Do-it-Yourself – Die schönsten Ideen zum ethnografischen Forschen

Geschätzte Lesedauer: 14 Minuten

Beitrag und Fotos von Elisabeth Grammerstätter

Hallo ihr lieben Ethnografie-Enthusiast*innen!

Willkommen zu unserem heutigen Tutorial! Unser Thema diesmal ist der Mediengebrauch und wie ihr diesen ganz simpel von zu Hause aus beforschen könnt! Habt ihr euch schon immer gefragt, wie, wo und warum Menschen Tutorials schauen? Wollt ihr wissen, welche Gewohnheiten und Interaktionen Menschen mit Videoanleitungen pflegen? Ihr interessiert euch dafür, welche Tutorials ausgewählt werden und was an ihnen für die Auswählenden ansprechend war?

Wir werden hier ein paar Varianten des Forschens für euch vorstellen, die ihr ganz einfach ohne großen Aufwand ausprobieren könnt. Alles was ihr dafür braucht, findet ihr in eurem alltäglichen Unimaterial und eurem sozialen Umfeld.

Ich habe noch eine kurze Einleitung zu Ethnografie für euch, wenn ihr schon alles darüber wisst, könnt ihr den Teil überspringen und direkt bei Seite 2/Zeile 9 weitermachen.

Last uns loslegen! Ich freu mich!

Ethnografisches Forschen Basics

„Medienpraktiken zu erforschen, bedeutet herauszufinden, was Menschen mit Medien tun und was Medien mit Menschen machen“ (Dang-Anh et al 2017, 7)

Bei der Beforschung vom Gebrauch von Tutorials bewegen wir uns im Feld der Medienethnografie. Die Medien, deren Nutzung, Handhabe und auch Irritationspotential, die beim Anschauen eines Tutorials zum Einsatz kommen, genutzt und benutzt werden, sind vielfältig. Das Endgerät, auf dem ein Tutorial geschaut wird, ich gehe hier davon aus, dass es sich primär um Video-Tutorials handelt, ist nur eine von vielen Technologien und Apparaturen, die daran beteiligt sind.

„Die Ethnografie ist sich noch in einem anderen Aspekt ihrer Medialität bewusst: bei der Schrift. Von ersten Feldnotizen über ausführliche Beobachtungsprotokolle oder Tagebuchnotizen hin zum ethnografischen Bericht oder Essay: Ethnografie bedeutet im Wesentlichen, die Erfahrungen des Ethnografen im Feld in Worte und damit in die eigene Sprache (und Schrift) zu überführen“ (Ayaß 2016, 339)

Diese Multidimensionalität von Medien, wie auch unseres Mediengebrauchs, sollten wir auf jeden Fall bewusst halten, wenn wir digitale und moderne technische Medien beforschen. Insgesamt ist die Interdisziplinarität von ethnografischem Forschen immer mitzudenken. Wir können oftmals beobachten, wie verschiedene Mediengebräuche gleichzeitig auftreten und wie ‚alte‘ und ‚neue‘ Medien sich ergänzen oder zwischen ihnen hin und her gewechselt wird.

Ebenfalls zu bedenken ist die Dimension von Materialität beim Verwenden von Medien. Beim Gebrauch von Geräten ist immer ein Körper beteiligt, der sich bei allem was er tut in einer räumlichen und Zeitlichen Ebene bewegt. Diese Materialität von Körper, Raum und Medium ist genauso Teil des Forschungsinteresses wie die konkrete, ausführende Tätigkeit des Körpers am Gerät.

„Der zentrale und systematische Forschungsansatz der Anthropologie, die Ethnografie, ist als Methodologie zu verstehen, d. h. als ganzheitlicher Weg des Verstehens (O’Reilly in Genz, Tschoepe 2021, 225.) Ethnografische Vorgehensweisen lassen sich somit nicht auf einzelne methodische Werkzeuge reduzieren, sondern vereinen eine Vielzahl qualitativer methodischer Ansätze und können somit als multimodaler Methodenzugang für die Analyse sozialräumlicher Praktiken verstanden werden.“ (Genz, Tschoepe 2021, 226)

Wir hatten im Kurs „Medien, Diskurse und Repräsentationen: Abgeschaut“ die Möglichkeit, die verschiedensten Methoden des ethnografischen Forschens und unsere eigenen Varianten davon auszuprobieren. Unser Forschungsgegenstand war, wie bereits erwähnt, der Gebrauch von Tutorials. Die Wahl der einzelnen Arbeitsschritte und die Suche nach Forschungspartner*innen war uns selbst überlassen; fast alle Methoden wurden an sozial nahen Personen oder als autoethnografischer Versuch ausprobiert.

DIY #1 Medienbiografie(n)

Jeder Mensch hat seine persönliche Medienbiografie, die immer auch verbunden ist mit den technischen und finanziellen Möglichkeiten in den jeweiligen kulturellen und ökonomischen Rahmungen der Zeitgeschichte. Beeinflusst wird diese Medienbiografie durch vielerlei weitere Faktoren, wie etwa finanzielle, kulturelle und soziale Faktoren. Über die Medienbiografie lässt sich erschließen, mit welchen technischen Geräten eine Person vertraut ist, welche Vorlieben sie im Laufe seines Lebens entwickelt hat und auch welche Mediennostalgien sie pflegt.

Bei dieser wunderbaren und vielfältigen Forschungsmethode sind euch in der Vorgangsweise kaum Grenzen gesetzt. Hier eine Liste von Dingen, die grundsätzlich nützlich sein können, und die ich für mein Interview genutzt habe:

Smartphone

Papier und Stift

Laptop

Smartphone, Papier und Stift waren meine Werkzeuge während des Interviews. Ich habe das Gespräch mit der Diktierfunktion meines Smartphones aufgenommen und parallel dazu stichwortartig Notizen gemacht. Der Laptop ist in der Nachbereitung zum Einsatz gekommen. Ich habe mit ihm das Transkript verfasst und in einem zweiten Word-Dokument Überlegungen, Erkenntnisse und offene Fragen notiert.

Des Weiteren, und das ist wirklich wichtig, braucht ihr:

1 Person

Falls ihr keine Person findet, die sich zu ihrer Medienbiografie befragen lassen will, könnt ihr als ersten Versuch auch eine eigene erstellen. Autoethnografie ist ebenfalls eine anerkannte Möglichkeit zu forschen. Ihr habt aber viele Möglichkeiten, willige Teilnehmer*innen für euer DIY Forschungsprojekt zu finden. Gebt nicht nach den ersten Versuchen auf! Es lohnt sich die Suche zu intensivieren. Startet einen Aufruf über ein soziales Medium, fragt Studienkolleg*innen oder in eurem Freundes- und Bekanntenkreis, auch die eigene Familie kann eine Ressource darstellen.

Hinter den Kulissen – vor dem DOING

Das Erstellen einer Medienbiografie ist eine Forschungsmethode der Ethnografie des Mediengebrauchs.

Über das Nutzungsverhalten verschiedener Medien in der Lebensgeschichte, lassen sich etwa Präferenzen, Prägungen und auch Zugang erschließen. Auch der Stellenwert von Medien im Alltag eines Menschen kann durch biografische Erzählungen erkennbar werden. (Sander, Lange 2005, 186) Das Weglassen und Vergessen bestimmter Medien, das im Interview gezielt nachgefragt werden kann, ist ebenso aussagekräftig wie die nostalgische Erinnerung an spezielle Geräte.

Das medienbiografische Interview als Experiment fand ich relativ selbsterklärend, darum bin ich einfach sofort zur Umsetzung gegangen, nachdem wir die Texte in der Lehrveranstaltung besprochen hatten.

Testrun #1 – Erzähl mir von den Medien deiner Kindheit

Eine Freundin war bei mir zu Hause, wir wollten gemeinsam, aber getrennt voneinander an einer Seminararbeit für die Uni schreiben; in einer Arbeitspause habe ich sie spontan gefragt, ob sie zu einem kurzen Interview über ihren Mediengebrauch, mit Schwerpunkt biografische Entwicklung, bereit wäre. Sie hat sofort „ja“ gesagt. Sie hat mir auch erlaubt, es mit meinem Smartphone als Sprachnotiz aufzuzeichnen. Das Interview war auf vielen Ebenen aufschlussreich. Unter anderem da diese Freundin etwa zehn Jahre jünger ist als ich, können sich für sie andere Selbstverständlichkeiten des Mediengebrauchs ergeben.

Da ich das Interview spontan gestartet habe, hatte ich keine vorbereiteten Fragen. Somit war es in seiner Form sehr offen und die Gesprächsinhalte und weiteren Fragen haben sich aus den Antworten meiner Gesprächspartnerin ergeben.

Im Nachhinein denke ich, es hätte dem Interview gut getan, wenn ich etwas Zeit in die Vorbereitung investiert und mir ein paar Fragen und Punkte notiert hätte, die so nicht zum Thema geworden sind. Trotzdem habe ich aus dem Gespräch Erkenntnisse über die Medienpräferenzen und die Routinen der Freundin gewinnen können. Zum Beispiel sind Erzählungen über gemeinschaftlich genutzte elektronische Geräte innerhalb der Familie, in Bezug auf soziale Dynamiken äußerst interessant. Ein einziger Computer in der Wohnung verlangt nach Organisation und Hierarchisierung, wer ihn wann wofür verwenden darf. Der Radioapparat im Wohnzimmer eröffnet Fragen nach Raumnutzung, Streitpotential durch Programmwünsche, aber auch nach von Eltern und Geschwistern übernommenen Vorlieben. Fragen nach ersten eigenen Geräten und dem Umfang an Besitz elektronischer Medien heute können Einblicke in die Nutzungsgewohnheiten und den Stellenwert von Medien geben.

Das Interview, das ich mit meiner Freundin geführt habe, war äußerst ergiebig und die hier angegebenen Themenbereiche sind nur ein Teil derer, die wir im Gespräch abgeklopft haben. Wir haben uns ungefähr zwanzig Minuten Zeit dafür genommen, weil wir danach wieder an unseren Seminararbeiten weiterschreiben mussten.

Die von mir gewählte Interviewform kann eine unaufwändige Forschungsmethode sein. Vor allem, weil, etwa in meinem Fall, sich die Suche nach einer Interviewpartnerin erübrigte. Das aufgezeichnete Gespräch lässt sich zur Gänze oder in Teilen transkribieren, meine Notizen sind Ergänzungen. Eine Medienbiografie kann aber auch von vornherein in schriftlicher Form mit oder ohne Fragenkatalog durchgeführt werden. Eine Person kann gebeten werden, Medien die sie (noch) hat zum einem per Video aufgezeichnetem Interview mitzunehmen. Auch die Bitte nach einem der Aufzeichnung des eigenen Mediengebrauchs auf einem Zeitstrahl stellt eine interessante Möglichkeit dar, medienbiografische Daten zu erheben. Das Großartige an dieser DIY-Methode ist, dass ihr wirklich vieles ausprobieren könnt.

Was ich noch hinzufügen hätte können und, was das Interview sicherlich bereichert hätte, wäre die Bitte um Fotos von ihr, auf denen sie mit verschiedenen der von ihr genannten Medien abgebildet ist. Oder Fotos der Medien, die sich noch in ihrem Besitz befinden. Das habe ich leider verabsäumt. Darum werde ich an dieser Stelle zwei Fotos von mir selbst als Kind beim Mediengebrauch einfügen.

Beide Fotos zeigen mich als Kind im Alter von etwa vier oder fünf Jahren, das heißt Anfang der 1990er Jahre. Auf beiden Fotos ist derselbe Radio abgebildet.

Foto 1 zeigt mich auf dem Boden sitzend, konzentriert in die Schüssel vor mir blickend, mit einem Löffel in der Hand. Vor mir steht ein Radiogerät mit Kassettendeck, daneben liegt eine blaue Kassette. Ich trage ein geblümtes Kleid, das mir von vielen meiner Kindheitsfotos bekannt ist. Im Hintergrund des Fotos lässt sich ein weiteres technisches Gerät erkennen, das aussieht wie eine Stereoanlage. Meine Nähe zum tragbaren Kombigerät lässt aber vermuten, dass ich über dieses Gerät Medien in Form von Kinderhörspielen konsumiere, während ich auf dem Boden sitzend esse. Im Hintergrund sind noch die Beine eines weiteren Kindes, auf einem Schaukelpferd, zu erkennen, ich nehme an, es ist mein Bruder. Das Foto zeigt eine Alltagsszene aus meiner Kindheit, die sich auch mit meinen Erinnerungen deckt. Mediengebrauch in Form von Kassettenhören war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen als Kind.

Auf Foto 2 stehe ich vor demselben Apparat und habe diesmal große Kopfhörer angesteckt, die ich über einer Art Haube oder Kapuze trage. Hinter mir sind Steckdosen zu erkennen und das Stromkabel des Radios schlängelt sich in diese Richtung. Die lila Haube, die ich trage, deutet für mich darauf hin, dass ich zu diesem Zeitpunkt krank gewesen sein könnte. Mein Gesichtsausdruck ist aber ein fröhlicher, also vermute ich, dass ich schon auf dem Weg der Gesundung war. Ein weiteres Medium im Bild ist die Zeitung, die neben dem Radio liegt. Wahrscheinlich diente sie mir als Unterlage zum Zeichnen. Gelesen habe ich sie wohl eher nicht.

Beide Fotos zeigen, dass dieser Radioapparat ein beständiges Objekt in meiner persönlichen Medienbiografie darstellt. Das Hören von Kinderkassetten war ein sehr früher und intensiver Mediengebrauch in meinem Leben.

DIY #2 Fiktive Filmszene

Die Forschungsmethode der fiktiven Filmszene geht zurück auf eine Idee für ein Experiment, die durch den angeregten Dialog in unserer Arbeitsgruppe entstanden ist. Nach meinem Wissenstand gibt es zu dieser Vorgehensweise, zum Erforschen von alltäglichem Mediengebrauch (einsetzbar natürlich auch für andere Situationen, Tätigkeiten und Handhabungen), wenig Fachliteratur oder Praxisberichte.

Mein Zugang zur Methode ergibt sich zum einen durch mein vorangegangenes Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und durch meine Mitarbeit an diversen non-budget-Filmprojekten. Das Schreiben einer Szene lässt Situationen entstehen oder bildet sie nach. Das klassische Filmskript erlaubt Einblicke in räumliche Konstellationen durch die Beschreibung des Settings, in Abläufen von Tätigkeiten und emotionale Zustände durch Regieanweisungen und dialogische Äußerungen. Ich kann diese Methode allen mit einer gewissen Filmaffinität oder dem Wunsch kreativ zu arbeiten und Neues auszuprobieren absolut empfehlen.

Was ihr dafür braucht:

PC mit Textverarbeitungsprogramm

1 Blanko Filmskript

1 willige*n Teilnehmer*in

Das Finden einer zu beforschenden Person ist bei dieser Methode eventuell noch etwas schwieriger, weil das Schreiben der Filmszene aufwändiger sein kann. Hier solltet ihr die Teilnehmer*innen auf jeden Fall darüber aufklären, dass mit einem gewisser Zeitaufwand für das Schreiben der Szene zu rechnen ist.

Hinter der (imaginierten) Kamera – vor dem DOING

“However, if participant’s performances (representations) of tasks and video representations of their re-enactments of everyday tasks can only be taken to stand for the tasks themselves in that they both are the tasks and are representations of them, this raises the question of how we might interpret them in terms of offering useful research knowledge. As we noted at the beginning of this article, we are seeking to learn about the flow of everyday life, to access it in situ rather than to capture a slice of it.” (Pink, McKley 2014, 152)

Pink und McKley haben in ihrer Forschung Menschen mit der Kamera bei alltäglichen Tätigkeiten, im beschriebenen Beispiel dem Wäschewaschen, begleitet. Genauer gesagt bei einem Reanactment, also dem Nachspielen, dieser Haushaltstätigkeit. Dadurch wird diese alltägliche Aufgabe transformiert in einen performativen Akt, da eine selbstverständliche Tätigkeit vorgeführt und zum Teil auch für das Publikum, die Forscher*innen, erläutert wird.

Durch die Reanactment-Methode von Pink und McKley inspiriert, aber durch die immer noch anhaltende Corona-Situation eingeschränkt, habe ich die fiktive Filmszene als mögliche Forschungsmethode entwickelt. Mein Forschungsinteresse galt zum einen der Frage, wie mit Medien umgegangen wird und in welchem Setting Tutorials gebraucht werden, vor allem auch der Frage danach, was passiert, bevor ein Tutorial gesucht und geschaut wird, fand ich spannend, nach dem ‚wo‘ und mit welchem Medium. Das Filmskript-Format bietet die Möglichkeit, Medien- und Raumforschung zu verbinden.

Auch eine Filmszene ist nur ein ‚slice‘ der Gesamtheit des alltäglichen Lebens, wie es Pink und McKlein beschreiben, doch als Form der Verdichtung kann sie wertvolle Einblicke geben.

Testrun #2 – Sei der Star deines Alltagsmediengebrauchs

So sah das Blanko-Skript aus, das ich meiner Freundin geschickt habe, mit der Bitte, es nach eigenem Wissen und Wollen mit einer Szene, in der sie ein Tutorial schaut und/oder nutzt, zu füllen. Da ich selbst in meiner Freizeit gerne an Filmdrehs beteiligt bin, ist das Format für mich selbsterklärend. Meine Freundin, die zwar Erfahrung mit Theatertexten hat, hatte noch einige Rückfragen zu dieser Textform und bestimmten Inhalten. Der Begriff ‚Kameraeinstellung‘ war ihr zwar geläufig, weniger was konkrete Einstellungen betriff und wie diese in der filmtechnischen Fachsprache heißen. Diese fehlenden Informationen lassen sich sehr einfach beheben, da es im Internet tolle Seiten für Filmemacher*innen gibt, wo die geläufigen Kameraeinstellungen, meist mit Bebilderung, genau erklärt werden. Den Link zu einer solchen Seite habe ich ihr geschickt. Des Weiteren haben wir ausgemacht, dass wir gerne Rücksprache halten können, wenn sie noch Fragen hat oder formale Korrekturen möchte. Meinerseits in den Inhalt einzugreifen war nicht vorgesehen.

Nach zwei Tagen hat sie mir das Skript retourgeschickt, mit einer Begleitnachricht via WhatsApp, in der sie mir mitteilte, dass sie selbst ihre Umsetzung für mittelmäßig bis schlecht und „urfad“ hält. Ich erwähne dies, da es möglich ist, dass diese Äußerungen damit zu tun haben, dass wir befreundet sind. Es könnte sein, und erscheint mir wahrscheinlicher, dass nicht-nahestehende Personen von solchen Eigenbeurteilungen absehen.

Ob das Konzept der fiktiven Filmszene mit einer fremden Person genauso umsetzbar wäre, kann ich daher (noch) nicht einschätzen. Vorstellen kann ich es mir schon. Nur die Vorbereitung müsste wahrscheinlich etwas ausführlicher ausfallen. Eventuell wäre es hilfreich, dem Blankodrehbuch ein Beispielskript beizulegen, damit die Teilnehmer*innen eine bessere Vorstellung davon haben, wie so ein Text aussehen kann. Mir erscheint wesentlich das „Kann“ hier nochmal zu betonen, da bei dieser Methode die Ergebnisoffenheit besonders wichtig ist.

Ich halte – im Gegensatz zu meiner Freundin – das entstandene Skript für äußerst gelungen. Es lassen sich viele spannende Erkenntnisse daraus gewinnen:

In der von ihr geschriebenen Szene sitzt meine Freundin bei sich zu Hause in ihrem Zimmer. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, schaut einen Film der ihr nicht gefällt weswegen sie ihn abbricht und ist anschließend unentschlossen womit sie sich beschäftigen möchte, bis sie beschließt zu sticken. Sticken hat sie erst vor kurzem erlernt und so greift sie zu auf Papier gedruckten Anleitungen, um sich einerseits inspirieren zu lassen und andererseits schauen zu können, wie etwas geht. Sie entscheidet sich für einen nicht ganz einfachen Stich, den ‚French Knot“, den sie ausprobieren möchte um ein altes, geerbtes T-Shirt aufzuhübschen. Nach mehreren missglückten Versuchen beschließt sie die Videoplattform YouTube zu konsultieren und ein Tutorial für diesen speziellen Stickstich zu suchen.

– Durch die Szenenbeschreibung, die das Setting atmosphärisch einfängt, wird die räumliche Ebene sehr detailliert beleuchtet. Wir erfahren etwas über den Privatraum, in dem die Tätigkeit der Szene stattfindet. Die Materialität von Möbeln und auch Kleidung, sowie die Lichtverhältnisse und die Positionierung der Protagonistin werden schon im ersten Teil des Skriptes beschrieben.

– Gefühle und nonverbale Äußerungen werden im Skript ebenso ausformuliert und erzählen uns einiges über Beziehungen zu den benutzten Geräten, Änderungen in der Stimmung und auch Irritationen in der Interaktion.

– Durch die verschiedenen Kameraeinstellungen hat die Autor*in der Szene selbst die Kontrolle darüber, worauf sie in der Momentaufnahme den Fokus legen möchte. Wenn sie etwa eine Totale (die gesamte Szenerie ist im Bild) wählt, will sie uns möglicherweise auch die Umgebung zeigen, in der sie sich als Protagonistin befindet. Wird eine Nahaufnahme oder Supernahe (oder Extreme CloseUp) als Einstellung ausgesucht, werden wir an ein spezielles Detail herangeführt, das der Person wichtig erscheint.

Das waren einige der Einblicke, die das spezielle Format der fiktiven Filmszene in die alltäglichen Situationen von Personen geben kann. Es ist, wie das Reenactment von Pink und McKley, eine performative Methode, da die Person die Szene im Moment des Schreibens nicht durchlebt, aber nachempfindet und/oder als Gedankenexperiment kreiert. Durch den Status als Hauptdarsteller*in und die alleinige Kontrolle über den Inhalt der Drehbuchszene, kann die Person auch eine Idealsituation, also wie sie sich bei der Tätigkeit gerne darstellen würde und wie sie gerne gesehen werden würde, herstellen.

Weiterführend kann das Drehbuch der Szene, nach Fertigstellung durch die Person, noch gemeinsam nachbesprochen werden: Hast du diese Szene erlebt oder dir ausgedacht? Wie hast du das Schreiben der Szene empfunden? Hast du dich leicht getan, es in ein Drehbuchformat zu übersetzen? Was ist dir eher schwer gefallen?

Und nicht zu vergessen: bedankt euch bei den Personen, die sich von euch haben beforschen lassen! Sie haben einen wichtigen Beitrag für euere Forschungsarbeit geleistet. Nun liegt es an euch, das Material zu untersuchen und zu interpretieren. Vielleicht könnt ihr aus euren Erkenntnissen auch noch weitere Fragen und Methoden entwickeln? Viel Erfolg!

So ihr lieben Forscher*innen, das war’s von mir!

Danke, dass ihr euch dafür entschieden habt, euch unseren bescheidenen Beitrag anzusehen. Wenn er euch gefallen hat und hoffentlich vielleicht sogar hilfreich war, lasst gerne ein Like da! Wir freuen uns auch immer über Berichte, wenn ihr Tipps von uns ausprobiert habt. Schreibt uns oder kommentiert unter dem Beitrag. Für mehr DIY-Methoden zum ethnografischen Forschen und Finden schaut euch auch die Beiträge der Kolleg*innen an. Bleibt neugierig und bis bald!

Die Autorin studiert im Master Europäische Ethnologie an der Uni Wien. 

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Abgeschaut. Zum Gebrauch von Tutorials“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Zum thematischen Rahmen, in dem dieser Text steht, geht’s hier.

Literatur

Ruth Ayaß (2016) Medienethnografie. In: Stefanie Averbeck-Lietz, Michael Meyen (Hg.) Handbuch nicht standardisierte Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden, 335-354.

Mark Dang-Anh, Simone Pfeifer, Clemens Reisner und Lisa Villioth (2017) Medienpraktiken. Situieren, erforschen, reflektieren. Eine Einleitung. In: Dies.: Medienpraktiken. Situieren, erforschen, reflektieren. Navigationen 17, 7-31.

Carolin Genz, Aylin Yildrim Tschoepe (2021) Ethnografie als Methodologie. Zur Erforschung von Räumen und Raumpraktiken. In: Anna Juliane Heinrich, Séverine Marguin, Angela Million, Jörg Stollmann (Hg.): Handbuch qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung. Bielefeld, 225-236.

Sarah Pink, Kerstin Leder MacKley (2014) Re-enactment methodologies for everyday life research: art therapy insights for video ethnography. In: Visual Studies, 29:2, 146-154.

Ekkehard Sander und Andreas Lange (2005) Der Medienbiographische Ansatz. In: Lothar Mikos, Claudia Wegener (Hg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Stuttgart, Konstanz, 115-129.

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