Epistemologie und Empathie: Über die Wechselwirkung zwischen Chronotopoi und Wissensproduktion

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Ein Essay von Isabella Hesse

Raumzeit

„Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten [sic] Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos […] bezeichnen.“ (Bachtin 2017: 7) Die Definition zu Beginn von Michail Bachtins „Chronotopos“ klingt zunächst einleuchtend und überschaubar. Zugegebenermaßen musste ich mich dem Terminus Chronotopos noch aus verschiedenen kulturanalytischen Richtungen nähern, um ihn wirklich zu greifen. Ich verstehe Chronotopoi im Folgenden als überindividuell geteilte Raum-Zeit-Konfigurationen, die mit spezifischen Wertvorstellungen angereichert sind und somit Handlungsmaßstäbe für Individuen bereitstellen, die sich im jeweiligen Chronotopos wiederfinden.

Das sprachwissenschaftliche Konzept der Deixis, sowie Skalierungen als Mittel der Orientierung oder Perspektivierung (vgl. Carr & Lempert 2016: 3) waren Puzzlestücke, die es mir ermöglichten, eine weitere Bedeutungsebene von Chronotopoi zu erschließen: „Chronotope[s] can be seen as invokable chunks of history organizing the indexical order of discourse; scale, in turn can be seen as the scope of communicability of such invocations. Thus, whenever we see chronotopes, we see them mediated by scales.“ (Blommaert 2015: 1) Von Blommaert ausgehend halte ich es für produktiv, die Kenntnis von Chronotopoi und von Skalierungen als Entschlüsselungsressource zu betrachten. Chronotopoi ermöglichen die Einordnung von Interaktionen in einem historisch situierten Kontext und damit eine spezifische Interpretation (vgl. ebd.: 11). Mir verrät etwa mein Erfahrungswissen über Chronotopoi, in denen ich mich im Alltag bewege, dass ich still werden soll, wenn die Lichter im Kinosaal dimmen, dass ich bei einem Rockkonzert schreien und springen darf, aber nicht während einer Opernaufführung.

Als analytischer Begriff scheint mir Chronotopos nicht nur nützlich, um zwischenmenschliche Interaktionen allgemein zu verstehen, sondern auch um sich einem Dilemma zu widmen, mit dem die Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie lange gerungen hat: Dem Anspruch nach wissenschaftlicher Objektivität. Wenn wir mit Bachtin und Blommaert davon ausgehen, dass Individuen sich nicht grundsätzlich in einem wertneutralen Raum, einer wertneutralen Zeit aufhalten, sondern dass ihre historisch-geographische Situiertheit in ihre Wertungen einfließt, dann müssen wir davon ausgehen, dass wissenschaftliche Wissensproduktion durch Chronotopoi mitgestaltet wird. Donna Haraway bringt zur Sprache, wie verunsichernd das sich anfühlen kann:

„We would like to think our appeals to real worlds are more than a desperate lurch away from cynicism and an act of faith like any other cult’s, no matter how much space we generously give to all the rich and always historically specific mediations through which we and everybody else must know the world.“ (Haraway 1988: 577)

Auf den folgenden Seiten möchte ich theoretische Überlegungen zum Chronotoposbegriff anhand von Beispielen aus der Raumzeit meines Alltags erden. Ich werde betrachten wie einige ,historically specific mediations‘ des Chronotopos 2020 Konzeptionen von (wissenschaftlichem) Wissen einrahmen und mitgestalten.

Ausnahmezeit

2020 als das Ausnahmejahr, das Höllenjahr, das verlorene Jahr hat längst Meme-Status erreicht. Aber während galgenhumoristische Witze über ein vergangenes Jahr keine Neuheit sind, scheint es über 2020 einen selten ausgeprägten Konsens zu geben. 2020 lässt sich konzipieren als das Jahr der Distanz, self-isolation, Heimquarantäne, #stay(fucking)home. Zugleich das Jahr, in dem es vor allem um interpersonale Interaktionen ging. Contact-tracing, Zusammenhalten, Zoomen gegen die Einsamkeit. Das Jahr der globalen Pandemie, eine Herausforderung die jedes Land der Welt auf einmal getroffen hat. Damit möchte ich keine flache „alle-im-selben-Boot“-Rhetorik betreiben, denn selbstverständlich hat die Corona-Pandemie zusammen mit anderen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen die globale Bevölkerung in unterschiedlicher Weise und Härte getroffen. Das Virus mag sich über manche Privilegien hinweggesetzt haben – andere hat es nur verstärkt, etwa die Ausbeutung von Arbeiter*innen in unterbezahlten Jobs wie Pflege oder Logistikbetrieben. Zugleich haben historisch benachteiligte und unterdrückte afrikanische Staaten die Pandemie im Vergleich zu Europa und Nordamerika relativ gut überstanden (vgl. Franke 2020). Obgleich die Pandemie also für jede*n anders zugeschlagen hat, fasziniert mich, dass sich so viele Menschen auf der Welt einig sind: 2020 war ein besonderes Jahr. Diese Aussage bettelt geradezu nach Dekonstruktion. Was bedeutet es ein Jahr als Ausnahme zu kennzeichnen?

Ein Jahr ist aus menschlicher Sicht ein Sinnabschnitt. In Seminardiskussionen haben wir mehrmals festgestellt, dass Zeit portioniert wird, um der persönlichen Biografie und der Geschichte Struktur zu verleihen. Historische Ereignisse wie der Fall der Berliner Mauer oder Hurricane Katrina dienen dazu als Referenzpunkte, was die Archäologin und Anthropologin Shannon Dawdy „ruptures“ nennt:

„An experience of rupture occurs when what we have been experiencing as continuity (a progressive linearity or a foglike unchanging duration) suddenly feels shattered. The tempo of experience speeds up so dramatically that our capacity to narrate the connection between past and present breaks down. Ruptures occur with disaster, war, economic collapse, social upheaval, and more personal traumas. A rupture can feel like an end-time, apocalyptic. Like a hurricane.“ (Dawdy 2016: 31)

Oder wie eine Pandemie. Corona hat mein Verhältnis zur Zukunft grundlegend geändert. Ich habe mich lange als Person verstanden, die für alles einen Plan A, B und am besten auch noch C hat. Doch seit etwa einem Jahr hat sich der Zeitraum, in dem ich mir zutraue Vorhersagen zu treffen und Pläne zu schmieden erheblich verkürzt. Ich habe mich beispielsweise daran gewöhnen müssen erst kurzfristig zu erfahren, ob eine Veranstaltung stattfindet oder verschoben wird.

Für viele Menschen war 2020 ein solcher, die Zeit strukturierender Umbruch und erfüllt eine ähnliche Funktion wie der indexikalische Begriff „Wende“ in der Untersuchung von Deanna Davidson, nämlich eine ganze Wagenladung an Konnotationen und Erfahrungen, eine Weltsicht, ein Lebensgefühl zu transportieren (vgl. Davidson 2007: 213). In Gesprächen mit Freunden und Familie über aktuelle Nöte reichte es manchmal, wenn es mir sonst an tröstenden Worten fehlte, kopfschüttelnd „2020“ zu murmeln. Das Gegenüber fühlte sich verstanden. Es geht nicht darum zu beweisen, dass 2020 objektiv schlimmer gewesen ist als 2019, oder 2016 oder 1920. Wer von 2020 als Ausnahme spricht, signalisiert damit eine Sprecher*innenposition in einem geteilten leidvollen Chronotopos. Das gemeinsame Boot ist impliziert. Die Zeit zu portionieren und das Böse ins Kapitel 2020 zu verbannen kann Hoffnung bringen. Wir können im neuen Jahr sagen: Es ist vorbei, das Schlimmste ist geschafft. Wie Bachtin schreibt: „Die Chronotopoi können sich aneinander anschließen, miteinander koexistieren, sich miteinander verflechten, einander ablösen, vergleichend oder kontrastiv einander gegenübergestellt sein oder in komplizierteren Wechselbeziehungen zueinander stehen.“ (2017: 190) Der Chronotopos, in dem man sich verortet, wird durch jene konstituiert, die vorangegangen sind, die noch kommen werden, die von einem selbst entfernt sind. Welche Zeitrechnung nehme ich für mein Geburtsjahr – 1998 Nach Christus, oder 22 Vor Corona? Wenn ich auf den folgenden Seiten den Chronotopos 2020 benenne, dann meine ich damit nicht das strenge Kalenderjahr 2020, sondern einen Sinnabschnitt geprägt durch die erwähnten Konnotationen, Gefühle von Entbehrung und Ausnahme. Somit kann der Chronotopos 2020 durchaus im Kalenderjahr 2021 weiterlaufen.

Aufgeklärte Zeit

„Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis einmal sagen?“ (Merkel 2020: 14) Fragen wie diese, gestellt von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber dem Bundestag, dürften sich viele Bewohner*innen des Chronotopos 2020 gestellt haben. Als Ausschnitt dieses Chronotopos‘ möchte ich eine Rede Merkels vom 09.12.2020 analysieren, und zwar genau diese Rede, weil sie meines Erachtens veranschaulicht inwiefern Raum-Zeit Bezüge Orientierung stiften, Wertvorstellungen überformen und davon ausgehend Handeln lenken. In der ausgewählten Rede begründet die deutsche Bundeskanzlerin ihre politische Haltung indem sie sich selbst in einer einzigartigen Krisensituation verortet, und ihre Handlungen mit zukünftigen und vergangenen Chronotopoi in Beziehung setzt.

Durch Verweise auf historische Pandemien situiert Angela Merkel das heutige Deutschland, sowie die größere Raumeinheit Europa, in einer linearen Fortschrittsgeschichte der Pandemiebekämpfung (vgl. ebd.:10f). Diese historische Einbettung ist eine Mahnung aus der Geschichte zu lernen um Unheil zu vermeiden und gleichzeitig eine Ermutigung. Denn wenn Geschichte linear verläuft, kann man von der tröstenden Zuversicht ausgehen, dass die Welt jeden Tag ein kleines bisschen besser wird, oder zumindest fortschrittlicher. Ein ums andere Mal lobt Merkel die Wissenschaft (vgl. ebd.: 3) und verteidigt das virologische Mandat, Kontakte in der Vorweihnachtszeit zu reduzieren, gegen den prompten Zwischenruf: „Das ist nicht erwiesen!“ Die Kanzlerin antwortet: „Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte.“ (ebd.: 12)

Die Aufklärung repräsentiert den Triumph von Wissenschaft über Aberglauben und Ignoranz. Sie erhebt Rationalität und Objektivität zu einem leitenden Grundprinzip. Als werdende Europäische Ethnologin misstraue ich dem Konzept Objektivität, doch schätze den Respekt der Kanzlerin vor wissenschaftlichen Erkenntnissen. Überdeutlich wird aus der Aussage Merkels, dass die Aufklärung für eine Sonderstellung Europas gesorgt habe, als Vorreiter auf einem evolutionistischen Zeitstrahl. Wenn Rationalität zu einem Wert erhoben wird, wird die Vorherrschaft von Ländern, die ihre Rationalität etwa durch naturwissenschaftliche Durchbrüche unter Beweis stellen, naturalisiert. Die angeblich ersichtliche Fortschrittlichkeit Europas legitimiert seine Dominanz auf der weltpolitischen Bühne.

Johannes Fabian hat u.a. in „Time and the Other“ sehr detailliert die Entwicklung eines Allochronismus nachgezeichnet, der westliche industrialisierte Länder, oder Länder aus denen Ethnolog*innen zu Fabians Zeit typischerweise kamen, in einer anderen Zeit platziert als die angeblich rückständigeren Gesellschaften in die Ethnolog*innen traditionell mit dem Notizbuch unterm Arm aufbrachen. Einfacher gesagt – die Ethnologie verweigert den Subjekten ihrer Forschung Gleichzeitigkeit (vgl. Fabian 2014: 143f). Obgleich Fabians Schwerpunkt auf der ethnologischen Disziplin liegt, sind seine Ideen unschwer in Merkels Aussagen wiederzuerkennen:

„Uns leitet dabei, dass Deutschland ein starkes Land ist, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, ein wichtiger Partner in der Europäischen Union, der Nato, bei den Vereinten Nationen, ein weltweit anerkanntes, freies, offenes, demokratisches Land und ein Land mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und einer starken Zivilgesellschaft. Diese Stärke − das ist das, was uns leitet in diesem Haushalt − wollen wir auch in dieser Ausnahmesituation erhalten und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir nach Überwindung der Pandemie da wieder anknüpfen und diese Rolle auch weiterspielen können.“ (vgl. Merkel 2020: 2)

Vorgestellt wird hier ein globaler Chronotopos, in dem Kooperation, Gemeinschaft, partnerschaftliches Denken über nationalstaatliche Grenzen hinweg einen hohen Stellenwert einnehmen. Es ist jedoch auch eine klar hierarchisch geordnete Welt, in der die Starken und Fortgeschrittenen den weniger Glücklichen den Weg weisen: „Deutschland hat sich allerdings stark beteiligt, damit eben Impfstoffe beschafft werden können, nicht nur für Europa, nicht nur für Großbritannien, nicht nur für die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern genauso für die Entwicklungsländer.“ (vgl. ebd.: 10) Man könnte dies als gutmütig-paternalistischen Eurozentrismus bezeichnen, oder als verschleierte Fortsetzung von Kolonialpolitik. Solidarität ja, aber innerhalb einer Hierarchie. Denn die Vorreiterrolle wolle man bei aller Hilfsbereitschaft nicht aufgeben.

Postfaktische Zeit

Nachdem sie den Geist der Aufklärung heraufbeschworen hat und der Beifall verklungen ist, fährt Merkel fort:

„Ich habe mich in der DDR für das Physikstudium entschieden – das hätte ich in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nicht getan -, weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten auch nicht. Und das wird auch weiter gelten. Da brauchen wir uns gar keine Sorgen zu machen.“ (ebd.: 12)

Mit dem Verweis auf den Chronotopos DDR stellt die Kanzlerin eine implizite Verknüpfung zwischen politisch illegitimen Positionen her. In der DDR wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt, doch selbst die autoritäre Regierung der DDR habe vor unumstößlichen Fakten weichen müssen. Auch die Corona-Leugner*innen könnten sich nicht über Fakten hinwegsetzen. Dr. Merkel erinnert außerdem an ihren Status als Wissenschaftlerin und beansprucht damit eine Form der Autorität, die unabhängig von politischer Gesinnung gelten solle – die Autorität der Fakten. Hier kommen wir zu einem Kernstück des Chronotopos 2020, nämlich einer politisierten Debatte um die Legitimität wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Die Kanzlerin verortet sich und ihr Land in einem Chronotopos, in dem Wissenschaft für Fortschritt, Macht, Ansehen und Wohlstand gesorgt hat. Fakten können uns sagen wie vernünftig und ethisch richtig zu handeln ist. Prägend für diesen Chronotopos, so kommt es in der Rede zutage, ist der Konflikt zwischen Fakten und dem menschlichen Willen, der unter ihnen leidet und/oder sich ihnen aus Sturheit widersetzt. Ignoranz, Täuschung aber auch wohlmeinende Fehlhandlungen angesichts der Fakten müssen bekämpft werden.

Doch in dieser Darstellung bleibt eine wichtige Facette der Debatte um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und Autorität außen vor. Das Problem ist nicht bloß, dass die eine politische Seite an die Wissenschaft glaubt und die andere partout nicht, sondern dass Akteur*innen wissenschaftliche Erkenntnisse, die der eigenen politischen Weltsicht entsprechen, heranziehen und andere delegitimieren oder leugnen. Die Europäische Ethnologin Marion Näser-Lather erforscht beispielsweise die Delegitimierung der Gender Studies als wissenschaftlicher Disziplin durch Akteur*innen, die selbst Teil der akademischen Landschaft sind. Etwa versucht der im rechts-reaktionären Spektrum angesiedelte Blog Sciencefiles.org das Etikett „Kritische Sozialwissenschaften“ für sich zu beanspruchen und Gender-Forscher*innen zu dämonisieren. Als kritische Sozialwissenschaft könnte sich auch die Europäische Ethnologie plausibel betiteln, berechtigte Kritik an akademischer Wissensproduktion würde je nach Sprecher*innenposition also etwas komplett Gegensätzliches bedeuten. Merkel erntete nicht gänzlich unverdientes Lob dafür, dass sie sich öffentlich auf die Seite der Wissenschaft gestellt und den sogenannten Querdenker*innen mit ihrem Verweis auf die Aufklärung Ignoranz und Rückständigkeit vorgeworfen hat. Doch Corona-Leugner*innen selbst werden dadurch vermutlich nicht in ihrem Vertrauen an die eigenen ,alternativen Fakten‘ erschüttert.

Nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft beschwört die Kanzlerin, wenn sie sichtlich bewegt dazu aufruft in den Tagen vor Weihnachten Kontakte zu reduzieren: „Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis einmal sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden?“ (Merkel 2020: 14) Den Chronotopos 2020 prägt das Bewusstsein, Geschichte zu durchleben. Die eigenen Reaktionen auf die Pandemie, auf diese „rupture“ werden dokumentiert; die von hochrangigen Politiker*innen natürlich besonders, aber auch sonst sind Individuen durch digitale Vernetzung sichtbarer als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. So wie wir kopfschüttelnd aus dem aktuellen Chronotopos auf eine ,unaufgeklärte‘ Vergangenheit zurückblicken, wird die Zukunft einmal über uns urteilen, über unsere Handlungen in einer Krise. Der Aufruf zu Kontaktreduzierungen ist ein Appell Verantwortung zu übernehmen, der Wissenschaft zu folgen. Er beinhaltet den Glauben an menschliche Handlungsmacht, menschliche Ermächtigung durch Wissenschaft: „Wir haben jetzt schon so viele Monate mit diesem Virus verbracht, und wir haben doch gelernt: Wir können etwas dagegen tun!“ (ebd.) Auch wenn es „unmenschlich“ sei, immer Distanz zu anderen wahren zu müssen, müsse hier der menschliche Wunsch nach Nähe überwunden werden, um sich ethisch zu verhalten und Menschen zu schützen.

Selbstreflexionszeit

Wie gesagt gehe ich von der Situiertheit wissenschaftlicher Wissensproduktion aus und beäuge wissenschaftliche Deutungshoheit nicht ohne Vorbehalte – macht das mich jetzt zur Querdenkerin? Ein Zeitungsartikel über „Die Irrtümer der Querdenker“ bietet eine Sichtweise, die es mir als Objektivitätsskeptikerin ermöglicht dem Wissenschaftsbetrieb gegenüber kritisch zu bleiben und dennoch im Sinne der Merkel‘schen Aufforderung ,vernünftig und verantwortlich‘ zu handeln. Der Autor Jens Münchrath argumentiert mit Fakten, untermauert seine Thesen mit Zahlen und Balkendiagrammen, nichtsdestotrotz verschweigt er nicht die Fehlbarkeit der Wissenschaft, sondern bezeichnet sie sogar als Stärke. Wer auf die Wissenschaft hört müsse: „eine herantastende Politik von Versuch und Irrtum [betreiben], weil selbst die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht sicher sind. Es heißt, im Zweifel bewusst Wohlstandseinbußen in Kauf zu nehmen, um Leben zu schützen, meist das der Schwächeren.“ (Münchrath 2020) Ich kann mit dieser Sichtweise besser leben als mit der Merkel‘schen, weil sie Raum für das Zweifeln zulässt. Was bliebe der Europäischen Ethnologie denn, wenn sie nicht mehr am Selbstverständlichen zweifeln könnte?

„Wichtig allein ist, dass es einen Wettbewerb zwischen den wissenschaftlichen Standpunkten gibt – und das in einem transparenten Umfeld. […] Wie in der Wissenschaft bleibt der Politik in dieser unsicheren Zeit nur der Ansatz des Versuchs und Irrtums: Maßnahmen testen, sie möglicherweise nachjustieren und wenn nötig wieder verwerfen.“ (ebd.)

Verschiedene Standpunkte innerhalb der Wissenschaft anzuhören kann ich nur befürworten. Münchraths Formulierung klingt allerdings so als ob es nur eine Frage der Zeit sei, bis die objektive Wahrheit sich durchsetzt. Ganz von allein – oder vielleicht von einer unsichtbaren Hand gesteuert? Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass institutionelle Machtgefälle und Privilegien mitbestimmen, welche Wahrheit sich im Wissenschaftsbetrieb durchsetzt. Donna Haraways Essay „Situated Knowledges“ trägt zum Verständnis bei, warum Wissenschaft nicht als Wettbewerb mit einem einzelnen Sieger stattfinden sollte: „[O]nly partial perspective promises objective vision. […] Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object. It allows us to become answerable for what we learn how to see.“ (1988: 583)

Mittlerweile bekundet eine Fülle an Stimmen aus der Medizin, dem Alltag, der Praxis der Krankenversorgung, der Geschichtswissenschaft usw., man müsse das Virus ernst nehmen. Und doch kommt kein gesellschaftlicher Konsens über die Pandemiebekämpfung zustande. Rationalität und Expertenwissen können die Querdenker*innen nicht überzeugen. Die Beobachtung der Ereignisse in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht, und Appelle an Nächstenliebe schaffen es auch nicht. Auf Fakten, auf wissenschaftlicher Autorität zu bestehen ist – tragischerweise – gescheitert. Es ist natürlich ungerecht und verkürzt die unzähligen Opfer der Corona-Pandemie ausschließlich den Corona-Leugner*innen zuzuschreiben, oder auch einer gescheiterten Wissenschaftskommunikation. Aber die berüchtigten alternativen Fakten haben durchaus eine Rolle in der Entwicklung dieser Pandemie gespielt. Der Vertrauensverlust in wissenschaftliche Autorität hat Menschenleben gekostet.

Vielleicht liegt die Schwierigkeit darin, dass wir – damit meine ich die Idealvorstellung einer aufgeklärten rationalen Gesellschaft – jetzt schon zu spät in den Kampf gegen diese mentale Polarisierung ziehen. Sozusagen eine Maske aufsetzen, nachdem wir schon in die volle U-Bahn hineingehustet haben. Vielleicht fiele uns die Kommunikation mit Anhänger*innen von Fake News nicht so unmöglich schwer, wenn wir anstelle von Objektivität kritisches Denkvermögen zu einem Wert erhoben hätten. Anstelle dem „god trick“ nachzueifern, hätten ,aufgeklärte‘ Gesellschaften eine Haraway-esque Epistemologie von situiertem Wissen annehmen können, hätten lehren können zu fragen, wer hinter der Kamera steht (ebd.: 581). Hätten wir mehr Menschen die Werkzeuge gegeben, selbst die Situiertheit einer Nachricht zu erkennen, wären sie nicht so leicht denen ausgeliefert, die sie aus Machtgier und Bigotterie manipulieren. „Situated knowledges are about communities, not isolated individuals. The only way to find a larger vision is to be somewhere in particular“, so Haraway (ebd.: 590). Anstatt sich in die jeweils eigene Echokammer zurückzuziehen, hätte man sich vielleicht als in einem Meer von Seifenblasen verortet sehen können, die nur durch semipermeable Membranen voneinander getrennt sind.

Ich schreibe diesen Absatz am Morgen des 07.01.2021. Die Linse, durch die ich in Moment blicke, ist eingefärbt von dem Sturm aufs Washingtoner Kapitolgebäude, der sich in den USA ereignet hat. Während ich mehrere Zeitzonen entfernt an meinem Schreibtisch sitze frage ich mich zusammen mit Millionen anderen – wie konnte das passieren? Wie hätte man es verhindern können? Wie komme ich zu den Leuten durch, deren Realität so weit von meiner entfernt ist? Ich sehe ringsum keine Seifenblasen, sondern Panzerglas.

Zeit zu Handeln

Der Chronotopos 2020 ist für mich geprägt von Unsicherheit, Unplanbarkeit, Entwicklungen, hinter denen ich nicht ganz herkomme oder die mich so bedrücken, dass ich lieber nicht zu genau hinschauen würde. Vor allem die Unsicherheit darüber, wie ich mich in dieser spezifischen Raumzeit ,richtig‘ verhalten soll. Mir gehen anders gesagt dieselben Fragen durch den Kopf an denen sich Denker*innen seit Jahrtausenden die Zähne ausbeißen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre soll einmal gesagt haben: „Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber diese ist die unsere.“ Ganz in diesem Sinne möchte ich also die Ärmel hochkrempeln, Hände desinfizieren und das Beste aus dem Chronotopos machen, in den ich geworfen wurde. Steigen wir von der theoretischen Sphäre auf den guten alten Boden der Tatsachen herab, um zumindest auf die zweite Frage eine Antwort zu finden.

Ich hadere mit manchen Punkten von Merkels Ansicht, und von Münchraths, und von Haraways. Donna Haraways „Situated Knowledges“ erachte ich als gekonnt formulierten und inspirierenden Aufruf dazu reflektierte (Geistes)Wissenschaft zu praktizieren, der mich daran erinnert hat, was ich an der Epistemologie der Europäischen Ethnologie so schätze. Wissen als situiert zu betrachten, macht Widersprüchlichkeiten im Alltag verständlicher und bietet eine Chance dazu die Positionierung anderer zu verstehen. Aber kann ich diesen theoretischen Zugang in eine Handlungsanleitung für den Alltag übersetzen?

Sicherlich nicht für alle Menschen, aber zumindest für mich zeichnet sich der Chronotopos 2020 unter anderem durch ein verstärktes Bewusstsein dafür aus, wie stark mein Handeln die Menschen in meinem Umfeld betrifft, und umgekehrt. Ich fühle mich nicht nur für mich selbst verantwortlich, ich fühle mich mitverantwortlich. Ich zweifle an der Politik, an den Bedingungen akademischer Wissensproduktion, an so ziemlich allem, aber ich habe keine Zweifel daran, dass mir das Schicksal meiner Mitmenschen am Herzen liegt. Das begründe ich nicht wissenschaftlich, sondern empathisch. Im Alltag werde ich bei Versuch und Irrtum bleiben müssen. Weiter kritisch hinterfragen, aber im Zweifelsfall – von denen es so viele gibt – lieber biegsam sein. Lieber mein Leben umstellen und Unangenehmes in Kauf nehmen, als meinen Willen durchzusetzen und andere zu gefährden. Vielleicht ist das Einzige, was ich wirklich wissen kann, womit mein Gewissen klarkommt und womit nicht. Empathie ist ein Maßstab, anhand dessen ich mein Leben und Handeln im Chronotopos 2020 organisieren kann. Empathie ist nicht rational, sie ist nicht objektiv oder nachweisbar. Aber in meiner Seifenblase ist sie wertvoll, ist sie real.

Dieser Text entstand im Rahmen des Seminars „Raum-Zeit-Konfigurationen: Chronotopos“ unter der Leitung von Dr. Anna Weichselbraun. Weitere studentische Beiträge aus Lehrveranstaltungen sind hier zu finden.

Literatur

  • Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Berlin 4. Auflage 2017.
  • Blommaert, Jan: Chronotopes, Scales, and Complexity in the study of language in society. In: Annual Review of Anthropology 44(1), 2015. 105-116.
  • Carr, E. Summerson; Lempert, Michael (Hg.): Scale. Discourse and Dimensions of Social Life. Oakland 2016. 1-21.
  • Davidson, Deanna: East spaces in West times: Deictic reference and political self-positioning in a post-socialist East German chronotope. In: Language & Communication 27, 2007. 212–226.
  • Dawdy, Shannon Lee: Patina: a profane archaeology. Chicago, London 2016.
  • Fabian, Johannes: Time and the Other. How Anthropology makes its object. New York 2014.
  • Haraway, Donna: Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies Vol. 14, No. 3, 1988. 575-599.

Quellen