte macht mich betroffen und sie fasziniert mich, die Idee eines Unbekannten, der zugleich unsichtbar und unübersehbar ist. Die Erzählung folgt zunächst bekannten Mustern: Ein älterer Mann stirbt unerwartet und kinderlos, also wird sein Hab und Gut an die nächste Blutsverwandte weitervermacht, seine Schwester. Doch das Narrativ stolpert an der Stelle wo Familienverhältnisse auf einmal nicht mehr eindeutig sind. Was Familie für die Männer bedeutete, die sich diese Wohnung teilten, dazu kann ich sie leider nicht mehr befragen. Aber ich kann ihre Geschichte zum Anlass nehmen, um über ein Konzept nachzudenken, das ganz selbstverständlich beim Thema Hinterlassen zentral wird: Die „Familie“.

Was heißt schon legitim?

Das österreichische Erbrecht sieht vor, dass enge Verwandte von vornherein Pflichtteile eines Erbes erhalten. In der Erbfolge stehen Kinder an erster Stelle, dann (Ehe)Partner*innen, Eltern, Großeltern. Selbst wenn Erblasser*innen Testamente schreiben, um die Verteilung ihres Nachlasses zu verändern, können Pflichtteile nur bei schwerwiegenden Gründen verwehrt werden. Erbschaft ist also ein Bereich, in dem Beziehungen mit unterschiedlichem Wert versehen werden, in dem der Wert durch Gesetze formalisiert wird und materielle Vor- und Nachteile mit sich zieht.

Ich habe das Bild eines Spielfeldes vor Augen, auf dem sich verschiedene Parteien begegnen, in diversen bunten Uniformen. Die beteiligten Mannschaften und ihre Perspektiven geraten nicht bei jeder Hinterlassenschaft in einen Wettkampf, aber sie können nicht aneinander vorbeiziehen, ohne sich miteinander zu beschäftigen. Wenn eine Person stirbt, sich ihre Position auf dem Spielfeld wandelt, müssen sich die Beziehungen und Netzwerke, in die sie eingespannt war, um diese herum neu arrangieren. Voraussetzung, um das Feld zu betreten, um eigene Sichtweisen und Ansprüche geltend zu machen ist, dass eine Partei von den anderen anerkannt wird.

„Quietly out of the way. It’s the way people lived in those days and in that generation.“  

Die Erklärung meiner Gesprächspartnerin klingt so resigniert. Menschen wie ihr Onkel und sein unbekannter Partner hätten zu dieser Zeit einfach akzeptiert, dass ihren Beziehungen etwas Illegitimes anhafte, dass sie selbstverständlich nicht offen gezeigt werden dürften. Es gab Trauer, aber keine Aufregung, keinen Skandal. Doch eine Liebesbeziehung in die Grenzen des Heimes zurückzuverbannen, sichtbar nur in einem Kleiderschrank, kommt wir wie ein Gewaltakt vor. Ich denke an den eindrücklichen Satz des Rechtswissenschaftlers Daniel Monk: „[T]he findings here throw light on a very particular experience where the violence of law itself played a critical role in the construction of ,inheritance families‘.“

Ich muss ständig an das Wort „quiet“ denken, und an die erdrückende Art von Stille, die man vielleicht von halbdunklen Kirchen oder lange ungenutzten Dachböden kennt. Orte, an denen sich Menschen aufhalten, doch nicht leben.

Heteronormative Konventionen bedingen, dass gleichgeschlechtliche Liebe in die versteckten Nischen des Privatlebens verlegt wird, um der Verfolgung zu entgehen. Bis heute sind Beziehungen, die nicht heteronormativen Standards entsprechen, mit einem Stigma belastet. Sie gelten als widernatürlich, mindestens als Bedrohung der traditionellen Vorstellungen von Familie – obwohl es auch unter heterosexuellen Menschen wohl kaum die EINE traditionelle Art gibt Familie zu leben.

Zusammen mit vielen weiteren Autor*innen hat Ethnologin Michi Knecht beschrieben wie heterosexuelle Reproduktion als quasi natürlicher Kern von Verwandtschaftsbanden dargestellt wird und jede andere Art von Bindung als ,fiktiv‘ oder als ,nicht wirkliche‘ Verwandtschaft. Im Falle von Erbschaftsauseinandersetzungen ist aber direkte Nachkommenschaft nicht mehr das einzige legitimierende Kriterium. Eine Eingetragene Partnerschaft können gleichgeschlechtliche Paare in Österreich seit 2010 eingehen, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare kam erst mit Beginn des Jahres 2019. Damit stehen ihnen im Todesfall von Ehepartner*in oder von dem*der eingetragenen Partner*in dieselben Rechte zu wie verschiedengeschlechtlichen Paaren. Die gesetzliche Legitimierung, die von Aktivist*innen, Jurist*innen und Politiker*innen erkämpft worden ist, kann sich über eine naturalisierende Privilegierung von heteronormativen Beziehungen hinwegsetzen. Doch Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht Toleranz im Alltag. Ein Rechtsanwalt beschreibt mir den gesetzlichen Diskriminierungsschutz für queere Menschen in Österreich als inkonsequent. In manchen Bereichen, etwa der Gleichstellung bei der Ehe, sei Österreich Spitzenreiter, in anderen Schlusslicht, denn im Alltag fehle ein umfassender Diskriminierungsschutz.

Also bleiben queere Beziehungen in gewissen Kontexten unsichtbar. Vielleicht wohnt man seit Jahren zusammen, kuschelt abends auf der Couch aber vermeidet es in der Fußgängerzone Hand in Hand zu laufen. Vielleicht kann man den Verlust des*der Partner*in nicht offen betrauern, oder muss erleben, dass die Trauer vom Umfeld nicht anerkannt wird. Trauerforscher Kenneth Doka prägte den Begriff „disenfranchised grief“ für derartige Fälle. Die Worte meiner Gesprächspartnerin „tragisch“ und „unnötig“ fallen mir wieder ein. „Yeah I, I always tried to make comments. Leading, opening comments, to my uncle of feeling like, you know, acceptance.“ Aber er hat beschlossen nicht mit ihr über seine Orientierung zu sprechen. „Must have been something that he decided he needed to do, this giant ,Mauer’, a big thick wall of denial.“ Sichtbarkeit erscheint so nicht (nur) als Chance, sondern als Gefahr.

Es irritiert mich ein wenig, dass ich nur Fragmentarisches über eine Lebensgeschichte erfahre. Allerdings erscheint mir dieses Fragmentarische charakteristisch für den Versuch, mehr über queere Geschichte zu erfahren. Während meiner Recherche hatte ich mehrmals das Gefühl gegen eine sprichwörtliche Mauer zu stoßen. Als tabuisierte, pathologisierte, mitunter kriminalisierte Lebensform ist über Queerness wenig überliefert. Das vorhandene Material ist oft durch Wertungen gefärbt. Im Zentrum für queere Geschichte QWIEN, wo meine Recherche begann, lagern beispielsweise Strafakten von Männern, die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt wurden. Historische Testamente können in der Regel nur unscharfe Hinweise auf queere Beziehungen liefern, da diese oft nicht klar benannt werden konnten. Wenn ich aus der Gegenwart auf Fragmente vergangener Beziehungen blicke, ist es manchmal naheliegend sie als queer zu interpretieren, die Lücken mit dem Wissen zu füllen, dass etliche Menschen ihre Queerness im Verborgenen lebten. Oft gibt es aber mehr Lücken als Fragmente.

Vor dem Gesetz

Vertreter des QWIEN machten mich auf den schwierigen Zugang zum Recht und dessen Praxis aufmerksam – in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Ein Testament zu erstellen ist nicht selbstverständlich, denn selbst wenn die Rechtsgrundlage da ist, um eine*n Partner*in abzusichern, erfordert es Wissen über das Gesetz und finanzielle Mittel, um die eigenen Absichten so zu formalisieren, dass das Recht sie anerkennt. Ohne diese Formalisierung sind Lebenspartner*innen rechtlich Fremde. An dieser Stelle wäre es einfach, eine Grenze zwischen privilegierter Heterosexualität und stigmatisierter Queerness zu ziehen. Aber in der Realität handelt es sich natürlich nicht um zwei homogene, sauber abgegrenzte Mannschaften. Die soziale Schicht ist etwa auch ein Faktor, der mitentscheidet, wie Erbe verwaltet wird. Im Sinne des Gesetzes gibt es formalisierte und nicht formalisierte Verwandtschaftsbeziehungen. Es gibt Gründe sich gegen ein Testament zu entscheiden, die nichts mit Geschlecht und Sexualität zu tun haben – weil man sich nicht mit den rechtlichen Anforderung auskennt, weil man nie die Zeit dazu gefunden hat, weil man gar nicht so viel Vermögen hat, dass es sich lohnen würde, weil man keinen Notar bezahlen wollte oder konnte.

Wenn ich zu meiner Vorstellung eines Spielfeldes zurückkehre, stelle ich mir das Gesetz als einen unparteiischen Akteur vor, der versucht Klarheit in einem überkomplexen Alltag zu schaffen. Eine gesichtslose, androgyne Gestalt in schwarzer Robe, die mit erhobener Stimme Urteile über menschliche Schicksale verkündet. Die blind ist für menschliche Gefühle und nur in den Kategorien denkt, die man ihr einprogrammiert hat: Ehe ja/nein, Testament ja/nein, Pflichtteilsberechtigt ja/nein. Das Gesetz ist keine unabhängige Instanz, ermahne ich meine Fantasie, sondern ein menschengemachtes Regelwerk, eines das sich ständig ändert.

Die rechtliche Definition von erbberechtigten Verwandten basiert auf einer anderen internen Logik, als die der gelebten Familie. Der Rechtsanwalt, mit dem ich sprach, betonte die Wichtigkeit eines Testaments oder einer gesetzlich formalisierten Beziehung für Paare egal welchen Geschlechts, um Unsicherheiten und Auseinandersetzungen über die Verteilung des Erbes vorzubeugen. Es besteht ein Konfliktpotenzial, zumindest eine Diskrepanz, zwischen dem gesetzlichen Konzept von Verwandtschaftsbeziehungen und der gelebten Familie im Alltag. Blood is thicker than water, but the ink in a lawyer’s pen is thicker than both?

Tun statt Sein

Das Konzept Wahlfamilie strahlt, so spekuliere ich, für viele queere Menschen einen großen Reiz aus, weil es eine Alternative zur heteronormativen Familie bietet, die medial und politisch als Norm dargestellt wird; insbesondere in früheren Generationen, als queere Menschen häufiger von ihrer genetischen Familie abgelehnt, pathologisiert oder totgeschwiegen wurden. Ist es da nicht eine unglaublich entlastende Vorstellung, dass man nicht von der Herkunftsfamilie abhängig ist, um nicht allein zu sein? Also, wie bekomme ich so eine Wahlfamilie, gibt es da einen Antrag, den ich stellen kann? Schalte ich eine Anzeige in der Zeitung? Kann das jemand mal präzisieren? Judith Butler tut uns den Gefallen:

“If we understand kinship as a set of practices that institutes relationships of various kinds which negotiate the reproduction of life and the demands of death, then kinship practices will be those that emerge to address fundamental forms of human dependency, which may include birth, child-rearing, relations of emotional dependency and support, generational ties, illness, dying, and death (to name a few).”

Das Konzept doing family bietet Flexibilität, lässt Raum für eine Vielfalt an Personenkonstellationen, die als Familie aufgefasst werden können. Diese Flexibilität ist nicht nur für queere Menschen relevant, denn in der Praxis bleibt keine Familie statisch. Kinder werden geboren, Familienmitglieder sterben, Migration dehnt manche Familienbande, Streitereien kappen andere. Der Idealtypus der heteronormativen Familie sieht in der Umsetzung unweigerlich komplizierter, unschärfer, unordentlicher aus. Wenn wir Familie also nicht als Sein denken, sondern als Tun, entkoppeln wir Familie von Heteronormativität und ,Natürlichkeit‘, schließen aber heterosexuelle Reproduktion und heteronormative Familien ebenso wie queere Familien ein. Familie tun könnte heißen sich zu unterstützen, zu beschützen, zu umsorgen, anzuspornen, zusammen abhängen und voneinander abzuhängen, zu beschenken, die Kleider nebeneinander in den Schrank zu hängen.

Kritisieren kann man an dem Konzept doing family, dass es den Familienbegriff erweitert bis er seine Bedeutsamkeit verliert. Wenn Familie nicht durch eine konventionelle Rollenverteilung (Vater-Mutter-Kind) erkennbar ist, wodurch dann? Soziologin Janet Finch ergänzt doing family um das Konzept displaying family: „Display is the process by which individuals, and groups of individuals, convey to each other and to relevant audiences that certain of their actions do constitute ‘doing family things’ and thereby confirm that these relationships are ‘family’ relationships.“

Gerade weil Familien sich so sehr voneinander unterscheiden können und sich auch im Laufe der Zeit wandeln, ist es laut Finch notwendig innerhalb der Familie und gegenüber der Außenwelt zu kommunizieren, dass eine soziale Beziehung die spezifische Qualität der Familienbeziehung hat. Gemeinsam Essen zu gehen, Feste zu feiern, Geschenke auszutauschen, Erziehungs- oder Pflegeaufgaben zu übernehmen wären mögliche Arten des family display. Natürlich auch die Sprache, die man verwendet – etwa ein Bild auf social media mit der besten Freundin zu posten und sie als Schwester zu bezeichnen, oder eine ältere Mentorin als Großmutter. Ein etabliertes Beispiel für doing family sind Taufpat*innen, die in der Taufzeremonie mittels display zu Verwandten des Kindes werden. Eine andere Gelegenheit für family display bietet die letzte Entwicklung, die ein Individuum durchmacht – der Tod.

Mit der Verteilung des eigenen Erbes können Personen posthum mit und über Familie kommunizieren. Zwar wird vieles vom gesetzlichen Rahmen vorgegeben, doch können über ein Testament Wertgegenstände bestimmten Personen zugeordnet werden, können Freunde oder Organisationen, die einem am Herzen liegen, in den Rang der Erbschaftsfamilie geholt werden. Durch Interviews mit Rechtsanwälten, die Testamente von queeren Personen und Paaren verwalteten, näherte sich Monk der Bildung von „inheritance families of choice“ an: „Focusing on funeral rites, partners, ex-lovers, friendships, children and godchildren and birth families, the findings reveal how gay men and lesbians have used wills to communicate kinship practices in ways that both converge with and differ from conventional testamentary practices.“ Monk berichtet etwa von AIDS-kranken Männern, die für ihre Begräbnisse große Feiern mit all ihren queeren Freund*innen planten. Testamente gelten in erster Linie als Mittel um Vermögen zu verteilen, aber diese Männer nutzten sie, um mitzuentscheiden auf welche Weise sie aus der Welt schieden, wie man sich später mal an sie erinnern würde.

In einem Erbe genannt zu werden – oder nicht – wird mit Wertschätzung zusammengedacht. Als würde ein Testament die Beziehungen des Verstorbenen spiegeln. Mich erinnert das an Aschenputtel, oder das Mädchen mit den Sterntalern. Wer im Leben gut zu der verstorbenen Person war, wird nach deren Tode reich belohnt. Funktionieren Erbschaftsfamilien nach einem solchen quid pro quo?  

Sue Westwood, eine Gerontologin und Rechtssoziologin, schildert Hinterlassenschaftspraktiken mit ganz unterschiedlichen Motivationen. Ein schwuler Mann vererbt an seine männlichen Freunde, ordnet die Beträge danach, wer das Geld am nötigsten braucht, und hinterlässt seiner Stiefmutter das Geld, das er ohne sie für die Pflege seines Vaters hätte ausgeben müssen. Er entscheidet selbst, wer zu seiner inheritance family gehört, aber die finanziellen Abwägungen zeigen, dass Wahlfamilie nicht zwingend eine Wahl allein auf Basis von Zuneigung und frei von äußeren Einflüssen bedeutet. Inheritance families spiegeln nicht unbedingt gelebte Familienverhältnisse oder emotionale Nähe wider – das erkennen wir schon an der Geschichte des unbekannten Mitbewohners, mit der ich begonnen habe.

Hinterlassen und Weitergeben erweisen sich als Handeln, in dem es möglich ist, Familienbeziehungen jenseits von heteronormativen Familienkonzepten zu formalisieren, mit Wert zu versehen, zur Schau zu stellen. Aber diese Möglichkeit bedeutet nicht, dass queere Menschen sich ganz von gesetzlichen Rahmenbedingungen oder gesellschaftlichen Normen lösen können, die weiterhin sehr wirkmächtig sind. Und auch in queeren Familienkonstellationen oder Wahlfamilien kann es Verpflichtungen und Zwänge geben.

Ich wünschte noch immer, ich könnte mehr über das geheimnisvolle Paar erfahren, das eine leere Wohnung und viele Fragen zurückließ. Über sie und die anderen queeren Familien, die die Geschichte bevölkert haben, deren individuelle Geschichten nirgends dokumentiert sind, oder nur in Fragmenten. Um nachvollziehen zu können, welches Flechtwerk an interpersonalen Beziehungen eine Person nach ihrem Tod hinterlässt, scheint es mir notwendig alle Parteien auf dem Spielfeld mit ihren unterschiedlichen Positionen anzuerkennen. Erbschaftsfamilie, Erbgutfamilie und erlebte Familie können alle unterschiedlich zusammengesetzt sein.

Herzlichen Dank an das QWIEN für die Unterstützung bei meiner Recherche und an meine Interviewpartner*innen!

Isabella Hesse absolvierte ein B.A. Studium der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2020 studiert sie im M.A.-Studiengang Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Gender- und Queer Studies sowie Populärkulturforschung.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Nachweise

Auszüge aus Interview mit einem Rechtsanwalt am 10.12.2020, geführt von Isabella Hesse

Auszüge aus Interview mit einer Angehörigen am 03.01.2021, geführt von Isabella Hesse

Butler, Judith: Is Kinship Always Already Heterosexual? In: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 13 (2002), 1, 14-43.

Doka, Kenneth: Disenfranchised Grief: Recognising Hidden Sorrow. Lexington 1989.

Finch, Janet: Displaying Families. In: Sociology. Vol. 41 (2007), I, 65-81.

Knecht, Michi: Die Politik der Verwandtschaft neu denken. Perspektiven der Kultur- und Sozialanthropologie. In: Bulletin Texte 26  (2003), 52-70.

Monk, Daniel: ‘Inheritance Families of Choice’? Lawyers‘ Reflections on Gay and Lesbian Wills. In: Journal of Law and Society 43(2016), 2,167-194.

Westwood, Sue: Complicating Kinship and Inheritance: Older Lesbians’ and Gay Men’s Will-Writing in England. In: Feminist Legal Studies 23(2015), 2,181–197.