„Die Familienärztin“, Auf den Spuren sich wandelnder Nutzungen

Geschätzte Lesedauer: 9 Minuten

Beitrag und Fotos von Florence Naly

Im Esszimmer meiner Großmutter steht ein dunkelbraunes Buffet. Ein rotes Buch fällt mir auf, zieht mich auf eigenwillige Art an. Ich nehme es in die Hand und sehe hinein: Die Familienärztin, ein Nachschlagewerk von Dr. med. Bella Müller, ein Ratgeberbuch aus dem Jahr 1926.

Ich schlage das Buch vorsichtig auf. Vorsichtig, da der Buchrücken bereits begonnen hat, sich zu lösen. Auf meine Nachfrage erklärt mir meine Großmutter, dass sie sich gegen eine Reparatur entschieden hat. Warum, schießt mir in den Kopf? Ich frage sie danach, doch eine Antwort bleibt aus, sie scheint es selbst nicht zu wissen.

Ich blättere weiter durch das Buch, stoße auf einen Kaffeefleck. „Was die Menschen essen“, heißt das Kapitel, in dem sich der Fleck befindet. Ich stelle mir vor, wie meine Großtante, die Schwester meiner Großmutter, welche viel Kaffee trank, das Kapitel am Küchentisch liest. Eine Tasse Kaffee in der Hand. Der Kaffee schwappt über, sie versucht ihn hektisch zu entfernen. Zu spät, der Fleck hat sich bereits unwiderruflich eingeprägt.

Kaffeefleck, Was die Menschen essen
Leibesübungen II

„Stimmt das Oma?“ „Ich weiß es nicht … Du könntest mit deiner Vermutung richtig liegen.“

Ich blättere weiter. „Leibesübungen II“. Lustiger Name! Irgendwo habe ich ihn bereits einmal gehört. Die Seite weist einen großen Knick auf. Als hätte jemand das Buch überstürzt geschlossen und in der Eile die Seite eingeklemmt. Mir fällt wieder ein, wieso mir der Begriff „Leibesübungen“ bekannt ist. Meine Mutter verwendet ihn, wenn sie über ihren Großvater berichtet, welcher morgens bei offenem Fenster seine „Leibesübungen“ vollzog. Hat er das Buch zu schnell geschlossen? Ist er womöglich für den Knick verantwortlich?

„Oma, was sagst du?“ „Womöglich, womöglich nicht…“

Der Ratgeber hat viele Seiten. Die Lektüre wird aufgrund der altertümlichen, ungewohnten Schriftart erschwert. Ich merke, wie mein Fokus sich auf die Bilder und Zeichnungen im Buch verändert. Den Text überfliege ich, die Bilder und Zeichnungen sehe ich mir an. Manche sind farbig, viele sind schwarz-weiß.

Ich betrachte gerade die Zeichnungen zu Hautausschlägen. Ganz schön gruselig. Plötzlich steht meine Mutter neben mir und schaut über meine Schulter hinweg auf die Bilder.

„Als Kind saß ich oft stundenlang am Esstisch und habe mir die Bilder angeschaut“ Warum möchte ich in Erfahrung bringen. „Weil es mich eine Zeit lang beschäftigte, weil ich die Bilder in Ruhe studieren konnte, weil das Buch mich aufklärte, weil …“ Sie zählt viele Punkte auf und auch in den kommenden Tagen und Wochen erwähnt sie den Ratgeber regelmäßig. Es wirkt fast, als wäre sie erleichtert, endlich mit jemandem darüber reden zu können. „Hast du das Buch alleine angeschaut oder saßen meine oder deine Großmutter manchmal dabei?“ „Nein, immer alleine. Sie hatten keine Muse. Beide mussten ihren Haushalt führen. Da blieb keine Zeit übrig, in einem Buch zu blättern. Die anderen hatten sowieso kein Interesse.“ „Warum haben wir nie gemeinsam in das Buch geschaut? Du hättest die Zeit doch gehabt?“ „Ja, aber mit euch hatten wir bereits andere Möglichkeiten. Ganz zu schweigen davon, dass ihr zu grob mit dem Buch umgegangen wärt. Dafür war es mir damals zu wertvoll .“

„Oma hast du als Kind das Buch ebenfalls angeschaut?“ „Nein, mein Vater hätte dies nicht zugelassen.“ War auch ihm das Buch zu wertvoll? Warum ein solches Verbot gegenüber seiner Tochter das Buch in die Hand zu nehmen?

Noch während ich darüber nachdenke, fällt mein Blick auf einen leeren Notizzettel im Buch. Jemand wollte offensichtlich eine Information aus dem Ratgeber markieren, aber wer? Ich schlage die Seite auf. Sofort stechen mir diverse Wörter ins Auge: Appetitlosigkeit, Asthma, Bandwurm, Blähungen … Bei genauerer Betrachtung erkenne ich Rezepte. Litt jemand an einer der soeben genannten Beschwerden?

Ich stehe nicht mehr im Esszimmer, sondern sitze in der Küche mit meiner Großmutter. „Oma hast du die Notiz ins Buch gelegt? Hast du den Ratgeber allgemein als solchen verwendet?“ „An eine Notiz erinnere ich mich nicht, aber ich habe das Buch hin und wieder in die Hand genommen und mithilfe des Inhaltsverzeichnisses nach Spezifischem gesucht.“

Wir blättern gemeinsam im Ratgeber, dabei beobachte ich sie genau. Was geht ihr durch den Kopf?

„Wie kam das Buch in deinen Besitz?“ „Nach dem Tod meines Vaters, da war die Mutter bereits verstorben, habe ich deren gesamten Besitz geerbt.“ „Ach so, das Buch war nur ein Gegenstand von vielen?“ „Genau. Meine Geschwister hatten kein Interesse. Zu der Zeit konnten sie Informationen bereits auf anderem Wege bekommen. Die Informationen in dem Buch waren damals bereits veraltet. Aber ich habe es dennoch hin und wieder in die Hand genommen. Um Dinge nachzuschlagen und auch, weil ich keine Zeit für lange Recherche hatte.“ „Ich verstehe immer noch nicht, wie es dazu gekommen ist, dass das Buch im Buffet steht?“ „Aus dekorativen Gründen. Ich finde, dass es dort einfach schön aussieht.“

Wir blättern gemeinsam weiter. Auf den letzten Seiten des Buches befinden sich anatomische, aufklappbare Modelle des menschlichen Körpers. Meine Großmutter schaut sie überrascht an. „Das sehe ich gerade zum ersten Mal.“ Auch ich bin überrascht, dass sie diese nicht kennt. Noch vor kurzem blätterte ich mit meiner Mutter in dem Buch. Diese lenkte meine Aufmerksamkeit auf genau diese Modelle. „Das war meine Lieblingsstelle im ganzen Buch“, erklärte sie mir. Meine Großmutter scheint sie zum ersten Mal zu sehen.

Wir schließen das Buch.

Anatomisch zerlegbare Modelle des menschlichen Körpers

Mir raucht der Kopf aufgrund der vielen Fragen, welche ich mir stelle. Das Nachschlagewerk hat mir zu keinen Antworten verholfen, im Gegenteil zu meinen anfänglichen Fragen sind neue hinzugekommen.

Auf viele dieser Fragen werde ich keine Antworten mehr erhalten, da die Personen, welche meine Fragen beantworten könnten, bereits verstorben sind. So bleibt die Frage, wie das Buch in den Familienbesitz kam, unbeantwortet. Auch die Nutzung des Buches in der Vergangenheit kann ich lediglich in Teilen rekonstruieren. Vieles bleibt unklar und kann letztlich nur aufgrund der Gebrauchsspuren von mir erahnt werden. Dass es sich bei dem Buch – wie oft bei bestimmten Ratgebern – um kein Hochzeitsgeschenk an die Urgroßeltern handelt, konnte ich recherchieren. Das Hochzeitsdatum und das Publikationsjahr des Buches stimmen nicht überein. Das Buch erschien zwei Jahre nach der Hochzeit.

Im Rahmen der geführten Gespräche rund um und zum Objekt musste ich feststellen, dass der Besitz eines solchen Buches, eines Ratgebers, nicht viel über den tatsächlichen Umgang aussagt. Eine wichtige Unterscheidung ist erforderlich, nämlich, dass „[e]in Buch […] zunächst einmal ein Buch [ist] und das gelebte Leben ist das gelebte Leben“ (Timo Heimerdinger). Ob eine Verbindung zwischen diesen zwei Ebenen besteht, kann allein durch das Vorhandensein des Buches nicht herausgefunden werden.

Das Buch, in seiner grundsätzlichen Funktion als Ratgeber, stellt, so der Europäische Ethnologie Timo Heimerdinger, hingegen ein „Vorbild und Abbild der gelebten Wirklichkeit“  und deren Wissensstand um den Zeitpunkt der Veröffentlichung dar. Ob Die Familienärztin mögliche Rückschlüsse auf die gelebte Wirklichkeit meiner Urgroßeltern zulässt, kann ich nicht einschätzen. Dennoch habe ich das Gefühl, dass durch das Nachschlagewerk eine Form von Wissenstransfer stattfindet: über die Vermittlung von medizinischem Wissen in den 1920er Jahren hinaus, zeigt sich am Umgang mit dem Buch ein veränderter Umgang in unserer Familie mit medizinischem Wissen Über die Jahre hat die Vermittlung von medizinischem Wissen innerhalb meiner Familie unterschiedliche Formen zwischen Tabuisierung und Selbstverständlichkeit angenommen. Das Verhalten des Urgroßvaters beziehungsweise dessen Entscheidung, die Nutzung des Buches zu verwehren, gleicht einer Tabuisierung. Im Gespräch mit meiner Mutter wiederum kristallisierte sich eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Buch und dem medizinischen Wissen heraus.

Das Buch wurde zudem wie andere Objekte auch zu einem „Instrument der Erinnerung“ (Nina Henning). Neben Erinnerungen des eigenen Gebrauchs, rief das Buch vor allem Erinnerungen an die ursprüngliche Besitzerin hervor. Das Objekt wird gewissermaßen zum „widerstandsfähigen Präsenzgeneratoren“, welcher durch den „inneren Blick belebt und personalisiert [wird], um die Person ins Gedächtnis rufen zu können, auf die es hindeutet.“ (Thomas Klie, Jakob Kühn).

So erwarb eine Großtante auf einem Berliner Flohmarkt das Buch „Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch der Gesundheitspflege und Heilkunde in der Familie mit besonderer Berücksichtigung der Frauen- und Kinderkrankheiten, Geburtshilfe und Kinderpflege“ von Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann aus dem Jahr 1911. Den Kauf begründete sie mit der Ähnlichkeit des Werkes mit dem Ratgeber Die Familienärztin und der damit verbundenen Erinnerung an die verstorbene Großmutter. Der Inhalt des Buches selbst wird erneut nebensächlich, der emotionale Wert tritt in den Vordergrund.

Der materielle Wert des Buches ist unbekannt, nicht jedoch der emotionale Reiz, welchen das Buch auf meine Großmutter, meine Mutter und seit einiger Zeit auf mich ausübt. Aus dem einstigen Alltagsgegenstand ist über die Jahre ein Ausstellungsobjekt im Buffet meiner Großmutter geworden. Für meine Mutter stellte das Buch früher eine Quelle des Wissens – der Aufklärung – dar. Heute erinnert sie das Buch vor allem an die verstorbene Großmutter sowie an die zahlreichen Nachmittage, an denen sie das Buch durchblätterte. Mit mir entwickelte sich Die Familienärztin zum Gesprächsgegenstand und Forschungsobjekt.

Diese Umdeutungen oder Verwandlungen geschahen unabhängig voneinander und oftmals unbeobachtet; der Status dieses Objekts war, so der Soziologe Thorsten Benkel, unsicher. Liegt es daran, wie wir an das Objekt herangeführt wurden? Meiner Großmutter wurde als Kind der Umgang verboten. Warum ihr dieser verwehrt wurde, stellt eine weitere Frage dar, welche unbeantwortet bleibt. Dennoch ist auffällig, dass meine Großmutter auch später den Ratgeber weniger als Buch nutzte, eher als ein Dekorationsstück. Dies steht im starken Kontrast zum Gebrauch meiner Mutter, welche sich bereits sehr früh mit dem Buch auseinandersetzte und dies auch erlaubt war. Neben den Erinnerungen an ihre Großmutter verbindet sie mit dem Buch sehr persönliche Erinnerungen im Zusammenhang mit dem Durchblättern der Seiten. Auch ich habe, wie meine Großmutter, als Kind keinen Gebrauch vom Buch gemacht und erst vor kurzem begonnen, mich damit auseinanderzusetzen.

Alle drei befinden wir uns in einem Netzwerk mit dem Buch als Aktant (Andrea Belliger, David Krieger). Dabei ist auffällig, dass diese scheinbar entkoppelt voneinander entstanden sind und auch weiterhin fortbestehen. So wirkt es zumindest bei erster Betrachtung, da meine Großmutter, meine Mutter und ich unabhängig voneinander eine besondere Beziehung zum Objekt entwickelt haben. Nichtsdestotrotz bedingen diese sich gegenseitig. Die Nutzung meiner Großmutter des Buches als Dekorationsobjekt ließ mich erst darauf aufmerksam werden. Und auch meine Nachfragen, um die Biografie des Objektes zu verstehen, verbindet auf einer neuen Ebene die einzelnen Familienmitglieder innerhalb des Netzwerkes. Dabei kommt dem Buch je nach dem Verständnis von Wissen und vom Objekt Buch ein neuer emotionaler Wert sowie eine Umdeutung seines Zwecks zu. Die Flexibilität des Objektes legitimiert dieses regelmäßig neu als „dauerhaftes Objekt“ (Nina Henning).

„Oma, was soll aus dem Buch irgendwann werden?“ „Darüber habe ich mir schon oft Gedanken gemacht. Das Buch werde ich einmal deiner Mutter geben. Sie hat als einzige Interesse daran. Ich weiß gar nicht, ob die anderen [ihre Söhne] das Buch je in der Hand hatten, geschweige denn Interesse daran haben. So wie ich sie kenne, würden sie das Buch verkaufen.“

Ich stelle das Buch zurück in das Buffet. Es hat mich in einen Teil der Familiengeschichte eintauchen lassen, dabei habe ich ganz vergessen, dass es sich genau genommen um ein Erbstück handelt. Eigentlich ist ein solches Buch – das durch viele Generationen und Hände geht – nie zu Ende geschrieben. Im Gegenteil, als Objekt unzählige Nutzer*innen (und das müssen nicht immer auch Leser*innen sein) fügen kontinuierlich neue Kapitel aus den unterschiedlichsten Perspektiven hinzu.

Florence Naly hat an der Bauhaus-Universität Weimar und der Université Lyon Lumière 2 „Europäische Medienkultur“ und „Information et Communication“ studiert. Im Frühling 2019 begann sie den Masterstudiengang „Europäische Ethnologie“ der Universität Wien. Neben dem Studium ist ihre große Leidenschaft der Film, weshalb sie bei diversen Filmfestivals in Österreich und Deutschland mitarbeitet.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Nachweise

Interview mit Karin N. am 03.01.2021, durchgeführt von Florence Naly

Interview mit Ingeborg E. am 07.01.2021, durchgeführt von Florence Naly

Belliger, Andrea, Krieger, David: Netzwerke von Dingen. In: Samida, Stefanie, Eggert, Manfred K. H., Hahn, Hans Pter (Hg.): Handbuch materielle Kultur.: Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen,. Stuttgart 2014, 89- 96.

Benkel, Thorsten: Der unsichere Status der Dinge. In: Ders. (Hg.): Die Dinge, die bleiben. Zum Kontinuum von Sozialität und Materialität, Bielefeld 2020, 71–86.

Heimerdinger, Timo: Wem nützen Ratgeber? Zur alltagskulturellen Dimension einer populären Buchgattung In: Oels, David (Hg.): Ratgeber, Hannover 2012,37-48.

Henning, Nina:  Objektbiographie. In: Samida, Stefanie, Eggert, Manfred K. H., Hahn, Hans Pter (Hg.): S., 2014. Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, 234 -237.

Klie, Thomas, Kühn, Jakob: Die Dinge, der Trost und die Erinnerung. In:  Thorsten Benkel (Hg.): Die Dinge, die bleiben. Zum Kontinuum von Sozialität und Materialität, Bielefeld 2020, 7–16.