Von Maj Karlotta Neumann
Ich treffe mich an einem sonnigen Tag mit Laura. Aus dem Hausflur trete ich direkt in den offenen Eingangsbereich, der in die Küche übergeht, es riecht nach Kaffee und Spiegelei. Gleichzeitig mit mir ist Raúl angekommen, der Sebas besucht. Laura und Helena frühstücken. Wir sitzen also zu fünft in der Küche. Helena isst ein Avocado-Brot und erzählt mir stolz, dass die Avocado nur dreißig Cent gekostet hat. Ich bin zu Besuch, um über die Hinterlassenschaften in der Wohnung zu sprechen und sitze eigentlich schon inmitten dieser. Die Wohnung wird schon seit zehn Jahren als WG bewohnt. Es gibt drei getrennt begehbare Zimmer, die von der zentral gelegenen Küche abgehen. Die Küche ist gemeinsamer Aufenthaltsraum mit einem rosa Samtsofa, das wie alle Möbel in diesem Raum von vorherigen Bewohner*innen übernommen wurde. Die Wände sind bunt gestaltet mit Tafellack und Kreide sowie grüner Wandfarbe. Die Klotür ist komplett mit Aufklebern versehen und auch innen sind die Wände mit Postkarten und Aufklebern tapeziert. Im Gemeinschaftsraum finden sich in verschiedenen Ecken kleinere und größere Ansammlungen von Dingen, die aussortiert wurden. Helena wohnt seit ein paar Monaten in der WG, Laura seit ein paar Wochen und Sebas erst ein paar Tage.
Elfchen über‘s Erben
bleiben
übrig sein
sehr viele Dinge
manche werden noch gebraucht
Hinterlassenschaften
Zum Gespräch ziehen Laura und ich uns in ihr Zimmer zurück. Wir setzen uns auf ihr Sofa, das sogleich zum Gesprächsthema wird. Es ist eine Leihgabe von einer ehemaligen Bewohnerin des Zimmers, die in ihrer aktuellen Wohnsituation keine Verwendung dafür hat, es aber irgendwann wiederhaben möchte. Sofas werden in unserem Gespräch ein wiederkehrendes Thema sein. Sie sind gemütlich, sperrig, groß, oft schwer zu transportieren und finden sich in vielen Wohngemeinschaften. Deshalb sind sie Laura in ihrem WG-Leben oft als Hinterlassenschaften vorheriger Bewohner*innen begegnet. Laura erzählt mir, dass sie kürzlich aus einer Sechser- in diese Dreier-WG umgezogen ist. Einer der Gründe für ihren Auszug waren die unendlich vielen Hinterlassenschaften in der alten Wohnung. Es gab dort im Gemeinschaftsraum mehrere Sofas, die häufig in die einzelnen Zimmer der Bewohner*innen eingezogen und wieder zurück in den Gemeinschaftsraum gewandert sind. Zusätzlich wurden alle möglichen anderen Gegenstände – von Möbeln und Kleidung, über Rucksäcke und Taschen, Küchenutensilien bis hin zu Badezimmerinventar inklusive Kontaktlinsenflüssigkeit und Rasierschaum – von ehemaligen Mitbewohner*innen zurückgelassen. Häufig unbewusst, manchmal, mutmaßt Laura, auch absichtlich. Sie und ihre Mitbewohner*innen reagieren auf diese Hinterlassenschaften sehr unterschiedlich: einigen scheint es egal zu sein, andere (auch sie selbst) sind darüber verärgert und fühlen sich respektlos behandelt. Die Sachen, die in Küche und Bad zurückgelassen wurden, waren für Laura und ihre WG-Kolleg*innen weniger ärgerlich, weil sie einfach benutzt und aufgebraucht werden konnten.
Es gab einen Mitbewohner, der am Tag seines Auszugs genau einen Koffer gepackt hat und dann einfach gefahren ist ohne sich um irgendetwas zu kümmern. Computer, Drucker, Kleidung von ihm und seinen One-Night-Stands ließ er zurück. Da gab es dann Frustration und Wut gepaart mit dem Gefühl, dass es ihm scheißegal sei, was damit passiere, erzählt mir Laura. Die WG hat seinen Kleiderschrank dann zu einem offenen Kleiderschrank ausgerufen und jede*r konnte sich nehmen was sie*er wollte. „Wenn wir Willhaben [ein Online-Flohmarkt] nicht gehabt hätten, dann hätte ich nen Koller gekriegt!“ Nach zwei bis drei Wochen wurden alle restlichen Sachen ins Wohnzimmer geholt und unter den Mitbewohner*innen aufgeteilt. Bücher wurden in offene Bücherschränke, die es überall in Wien gibt, gebracht, Kleidung in Sammelbehälter gespendet, Möbel über Willhaben verkauft oder verschenkt. Am Ende dieser Aktion gab es in dem Zimmer nur noch drei Möbelstücke: das Bett, den Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Dafür hat die neue Mitbewohnerin hundert Euro Ablöse an die WG gezahlt.
G
R
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S
E
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I
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Wer steigt hinab, was wird gebracht?
Im Altbau. Im Keller. Im Dunkeln. Im Kerker?
Es ist benannt. Es ist erkannt. Es ist unten. Es ist kalt. Es ist modrig.
Hier wandern Dinge hin, die nichts mehr können, die nichts mehr schaffen, die nichts mehr machen, die nicht mehr gebraucht werden. Kleiderstangen, Lampen, Möbel, Nasen, Ohren.
Keller sind für Hinterlassenschaften in Wohngemeinschaften ein wichtiges Thema. Laura erzählt mir, dass sowohl in der alten als auch in der neuen WG die Keller vollgestellt sind mit Dingen, die aus irgendeinem Grund (oft, weil sie nicht mehr funktionieren) nicht mehr in der Wohnung gewollt sind. So wandert alles, was kaputt ist, in den Keller und wird dort gelagert. Nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Kaputte Kleiderständer, kaputte Lampen, kaputte Heißluftfritteuse. Laura hat sich nie hinab gewagt. Aus Angst vor Kellern, aber auch aus Angst vor diesem Keller im Speziellen. Er sei „gruselig“ und von ihren Mitbewohner*innen wurde ihr erzählt, dass er aussähe wie ein Kerker aus dem Mittelalter, da sich Strichlisten an den Wänden befänden und der Boden bloß aus festgetretener Erde bestehe.
Die Heißluftfritteuse bringt Laura mit in ihre alte WG. Die Heißluftfritteuse wird falsch benutzt. Die Heißluftfritteuse geht kaputt. Die Heißluftfritteuse wird aufgeschraubt. Die Heißluftfritteuse wird nicht repariert. Die Heißluftfritteuse ist mittlerweile unbrauchbar. Die Heißluftfritteuse verstaubt. Die Heißluftfritteuse wandert in den Keller. Die Heißluftfritteuse ist auf dem Friedhof der Dinge. Die Heißluftfritteuse bleibt dort.
Haiku 4 U
Heiß–luft–frit–teu–se.
Geht un–ter mit Ge–tö–se.
Hin–ter–las–sen–schaft.
Laura erzählt mir von der „Mitgift“ aus der alten in der neuen Wohngemeinschaft. Sie hat Bettwäsche, einen Bettüberwurf und ein Microfaser-Handtuch mitgenommen. In der neuen WG hat sie das Poster, das an ihrer Tür klebt und die Gardinen übernommen. Sie freut sich über die praktischen Dinge, die übrig bleiben und in ihren Besitz übergehen. Sie sieht es „als Gewinn gegen das System“. Sie hat es ausgetrickst. Manchmal ärgert es sie aber, wie gedankenlos Dinge zurückgelassen werden. Wer soll sich dann darum kümmern. Es sind häufig auch sperrige Sachen. „Sofas zur Leihgabe sind ein Ding!“ Sie hatte das Problem schon in ihrer alten WG und hat es jetzt wieder. Während wir in ihrem Zimmer sitzen und uns unterhalten, fallen ihr immer mehr Hinterlassenschaften auf. Einige, die sie aus der alten WG übernommen hat, andere, die schon in ihrem neuen Zimmer waren und geblieben sind. Da ist die Klimmzugstange über der Tür mit dem Schriftzug Quäl dich, du Sau! darunter. Da ist an der anderen Wand der Schriftzug: Die mit der und drunter sind Pfeile aufgezeichnet. Dazu gibt es eine Geschichte: Die Person, die vor Laura in dem Zimmer gewohnt hat, hat immer eine ganz bestimmte Tasche getragen. Anhand dieser Tasche wurde die ehemalige Bewohnerin von Bekannten und Freund*innen schon aus der Ferne wiedererkannt, weshalb häufig von ihr gesprochen wurde als „die mit der Tasche“. Diese Tasche hatte sie an einem Haken unter dem Schriftzug hängen. Heute hängt dort keine Tasche mehr, sondern Lauras Kleiderstange. Darunter steht eine Tasche, die Laura erfolglos versuchte loszuwerden, in dem sie diese in der alten WG zurückließ. Eine ehemalige Mitbewohnerin rief sie ein paar Tage nach ihrem Auszug an, um ihr zu sagen, dass sie ihre Tasche vergessen hatte. Es ist Laura also nicht gelungen so gerissen wie ihre alten Mitbewohner*innen zu sein und ohne Absprache Gegenstände in der WG zu hinterlassen. Außerdem finden sich etliche Löcher und Nägel in den Wänden, die jetzt vorgeben, wo Laura ihre Bilder, Poster und Spiegel aufhängt. Das bedeutet, dass ihre Zimmergestaltung stark von den Vorlieben der vorherigen Bewohner*innen des Zimmers abhängt bzw. dadurch beeinflusst wird. Im neuen Zimmer sind es abgesehen vom Sofa und der Klimmzugstange also Kleinigkeiten, die Laura hinterlassen wurden. Und nur in den Gemeinschaftsräumen finden sich nach und nach die Dinge, die niemandem gehören, die niemand haben will und die alle Bewohner*innen der WG nach und nach loswerden wollen. Dafür werden frühere Mitbewohner*innen kontaktiert und gefragt, ob sie noch etwas abholen wollen und dann endlose Touren zu offenen Bücherschränken, zu Altkleidersammlungen, zum Müll gemacht. Und Dinge auf Willhaben inseriert und verschenkt oder verkauft. Ein Poster wird Laura ihrer Schwester schenken.
Eine Häufung von Dingen klein und groß, vielfarbig, vielgestaltig, verhandelt, versteckt, verstaubt, vergessen. Getragen, genutzt, geliebt, gelebt, entliebt, entlebt. Spuren? HINTERLASSEN.
Die Abstellkammer in der alten WG ist dreierlei: die Tasche von Mary Poppins, das Verschwinde-Kabinett von Harry Potter und die Büchse der Pandora. Die Tasche, weil sich darin so viele Dinge finden und der Raum quasi unerschöpfliche Kapazitäten hat, Dinge in sich aufzunehmen; sie fanden einen Wanderrucksack darin, der Allgemein- und WG-Gut geworden ist, weil er noch so gut erhalten und in bester Qualität war. Das Verschwinde-Kabinett, weil Dinge in ihr verloren gegangen sind, manchmal beabsichtigt, manchmal versehentlich. Die Büchse der Pandora, weil sich darin viel zu viel Kram befindet, der Arbeit verursachen würde, wenn man die Tür öffnete und sich der Dinge annähme.
Der Zeithistoriker Dirk van Laack beschreibt Erben als etwas „[…] was zur Neugier reizt: prominente Schicksale, sozialen Sprengstoff, in materielle Interessen hineingewickelte Emotionen, familiäre Inventuren und kriminelle Energien.“ Im Falle von Hinterlassenschaften in WGs geht es beim Thema Erben vor allem um soziale Aushandlungen und ein bisschen um kriminelle Energien (wenn Mitbewohner*innen versuchen, unbemerkt einen Gegenstand in ihren Besitz zu bringen oder ihn zu hinterlassen). Es drehen sich viele Konflikte um die Dinge, die zurückgelassen werden. Am Beispiel von Lauras Mitbewohner*innen zeigt sich, dass der Umgang mit Umzügen und das Verantwortungsbewusstsein der Ausziehenden ihren Hinterlassenschaften gegenüber unterschiedlich ausgeprägt ist. Während Laura versucht hat, möglichst alles mitzunehmen, gab es andere, die ganz bewusst fast alles zurückgelassen haben. Somit auch die Verantwortung dafür, was mit ihren Hinterlassenschaften nach dem Umzug geschieht. Dabei ist den Hinterbliebenen oft nicht klar, was mit den Dingen passieren soll und ob sie von Wert sind, um damit möglicherweise die WG-Kasse auffüllen zu können.
Laura erzählt mir von einer Mitbewohnerin, die Grundlagen-Literatur für das Psychologie Studium hinterließ. Diese Bücher waren so begehrt, dass sie innerhalb von Minuten über Willhaben verschenkt waren. Hinterher wurde den WG-Bewohner*innen klar, dass die Bücher sehr teuer waren und ihnen somit Geld in die WG-Kasse hätten spülen können. Das unverdiente Vermögen, so van Laak, setzt keine Anreize für unternehmerisches Handeln. Auch wenn dieser damit vor allem monetäres Erbe anspricht, sehe ich eine Verbindung zum Erben im Kontext von Wohngemeinschaften. Die Gegenstände, die zurückbleiben, sind häufig von Wert und es bestünde die Möglichkeit diese zu verkaufen. Oft wird aber versucht sie möglichst schnell loszuwerden, es wird also gehandelt, aber nicht unternehmerisch. Meist werden die Dinge über Willhaben verschenkt oder anderweitig gespendet. Gewinnorientierte Gedanken spielen hierbei eine sehr untergeordnete Rolle, vielmehr geht es darum möglichst schnell Platz für neue Mitbewohner*innen und deren Gegenstände zu schaffen. Es geht in WGs also vorrangig um den Wert mehr Raum zu gewinnen. „Hinterlassenschaften und ihre Ordnung werfen nicht nur finanzielle Fragen auf. Sie sind zugleich ein Thema der materiellen Kultur, des Umgangs mit persönlichen Dingen ganz unterschiedlicher Art. Nicht immer geht es dabei um eine Aneignung, sondern häufig auch um Probleme des Aufbewahrens oder des Loswerdens“, so van Laack.
Haiku for a friend
Un-ter–neh-me-risch
Ge-spen–det o-der ver-schenkt
Geld re-giert die Welt
Interessant ist, dass in Lauras Erzählungen über den Umgang mit den Dingen die emotionale Bindung ihrer Mitbewohner*innen zu deren Besitz kaum eine Rolle spielt. Sie erzählt eher davon, dass die Dinge einfach zurückgelassen wurden, als sei da keine emotionale Verbindung zu den Dingen, also keine „Dingverbundenheit“, wie sie die Historikerin Anke Ortlepp diskutiert. Diese Verbundenheit mit den Dingen wurde nur im Zusammenhang mit ihren eigenen Möbeln und anderen Gegenständen thematisiert. Laura spürt eine so enge emotionale Bindung zu ihren Dingen, dass sie ihre Möbel der WG nicht einmal hätte verkaufen wollen. Laura beschreibt, dass sie Dingverbundenheit spürt, während ihre Mitbewohner*innen diese nach ihren Beobachtungen nicht haben. Es bleibt die von der Kulturwissenschaftlerin Ulrike Langbein gestellte „Frage nach dem Zusammenhang von Emotionen und materiellem Interesse“ bezogen auf Hinterlassenschaften in Wohngemeinschaften insofern offen.
Elfchen über’s Mögen
Teppich
Gemustert, weich
Am Boden ausgebreitet
Perserteppich hält Raum zusammen
Gemütlichkeit
Erben als „Kommunikationsvorgang“, so van Laak, spielt in Wohngemeinschaften eine große Rolle. In einer Erzählung von Laura beschreibt sie den Auszug eines Mitbewohners, der alles in seinem Zimmer hinterlässt, außer so viel von seiner Kleidung, wie in einen Koffer passt. Laut Laura kommuniziert er durch seine übereilte Abreise, bei der er den Großteil seiner Möbel, Kleider und Dinge zurücklässt, ohne dies mit der WG zu besprechen, dass ihm alles andere unwichtig ist. Auch die Gemeinschaft in der WG und die Arbeit, die er ihnen mit diesem unausgesprochenen Auftrag hinterlässt. Er geht sogar soweit, dass er den Kontakt komplett abbricht und die Hinterbliebenen mit seinen Möbeln, Gegenständen, Dingen, Klamotten alleine lässt. Sie müssen sich überlegen, wie sie damit umgehen.
In anderen Situationen entstehen rund um die Weitergabe von Dingen Gespräche. Ein anderer Mitbewohner schenkt Laura bei seinem Auszug zwei Gläser, weil er findet, sie passten zu ihr. Auch um die Hinterlassenschaften, die inoffiziell (also ohne darüber zu sprechen) in der Wohnung bleiben, entstehen kommunikative Aushandlungen des Umgangs mit ihnen. Im neuen Zimmer in der neuen WG werden sogar kurze Nachrichten in schriftlicher Form an den Wänden hinterlassen. „Man könnte auf seine Wände schreiben (so wie man manchmal auf Häuserfassaden, auf Bretterzäune an den Baustellen, auf Gefängnismauern schreibt), doch man tut es nur selten“, schreibt der Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec. In Lauras Fall sind es Satz-Schnipsel, die auf Geschichten der vorherigen Bewohnerin verweisen. Bisher hat Laura die Wände belassen, wie sie sind. Wahrscheinlich werden sie und ihre Mitbewohner*innen aber in einem Akt der Aneignung und Personalisierung doch auch die Wände verändern. „Erben“, so betont Langbein, „meint nicht nur Weitergeben, sondern Rebellieren, Aushandeln und neues legitimieren. Nur die Möglichkeit der Veränderung garantiert die Dauer.“ Sie werden also neue Schriftzüge hinzufügen und alte entfernen oder überdecken, um die Wohnung zu ihrer eigenen zu machen.
reden schwafeln streiten keifen labern erklären fragen sagen aussprechen äußern plaudern schwatzen unterhalten aussagen bedeuten deuten diskutieren abwägen mitteilen vorbringen quasseln austauschen verhandeln ratschen kommunizieren
Dann ist da noch der Keller. Der Keller, der immer wieder zum Ort der Hinterlassenschaften wird. In Wohngemeinschaften ganz besonders, da sich niemand so richtig verantwortlich fühlt für die Dinge, die hier gelandet sind und weiterhin landen. Die Soziologin Silke Steets schreibt: „Der Abstellkeller wird damit für Erwachsene zu einer dunklen Metapher für Verdrängtes, für Nichtentschiedenes und unbewusst Schlummerndes.“ Im Vergleich dazu werden auf dem Dachboden eher Erinnerungsstücke gelagert, die wie Schätze gehegt werden. Der Dachboden ist auch mit weniger Ängsten besetzt. Laut dem Sozialwissenschaftler Stefan Hesper wird der Dachboden „zum Ort der Gleichzeitigkeit vergangener Zeit mit der Gegenwart“. Doch einen Dachboden gibt es in Lauras Erzählungen nicht. Sie ist darüber sogar froh, denn aus ihrer Erfahrung würden dort dann nur noch mehr ungenutzte und ungewollte Dinge lagern. Denn schon der Keller ist, so Steets, „ein gedachtes Zwischenlager für ausgesonderte Dinge, deren Wiederinbetriebnahme auf ein imaginiertes Später verschoben wird; de facto […] ist der Keller aber ein Endlager.“ Was passiert also mit den Dingen, die dort lagern? Werden sie so lange zurückgelassen, bis kein Platz mehr ist? Was passiert dann? Wird vergessen, dass es einen Keller gibt?
Hinterlassenschaften in Wohngemeinschaften haben vor allem mit dem Auszug von Personen zu tun. Immer dann, wenn eine Person weiterzieht, bleiben Dinge von ihr zurück. Dinge werden vergessen, weitergegeben, hinterlassen. „Eine Wohnung verlassen. Ausziehen. Das Weite suchen. Alles ausräumen. Sich zum Henker scheren“, schreibt Perec. Wer sich am Ende um diese Dinge kümmert, sie verwaltet, verkauft, verschenkt, benutzt, spendet oder wegwirft, bleibt für diejenigen, die gehen, häufig offen. Für Laura war der Umzug mit gemischten Gefühlen verbunden. Sie war froh in eine Wohnung zu kommen, in der es weniger Dinge gibt. Sie war glücklich über die Dinge, die sie aus der alten WG mitnehmen konnte und die, die sie in der neuen WG übernehmen durfte. Sie ärgert sich aber auch über diejenigen vor ihr, die sich nicht um ihre Gegenstände gekümmert haben und deren Arbeit sie übernehmen muss(te).
Was passiert da? Beim Erben in Wohngemeinschaften? Ist das eine Form von Erbe? Das Erben der jungen Leute? Erben aus der warmen Hand? Sollte die Art von Hinterlassenschaften innerhalb der WGs vertraglich geregelt werden? Wer erbt hier von wem? Und ist das ein bewusster Vorgang oder eher Zufall?
Meiner Meinung nach sind Hinterlassenschaften in Wohngemeinschaften häufig ein eher zufälliges Geschehen. Der Umgang mit dem, was zurückbleibt, ist abhängig von den Hinterbliebenen. Wollen sie die Dinge behalten? Dann werden sie sie behalten. Wollen sie die Dinge loswerden, dann werden sie Wege finden, dies zu tun. Dabei ist die Frage der Verantwortung oft ungeklärt. Meist gibt es dazu keine Vereinbarungen im Mietvertrag oder in sonstiger Form, sodass die Übernahme von Verantwortung unausgesprochen bleibt und individuell geschieht.
Die Sofas, die in Lauras WG-Leben eine so große Rolle spielen und ein wiederkehrendes Thema sind, sind dies vor allem aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts. Sie nehmen Raum ein, sowohl im Zimmer als auch im Transporter beim Umzug. Sie bleiben dann an einem Ort, wenn die Person, der sie gehören, weiterzieht und keinen Platz für sie hat. Sei es im Transporter oder am neuen Wohnort. Dennoch ist auch hier der Umgang damit unterschiedlich. Manche Personen lassen sie einfach zurück, andere geben sie als Dauerleihgabe weiter, in der Hoffnung irgendwann wieder Platz für sie zu haben. Macht das eine*n mobiler und flexibler? Je weniger Dinge eine Person beim Umzug bewegen muss, um so schneller und leichter ist ein Umzug zu bewältigen. Gibt es das nur bei Personen zwischen circa 20 und 30 Jahren? Ist die Dingverbundenheit mit Möbeln eine Frage des Typs oder eine des Alters oder eine der Machbarkeit und Praktikabilität?
Es scheint in WGs aber auch so etwas wie ein bewusstes Erben oder zumindest Weitergeben von Dingen zu geben. So werden Dinge an Personen als Erinnerungsstück, aus Verbundenheit oder auch weil sie noch nützlich sein können an Mitbewohner*innen übergeben. Kann man das also (Ver-)Erben aus der warmen Hand nennen? Personen, die noch leben, übergeben Dinge aus ihrem Besitz in denjenigen einer anderen Person?
Möglicherweise ließe sich anhand eines Gegenstandes in einer Wohngemeinschaft eine ganze Kette von Erben nachverfolgen. Gerade in WGs häufen sich günstig angeschaffte Dinge, die oft schon eine längere Vorgeschichte haben. Welche Geschichte hat beispielsweise das rosafarbene Samtsofa in Lauras Küche? Welche Geschichte die Klimmzugstange über ihrer Zimmertür? Und lässt sich alles, was hinterlassen wird, als Erbe einordnen?
Hinterlassenschaften sind Dinge, die von Personen zurückgelassen werden. Sie werden in jedem Fall vererbt. Mal bewusst, beabsichtig und gewollt und mal unabsichtlich. Dinge werden vererbt unabhängig davon, ob die Hinterbliebenen dieses Erbe annehmen möchten oder nicht – nicht anders als in anderen Erbfällen
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Maj Karlotta Neumann hat ihren Bachelor in Kultur der Metropole an der HafenCity Universität in Hamburg absolviert. Seit 2017 studiert sie im Master Gender Studies und Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Stadtforschung, Feminismus und Körperpolitiken. Wenn sie nicht gerade wissenschaftlich arbeitet, malt sie Latte Art auf Kaffees oder tanzt und schreit auf Demos.
Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Kulturelle Praxen und Bedeutungen im Alltag: Hinterlassenschaften, deren Medien und Räume und Gebräuche“ unter der Leitung von Dr. Klara Löffler. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.
Nachweise
Interview mit Laura Novak am 18. März 2021, geführt von Maj Karlotta Neumann. Alle Namen wurden aus Datenschutzgründen geändert.
Hesper, Stefan: Dachboden. In: Pethes, Nicolas, Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hamburg 2010, 108-109.
Langbein, Ulrike: Behalten und Bewahren, Verprassen und Vergessen. Potentiale einer kulturanthropologischen Erbschaftsforschung. In: Pöttler, Burkhard, Erlenbusch, Lisa (Hg.): ERBE_N. Macht. Emotion. Gedächtnis. Weitra 2018, 17-27.
Ortlepp, Anke: Alltagsdinge. In: Samida, Stefanie, Eggert, Manfred H. K., Hahn, Hans Peter: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Heidelberg 2014, 161-165.
Perec, Georges: Träume von Räumen. Zürich 2018
Steets, Silke: Keller. In: Hasse, Jürgen, Scheiber, Verena (Hg.): Räume der Kindheit. Ein Glossar. Bielefeld 2019,138-144.
Van Laak, Dirk: Was bleibt? Erben und Vererben als Themen der zeithistorischen Forschung. In: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History 13 (2016) 136-150.