Der Donaukanal im Sommer

Geschätzte Lesedauer: 8 Minuten

Ethnografische Skizzen

Foto von Dr. Christian Elster 

Der Wiener Donaukanal ist besonders im Sommer ein beliebter und belebter Ort in der Stadt. Studierende aus dem Kurs Ethnografisches Schreiben begaben sich zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten auf Spurensuche – nach Nutzungs- und Aneignungspraktiken, nach Institutionen des Freizeit- und Nachtlebens, nach Musik und nach Müll. Die Redaktion hat zwei Texte aus den Forschungstagebüchern ausgewählt. Der erste Beitrag ist von Caroline Pilatowicz mit dem Titel Du bist, was du hörst? Beobachtungen der musikalischen Soundscape am Donaukanal. Sie beschreibt einen Soundwalk an drei Beobachtungen. Als Ergänzung und auch um eine andere Seite eines Soundwalks darzustellen, hat die Redaktion Max Goltz’s Musik und urbane Imagination: My donaukanal music story ausgewählt. In diesem Beitrag wird der Donaukanal mit Kopfhörern in Verbindung mit dem eigenen „Soundtrack“ wahrgenommen.

Du bist, was du hörst? Beobachtungen der musikalischen Soundscape am Donaukanal.

Ein Beitrag von Caroline Pilatowicz

Der Donaukanal ist ein Ort der Zusammenkunft im Herzen der Stadt Wien. Bekanntermaßen versammeln sich dort verschiedene soziale Milieus aus unterschiedlichsten Beweggründen. Das lässt sich auch anhand der vielfältigen Musik, die dort zu hören ist, erkennen. Mit diesem Erkenntnisstand unternahm ich eine teilnehmende Beobachtung, in der ich mich nicht nur von meinen Augen, sondern auch von meinen Ohren leiten ließ. Der Donaukanal kann in diesem Kontext als Soundscape, auch Klanglandschaft genannt, betrachtet werden. Das Konzept der Soundscape geht auf den kanadischen Komponisten und Begründer der Sound Studies Raymond Murray Schafer zurück, dem es um das Zusammenspiel von Alltagsklängen ging (vgl. Schafer 1993). Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf die musikalische Soundcape des Donaukanals und erkunde exemplarisch, wo welche Musik gehört und wie mit ihr interagiert wird.
Ein Aspekt interessiert mich dabei im Besonderen: Die Verknüpfung von kulturellem Habitus und Musik. Bereits Pierre Bourdieu hat gezeigt, wie stark Musikgeschmack und Positionierungen im sozialen Raum in Verbindung stehen (vgl. Bourdieu 1982). Auch wenn solche strukturalistischen Zuordnungen sich gegenwärtig uneindeutiger präsentieren, bleiben diese Zusammenhänge relevant. Der Musikproduzent Wilbert Hirsch schrieb in Zusammenarbeit mit dem Musikpsychologen Günther Rötter von diesem Phänomen. Sie schreiben, dass „Personen unbewusst in der äußeren klanglichen Umgebung nach persönlich passenden Mustern suchen und sich diesen anpassen“ (Hirsch 2017: 207). Ich begebe mich in drei kleinen Skizzen auf eine Spurensuche nach diesen Zusammenhängen.
Am Donaukanal sind zwischen Schottenring und Schwedenplatz in jedem der Lokale, die ich besuchte, große Lautsprecher aufgestellt. Während meiner Beobachtung tönte aus diesen Musik mit auffällig ausgeprägtem Bass und schnellen Beats, die schon aus der Ferne zu hören sind. In den Lokalen selbst ist die Preislatte im oberen Bereich der Nachtgastronomie angesiedelt, weshalb nicht jede*r es sich leisten kann dort einen Platz einzunehmen. Zudem sind auch die Konsumgüter ein nennenswerter Faktor, da die Karte zu einem Großteil ausgefallene Cocktails anbietet und beispielsweise nur eine Sorte Bier aufweist. Dieser Umstand hat eine gewisse Art der „Exklusivität“ zur Folge, die ein eher wohlhabendes Publikum Wiens besonders anzusprechen scheint. Bei meiner Beobachtung in einem dieser Lokale fiel mir auf, wie schwer es dort ist, sich bei der lauten Musik mit intensiven Beats und Bässen zu unterhalten. Es gab jedoch auch keine Möglichkeit im Lokal zu tanzen. Ich spekuliere, dass es interessant wäre, nochmals das Lokal zu besuchen, um die Gäste zu fragen, weshalb sie dieses Lokal für ihren Abend gewählt haben. Nur wenige Meter weiter in der Umgebung des Urban Gardenings, einer sogenannten Konsumfreien Zone am Donaukanal, hörte ich nach wie vor den Bass der Musik des angrenzenden Lokals, doch rings um das grüne Plätzchen ging es sehr viel ruhiger zu. Dort saßen einige Menschen am Boden, manche ließen direkt am Kanal die Beine über die Kaimauer baumeln, andere lehnten an Zäunen und Mauern, wieder andere erwischten eine der begehrten Parkbänke. Die meisten trugen legere Freizeitkleidung. Der Großteil von ihnen unterhielt sich relativ leise miteinander und die eine oder andere Person hielt ein Dosenbier in der Hand. Eine kleine Gruppe, bestehend aus drei Leuten, hörte auch Musik über eine Bluetoothbox. Doch die Musik war kaum zu hören und diente wohl eher als Hintergrundmusik. Ich gewann den Eindruck, dass sich die meisten an dieser Stelle versammelt haben, um sich mit Freund*innen zu treffen und sich gemütlich zu unterhalten.
Doch nicht immer stellte die Musik ein Hintergrundgeräusch einer Unterhaltung dar. Fernab der meisten Lokale gibt es einen kleinen Platz mit fünf Parkbänken. Dort konnte ich eine Gruppe Jugendlicher beobachten, die sich die Mühe gemacht haben, eine Musikbox, so groß wie ein Handgepäckskoffer, mittels einer Sackkarre an den Donaukanal mitzunehmen. Mit etwas Abstand zur Box hörten sie dort Techno und tanzten zum Beat. Allesamt trugen Kleidung im Style der 90er Jahre bzw. im Vintage-Chic. Sie unterhielten sich kaum. Die wenigen Worte, die sie wechselten, betrafen die Musik: „Warte auf den Drop, so geil!“. Das gemeinsame Klangerlebnis am öffentlichen Ort des Donaukanals schien der Grund ihrer Zusammenkunft zu sein.
Anhand dieser drei kleinen Beobachtungen zeigt sich, wie vielfältig sich die musikalische Klanglandschaft am Donaukanal präsentiert. Aufgrund der hohen Diversität der Besucher*innen des Kanals, entstehen an den Orten, an denen sie sich am wohlsten fühlen kleine Musikinseln, die in Koexistenz bestehen und teils ineinander verschwimmen. Ein langer Spaziergang am Donaukanal ermöglicht es so, durch verschiedene (Sub)kulturen zu tauchen und sie nicht nur visuell, sondern auch auditiv wahrzunehmen.

Musik und urbane Imagination: My Donaukanal music story

Ein Beitrag von Max Goltz

Bis eben war das Wetter schön, jetzt regnet es und ich bin mit ein paar anderen Menschen, die genauso wenig wie ich auf den Wetterumschwung vorbereitet waren, unter einer Brücke am Donaukanal gefangen. Ich höre Musik, habe Kopfhörer im Ohr. Ich bin froh die anderen Menschen nicht hören zu müssen. Meine Kopfhörer ermöglichen mir sie auszublenden, geben mir Raum zum Denken. Wenn ich Musik höre schweife ich oft ab, verliere mich in Gedanken. Ich habe so schon ganze Hausarbeiten im Kopf vorgeschrieben. Der Donaukanal ist super um abzuschweifen, ich kann so weit blicken. Mein Blick verliert sich auf dem Wasser, Stöcke treiben an mir vorbei, der Regen sorgt dafür, dass das Wasser des Kanals aufgewühlt wird, die Oberfläche kräuselt sich. Die Musik in meinen Ohren ist wie der Soundtrack hierzu, der die Szenerie wie einen Film erscheinen lässt.
Der Medienwissenschaftler Michael Bull (2006) hat in seinem Text Filmic Cities. The aesthetic experience of the personal-stereo user untersucht, welche Rolle personalisierter Musikkonsum über Kopfhörer für die Wahrnehmung von Städten spielt. Er zeigt an fünf Beispielen auf Basis von Interviews auf, wie sich die Wahrnehmung der Stadt durch Musik verändern kann, wie sie urbane Räume auf besondere Weise ästhetisiert. Die Musikhörenden, mit denen er sprach, verorten sich wie in einem Film, in dem das geographisch sichtbare Umfeld transformiert und zum Hintergrund, zur Kulisse von Alltagshandlungen wird, die durch das Musikhören im Wortsinn rhythmisiert werden.
Als ich am Donaukanal ankam, war ich genervt. Ich hasse den Straßenverkehr, bin mit dem Rad hier hergefahren. Mit Musik in den Ohren wird das für mich erträglich. Wenn mich der Stress überkommt setzt ein routinierter Handlungsablauf ein: Kurz absteigen, Kopfhörer rein, ein Album aussuchen, gegensteuern. Heute Chinaski, No Pop No Fun: positive Musik, ein schneller Beat, cheesy und poppig aber auch tanzbar. Ich kann gut dazu Rad fahren – und schnell. Ich höre einen immer stärker anschwellenden elektronischen Sound, trete fester in die Pedale, schlängle mich zwischen den Menschen am Donaukanal hindurch, spüre die Geschwindigkeit. Jetzt bin ich wie in einem Tunnel, nehme alles um mich herum war aber kann es gleichzeitig ausblenden, von mir trennen. Ich fahre eine ganze Uferlänge entlang, ohne Ziel. Dann beginnt es zu regnen und ich pausiere unter der Brücke.
Vergangene Woche bin ich losgegangen, um die Nutzung von Bluetoothboxen am Donaukanal zu beobachten. Wie nutzen Menschen den öffentlichen Raum? Wie verwenden sie (laute) Musik um den Donaukanal anzueignen? Es war ein schöner Nachmittag, warm und sonnig, eigentlich ein toller Feierabend. Doch ich fand nicht wonach ich suchte, nicht eine Bluetoothbox. Bei genauem Hinsehen, war Musik an diesem Nachmittag am Donaukanal dennoch präsent, wenn auch meist nicht für mich hörbar. Mir fiel ein junger Mann auf, er stand allein an einer Wand: ein Sprayer, er schüttelte seine Dose, ich hörte es klackern. Er stand unter einer Brücke, neben ihm auf dem Boden ein Skateboard. Im Vorbeifahren sah ich weiße Kopfhörer in seinem Ohr.
Ein Stück weiter beobachtete ich einen Mann der Gitarre spielte, er saß auf einer Bank in einer Wiese und spielte ruhig vor sich hin. Eine Frau lag direkt neben ihm auf einer Picknickdecke, auch sie hatte ihre eigene Musik im Ohr. Etwas später bin ich auf der anderen Kanalseite an einem öffentlichen Trainingspark mit Klimmzugstangen und anderen Sportgeräten entlang. Hier prasseln viele Eindrücke auf mich ein.

Ich notierte: Muscle Beach. Zur Schau gestellte Männlichkeit. Verschwitzte, trainierte, muskelbepackte Körper. Fast alle ohne T-Shirt. Eine Frau, sonst nur Männer. Drei der Trainierenden ziehen an horizontalen Stangen ihre Körper hoch und runter. Fast alle hören Musik – für sich, mit Kopfhörern. Einer trägt sehr große, schwarze, die mit einem Bügel den Kopf umgreifen. Die meisten tragen kleine Bluetooth-Kopfhörer. In-Ear, Noise cancelling. Gleichzeitig maximale Zurschaustellung des eigenen Körpers und akustische Abkapslung. Oder wirkt die Musik im Moment des Sports als besonders verbindendes Element zwischen Mensch und Raum? Wird der Donaukanal mit der richtigen Musik zur Bühne der eigenen Sportshow?

Kopfhörer erscheinen in meinen fokussierten Beobachtungen als zentrales Element des Donaukanals, das schnell übersehen wird, auf die Nutzung und Aneignung des Raums aber großen Einfluss nehmen kann. Folgt man Michael Bull, so eröffnen die Kopfhörer Kanalnutzer*innen neue Möglichkeiten den städtischen Raum durch ihre Imagination, durch das was sie mit der persönlich ausgewählten Musik verbinden, zu verändern, ihn anders wahr zu nehmen. Die Auseinandersetzung mit Kopfhörern läuft allerdings Gefahr sich im Spekulativen zu verlieren. Die Motivationen und Empfindungen der Musikhörer*innen sind vermutlich vielschichtig, meinen beobachtenden Blicken bleiben sie verborgen. Vielleicht hören die Trainierenden der letzten Szene auch einen Podcast über Zeitgeschichte?
Unter der Brücke stehend habe ich mit dem Wetter auch die Musik geändert. Der Donaukanal war die ganze Zeit über eher Kulisse, das, was eigentlich passiert ist, hat sich in meinem Kopf abgespielt. Und gleichzeitig ist meine nahe Umwelt ganz zentral für mein Empfinden: Ich empfand zunächst Hass auf den Straßenverkehr, zwischendurch musste ich lachen, bekam gute Laune beim entlangradeln des Kanals und mit dem Regen und meinem Wechsel zu weniger lustiger, jetzt melancholischer Musik, habe ich mich zuletzt fast in ein Loch gestürzt. Ich glaube, ebenso wie die Musikauswahl meine Wahrnehmung der Stadt und meine Gefühlslage bestimmt, bestimmt die Stadt, die Stimmung um mich herum, auch meine Musikauswahl.
Meine Kopfhörer haben für mich persönlich mehrere Funktionen: Ich kann ausblenden, was ich gerade nicht ertrage. Ich kann mich in einen kleinen Rauschzustand versetzen – da muss ich an die Trainierenden denken. Sie lassen kurz darauf den verregneten Donaukanal zu einer melancholisch-schönen Nachdenklandschaft werden. All das kann ich steuern. Ich habe die Musik mehr oder weniger bewusst so eingesetzt. Meine Beobachtungen und meine autoethnografischen Beschreibungen machen deutlich, welche Wirkmacht Musik für Einzelne haben kann und wie sie die Raumwahrnehmung an einem Ort wie dem Donaukanal beeinflussen kann.


Literatur:

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main.
Bull, Michael (2006): Filmic Cities. The aesthetic experience of the personal-stereo user, in: Bennet, Andy/Shank, Barry/Toynbee, Jason (Hg.): The popular Music Studies Reader, London, New York: Routledge, 148-155.
Hirsch, Wilbert (2017): Musik im öffentlichen Raum, in: Rötter, Günther (Hg.): Handbuch Funktionale Musik, Wiesbaden: Springer, 203-230.
Schafer, Raymond Murray (1993): The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Rochester: Destiny Books.