„Überfällig – Überflüssig.“ Beiträge der Studierendentagung 2019

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Fotos und Beitrag von Maren Sacherer

Wie vielleicht noch einige wissen, fand die 32. dgv-Studierendentagung[1] in Wien statt. Mit dem Tagungsmotto „Überfällig – Überflüssig“ luden wir als studentisches Organisationsteam Studierende der verschiedensten Fachstandorte im deutschsprachigen Raum nach Wien ein. Für den Tagungszeitraum von 30. Mai bis 2. Juni 2019 reisten daraufhin insgesamt 165 Studierende des Vielnamenfaches an, um gemeinsam kulturwissenschaftliche Diskurse, Perspektiven, Forschungsfelder und Methoden zu diskutieren.

Ein halbes Jahr nach der erfolgreichen Tagung stand fest, dass wir auch einen zugehörigen Band erstellen wollten. Dieser sollte die spannenden Beiträge für die Zukunft festzuhalten und auch Personen, welche nicht dabei sein konnten, einen Rückblick ermöglichen. Einige Umstände sorgten dafür, dass das zuerst kurzfristig angesetzte Projekt schließlich zwei Jahre dauern sollte. Doch Ende 2021 war es endlich so weit: Der überfällige, aber nicht überflüssige Tagungsband wurde geliefert.

Auf den Seiten des Bandes sind elf Artikel versammelt, die als schriftliche Aufbereitung der jeweiligen Vorträge und Workshops zu lesen sind. Die Verfassenden befanden und befinden sich in unterschiedlichen Studien- und Lebensphasen sowie an verschiedenen Fachstandorten. Somit spiegeln sich diese unterschiedlichen Perspektiven in den Beiträgen durch die Themen, Herangehensweisen und Methoden facettenreich wider.

Kurzer Abriss der Beiträge

Den festlichen Auftakt zum Band gestaltet Maria Prchal mit einem Artikel zum Tagungskoffer. Jener wird seit 2007 jährlich von der bestehenden an die nachfolgende Studierendentagungs-Organisationsgruppe übergeben. In diesem Übergangsritus steht der Koffer damit als Symbol für das Weiterleben des Engagements und der Partizipation von Studierenden im Fach sowie deren geographische und wissenschaftliche Mobilität.

Anschließend geht Katrin Prankl auf die erstaunliche Biografie der Kulturpflanze Soja im Kontext Österreichs und im Speziellen des Palais Schönborn, in dem sich das Volkskundemuseum Wien befindet, ein. Hierbei wird die Pflanze zur Akteurin: Ihre geschichtliche Verbindung mit der Familie Haberlandt, der Etablierung als Basislebensmittel und die Verwicklung in die NS-Geschichte sowie der gegenwärtige Diskurs um Soja werden hier anschaulich und multiperspektivisch erläutert.

Mit dem wichtigen Thema der NS-Geschichte im Entstehungskontext der Volkskunde und damit einem historischen Blick auf unsere Disziplin beschäftigen sich Anna Domdey und Bianca Loy. Die beiden diskutieren in ihrer kritischen Retrospektive die Politik eines sich zu Teilen als apolitisch darstellenden Faches und sprechen sich für eine verstärkte Aufarbeitung der Fachgeschichte aus. Zudem werfen sie ein Schlaglicht auf die bisher wenig rezipierte Jüdische Volkskunde.

Nachfolgend zeigen Anna Larl und Manuela Rathmayer am Beispiel des Atlas der deutschen Volkskunde gekonnt, wie spannend verstaubtes Archivmaterial sein kann. Die beiden fokussieren sich auf die überfällige, weil kaum existente Rezeption einer der größten Fragebogenunternehmungen der Volkskunde im deutschsprachigen Raum und dessen problematische Datenerhebung. Ähnlich wie Loy und Domdey plädieren auch sie für eine notwendige fachliche Reflexion hinsichtlich der disziplinären Vergangenheit und für das Potenzial der Beschäftigung mit Archivschachteln.

Die schriftliche Aufarbeitung des gruppengeleiteten Workshops zur spielerischen Vermittlung von ethnographischen Inhalten liefert Lilian Krischer. Ihre Workshopgruppe stellte die Resultate eines Masterstudienprojektes vor, bei dem kulturwissenschaftliche Erkenntnisse anhand der Konzipierung von Brettspielen mediiert wurden. Krischer erläutert im Artikel, wie es zu der Erfassung und Darstellung von Forschungsergebnissen in und durchs Spielen kam. Außerdem nimmt sie wichtige Diskussionspunkte, die während des Workshops auf der Studierendentagung erarbeitet wurden, in den Text auf.

Mit der Frage nach der Ambivalenz von Denkmälern befasst sich Oliver Wurzbacher in seinem Artikel zum Jenaer ‚Urbursch‘. Das Burschenschaftsdenkmal, das sich durch seine fast ganzjährige Verhüllung auszeichnet, umgeben vielschichtige und widersprüchliche Bedeutungszuschreibungen. Der Autor geht dabei Diskursen zu Denkmalschutz und Protestäußerung mittels Farbaktionen nach und bindet zusätzlich auch eine Kritik seiner methodischen Herangehensweise ein.

Lisa-Marie Schlangen eruiert in ihrem Artikel das Thema des ubiquitär scheinenden Feminismus im populären Diskurs. Anhand von kapitalistisch verwerteten Emanzipationspraktiken erörtert sie die Popularisierung feministischer Strömungen zum Zwecke der Konsumförderung. Gleichzeitig verweist sie auch auf die bestehende Aktualität feministischer Belange, etwa die Forderungen nach fairer Bezahlung und Gleichbehandlung sowie den immer noch notwendigen Kampf gegen Sexismus und sexuelle Belästigung.

Konsekutiv widmet sich Beatrice Odierna der Verwicklung der Forschenden ins Feld in der kritischen Reflexion ihrer Forschung mit geflüchteten jungen Frauen. Dabei wirft sie nicht nur forschungsethische Fragen zur (Selbst-)Positionierung im Feld auf, sondern formuliert zudem Möglichkeiten zur forschungspraktischen Umsetzung. Die Autorin zeigt auf, dass die durch die Forschungssituation (re-)produzierten Grenzen, Machtungleichheiten und Differenzierungen zwar nicht vermieden, aber mit einer kontinuierlich reflektierenden Analysepraxis zumindest erkannt, offengelegt und diskutiert werden können.

Die Workshopgruppe von Sascha Sistenich, Marie Brüggemann, Natascha Geis, Alexandra Meisen und Felicitas Offergeld wandte sich dem Komplex Gender*n und Sprache zu. Die Workshopleitenden erläutern in ihrem Text die Herangehensweise, den Ablauf und die Ergebnisse ihres speziellen Workshopformats, das sie als Verknüpfung von praxisorientierter sowie akademischer Auseinandersetzung sehen. Im Zentrum stand dabei die Vermittlungsarbeit von Sozialkompetenzen durch Methoden wie dem ‚Raum der Begegnung‘, einem räumlich umgesetzten Thesenstrahl, einem Privilegientest und der ‚Fishbowl-Diskussion‘.

Eine weitere spannende Methode beschreiben Antje F. Hoffmann, Anna Polze und Vanessa Zallot in ihrer Beschäftigung mit Frauenbildern in DDR-Dokumentarfilmen. Dabei geben sie Aufschluss über die Annäherung an audiovisuelle Medien anhand des analogen Videoessays, welche sie gemeinsam mit den Workshopteilnehmenden mithilfe von ausgedruckten Film-Stills umsetzten. Die Analyse des Materials wurde unter Einbezug von Praktiken der Smartphone-Nutzung sowie des Filmschnitts im Sinne der Dichten Beschreibung erarbeitet und veranschaulicht die Möglichkeitsvielfalt der Forschung an und mit Filmen.

Abschließend berichten Susanne Hochmann und Manuel Bolz in ihrem Essay von den Diskussionspunkten sowie Ergebnissen eines studentisch-organisierten Projektseminars, indem sie das Thema Fast Fashion eigenverantwortlich und praxisorientiert inhaltlich aufbereiteten. Sie eröffnen dabei nicht nur neue Forschungsperspektiven, sondern zeigen damit auch das Potenzial des studentischen Engagements in der Lehre auf.

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Falls diese kurze Vorstellung neugierig auf den gesamten Inhalt des Tagungsbandes machen konnte: Er ist als Band 50 in der Reihe der Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie an der Universität Wien erschienen und auch im Sekretariat des Instituts auf Nachfrage erhältlich.


[1] Das Kürzel dgv steht für Deutsche Gesellschaft für Volkskunde. Mittlerweile hat sich der Fachverein umbenannt in: Deutsche Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft.