Bericht zum Institutskolloquium „Gewalt_losigkeit“

Geschätzte Lesedauer: 8 Minuten

Bild von Bernhard Fuchs

Beitrag von Birgit Palasser, Tabea Christa, Carolin Ave, Carolina Gusenleitner und Chihab Kraiem

Die Vortragsreihe „Gewalt_losigkeit“, die während des Wintersemesters 2022 am Institut für Europäische Ethnologie von Bernhard Fuchs veranstaltet wurde, widmet sich aus verschiedenen theoretischen und fachspezifischen Perspektiven den Phänomenen von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Die einzelnen Vorträge bieten ein reichhaltiges Material für einen spannenden, erkenntnisreichen, zuweilen auch kontroversen und zu Fragen anregenden Dialog. Themen sind: Gandhis Schweigen, Fraternisierung als Kriegsverweigerung, Unterhaltskonflikte, Grenzen des Pazifismus, Gewalt und Automobilität, Wolfsmanagement, Lachen, Gewalt und kreativer Protest, Hunger und Gewalt, verwundete Städte, rechte Gewalt, Selbstverteidigung sowie zwei off-topic Projektpräsentationen zu Klima bzw. Urlaub in Österreich nach 1945, die sich jedoch im immer wieder diskutierten Kontext des Anthropozäns einordnen lassen.

Der vorliegende Bericht bündelt die Vorträge zu drei Themenkomplexen, die sich auf die herausgearbeiteten Aspekte von Gewalt_losigkeit beziehen: als inhärente Qualität in (nicht)menschlichen Relationen, strategische bzw. politische sowie phänomenologische und soziale Dimensionen.Dabei werden Einblicke in die vorgestellten Forschungsthemen geboten und die Kernaussagen zu Gewalt_losigkeit herausgestellt.

Inhärenz von Gewalt_losigkeit: Anthropozän, (nicht)menschliche Relationen und Kommunikation

Wolfsrückkehr – ein stehender Begriff, der einer Fiktion entspricht: sie kehren weder als Individuen noch an den gleichen Ort zurück. Marlis Heyer gewährt mit ihrem Vortrag „Gewalt_losigkeit beyond Humanity – von Wölfen, Schafen und Landschaften“ einen Einblick in die Multispecies Ethnography, in welcher der Fokus auf nicht-menschliche Entitäten und ihr Zusammenleben gesetzt wird. Im Kontext einer sich wandelnden Kultur-Landschaft – ein Braunkohleabbaugebiet geprägt durch Zerstörung von Natur, nunmehr eine postindustrielle Peripherie – untersucht sie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse im Umgang mit der Wolfsrückkehr. Im Gegensatz zum Wolf denken wir Schafe als Kulturträger – sie gehören als Nutztiere zum Haushalt – die Beziehung ist durch eine umsorgende Ko-Abhängigkeit geprägt. Kulturell und emotional aufgeladene Gewalt stellt sich in Form von Gegensätzen wie stark/schwach, verletzend/verletzlich dar. Unter den Landwirt*innen wird der Aufbau von Elektrozäunen als wirksames Instrument der Gewaltprävention gegen den Wolf gesehen.

Die aufkeimende Gewalt im Kontext der Wolfsrückkehr erfordert die Betrachtung dieser auf drei Ebenen: der unmittelbaren Form der Gewalt, der mittelbaren und das Zusammendenken von Landschaft und Gewalt.

„Wie haben die Menschen eine technowissenschaftliche Realität erschaffen, in welcher alle Verhältnisse auf (menschlicher) Gewalt und Herrschaft basieren und in welcher diese zur Norm geworden sind?“ fragt Robert Braun in seinem Vortrag „Automobility Violence“. Vor dem Hintergrund der Science and Technology Studies nähert er sich den Relationen von Automobilität und Gewalt mit dem Konzept der politischen Ontologie. Aus dieser Perspektive ist Automobilität mehr als nur ein Transportsystem. Sie ist eine sozial-politische Ordnung, die sich global erstreckt und über multiple Formen von Macht- und Gewalt Bedingungen schafft, unter welchen es möglich wird, den Ausnahmezustand – das tagtägliche Bedrohen von (menschlichen) Leben und seiner Umwelt als normal anzunehmen und nicht als Gewalt anzuerkennen. Braun hebt hervor, dass Automobilität nur eine Manifestation der politischen Ontologie des Anthropozäns darstellt.

Im Vortrag „Gandhi’s Silence“ setzt sich Faisal Devji mit Gandhis Konzeption und der Rolle von Schweigen und Sprachlosigkeit innerhalb dessen politischer Philosophie auseinander. Neben Gewaltlosigkeit, Nicht-Kooperation und Besitzlosigkeit sind auch das Schweigen und die Sprachlosigkeit gekennzeichnet durch deren negative Form und folglich von Enthaltsamkeit und elementarer Leere. Faisal Devji diskutiert, wie im Kontext der indischen Kolonialgeschichte das Schweigen eine Unterbrechung von gewaltvollen sprachlichen Vermittlungen in der Herstellung von gesellschaftlichen Relationen sowie eine Bewusstwerdung dieser Gewalt ermöglichen soll. Im Schweigen ist eine Unmittelbarkeit von Beziehungen angelegt. Diese Unmittelbarkeit, die sich gleichermaßen auf zwischenmenschliche und inter-species Verhältnisse bezieht, begründet sich dabei nicht auf Gemeinsamkeiten, sondern in der Nicht-Kommunizierbarkeit bzw. einer radikalen Unwissenheit, die die Grundlage für moralisches Handeln bietet.

Strategien der Gewalt_losigkeit: Krieg, Spiel, Widerstand und Definitionen

Hungersnöte als menschengemachte Katastrophen und Form der strukturellen Gewalt – darum ging es im Vortrag „Hunger und Gewalt. Eine globalhistorische Perspektive“ von Rolf Bauer und Swenja Jurisch. Doch wann sprechen wir von einer Hungersnot? Lange Zeit wurden Hungersnöte als Instrument der Natur interpretiert zur Wiederherstellung der Balance zwischen Ressourcen und Bevölkerung. Heute ist klar: Hungersnöte haben auch menschengemachte Ursachen. Denn Hungersnöte der Vergangenheit zeigen, dass neben ökologischen Faktoren insbesondere Machtstrukturen, Herrschaftsformen und politische Entscheidungen maßgeblich für Hungersnöte sind. Hungersöte können auch als eine Form struktureller Gewalt verstanden werden. Hungersnöte des 20. Jahrhunderts wurden mit dem Begriff des Genozids verknüpft, wie etwa beim Holodomor. Wann jedoch von einem Genozid gesprochen wird, hat neben der juristischen und geschichtswissenschaftlichen, vor allem eine politische Dimension. Je nach politischen Interessen können Narrative verändert und Gedenktage instrumentalisiert werden. Sie sind daher wichtige Werkzeuge zur kulturellen Identitätsbildung.

Im Vortrag „Fraternisierung als Kriegsverweigerung?“ stellt Maude Williams „live and let live“-Strategien der Armeen Frankreichs und Nazi-Deutschlands entlang des Rheins zwischen 1939 und 1940 vor. Diese Phase des Krieges war so ruhig, dass sie sogar als „Drôle de Guerre“, als die Langweile des Krieges beschrieben wurde. Anders als im Ersten Weltkrieg wurde hier das Einstellen der Kriegshandlungen nicht von der Heeresleitung unterdrückt. Im Gegenteil: die Fraternisierung war Teil der Kriegsbemühungen Deutschlands. Propagandakompanien der Wehrmacht waren an der Front aktiv, um die Kampfbereitschaft der Franzosen zu unterminieren, Informationen zu beschaffen und Hasspropaganda gegen die Briten zu verbreiten. Das Fehlen von offensichtlicher militärischer Gewalt war somit nicht ein Aufbegehren gegen den Krieg, sondern bereitete einen größeren Krieg vor.

In den Vorträgen „Laughter and Violence“ und „Between Protesting and Witnessing“ setzen sich Ulrike Davis-Sulikowski mit der Beziehung von Gewalt und Lachen und Diego Rotman mit der protestierenden Performanz der Lächerlichkeit auseinander. Die Aufmerksamkeit lenken sie dabei auf unterschiedliche Formen von kreativem Widerstand und Freiräume für disruptive Veränderung. Mit dem Archetyp des Tricksters und dem Phänomen Spiel als konstitutives Element von Kultur, wirft Ulrike Davis-Sulikowsi einen kultur- und sozialanthropologischen Blick auf die ambivalenten Relationen von Spiel, Lachen, Gewalt und Veränderung. Dabei diskutiert sie die Qualität des Lachens und des Spiels: Ist es ein regelgeleitetes Spiel mit Macht und Gewalt, oder soll es verdecken, was ein subversives Lachen entblößen möchte? Diego Rotman zeichnet mit dem Portrait der Kunstfigur Az-Oolay, einer Police-Clownin, die in Jerusalem bei Demonstrationen aktiv ist, ein eindrucksvolles Bild von kreativem Protest. Sie fügt sich provokativ in die Reihen der polizeilichen Gewalt ein und stellt deren Performativität der Macht zur Schau.

Im Vortrag „Wie gefährlich ist Pazifismus?“ thematisiert Olga Reznikova die Rolle von Gewalt, vor allem den Verzicht auf Gewalt für Protestierende in Russland. Sie bezieht sich dabei auf eine vierjährige ethnographische Forschungsarbeit zu Protesten in und um Moskau. Soziale – wie etwa die der LKW-Fahrer*innen – und politische Proteste – wie etwa die Anti-Korruptionsproteste – würden größtenteils Gewalt ablehnen, keine Revolution beabsichtigen und betonen in Interviews die Friedlichkeit ihres politischen Ausdrucks. In der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen beiden Protestgruppen käme häufig ein völkischer Gemeinschaftsbegriff zum Ausdruck. Sie sieht ausgehend von ihrer Ethnografie und Kritischer Theorie die Anzeichen für eine Faschisierung Russlands. Und argumentiert mit Bezug auf Walter Benjamins Konzipierung von Gewalt und Gerechtigkeit, dass deshalb eine Gefahr von einem Pazifismus Europas in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ausgehe.

Stefan Wellgraf bietet in seinem Vortrag „Rechte Gewalt in Ostdeutschland“ einen Überblick über ethnographische Forschungszugänge zu Rechtsextremismus – ein Feld, in dem ethnologische Perspektiven nicht dominant vertreten sind. Er arbeitet dabei unterschiedliche Konzeptionen von Gewalt heraus – ritualisierte Gewalt, als situierte Praxis, sowie an individuelle Biografien und strukturelle Entwicklungen gebundene Gewalt – und geht dabei auf die Stärken und Schwächen der Zugänge ein. Ausgehend von seiner ethnografischen Forschung zu Hooligans – seit 2014 – betont er vor allem die Notwendigkeit eines differenzierten Blicks auf Hooligans und deren politische Ausrichtung oder Gewaltbereitschaft. Anhand von zwei Beispielen von rechter Gewalt von Hooligans – 1984 in Jüteborg und 2016 im Mauerpark, zeigt er die jeweiligen spezifischen Positionen und Haltungen auf.

Phänomenologische, soziale und emotionale Dimension von Gewalt_losigkeit

Paul Bowman gibt in seinem Vortrag „Reorienting Violence: Self-Defence Training, Orientalism and the Sublime” einen Einblick in seine Forschung über Kampfkünste aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Die verklärte Rezeption von Konzepten asiatischer Kampfkünste, werden sehr trockenen, weniger verklärten Zugängen in modernen Selbstverteidigungssystemen gegenübergestellt. Der Vortrag ist dabei in Teilen mit Absicht eher offen und stellt Konzepte und Ideen zur Diskussion vor. Die Frage ob „Gewalt“ durch diese Praktiken reorientiert wird, wird in der abschließenden Diskussion weiter beleuchtet. Der Ausgangspunkt ist hier Judith Butlers Definition des physischen Schlages als klar erkennbare Gewalt, während im Kampfkunsttraining der physische Schlag sehr viel mehr und auch etwas ganz anderes sein kann.

„Wenn du nicht zahlst – geh ich zu Gericht“. Ein Gewaltakt für viele Betroffene. Spätestens ab dem 18. Lebensjahr stehen Unterhaltsempfänger*innen vor neuen rechtlichen Rahmenbedingungen: Die
Anspruchsberechtigung muss von den jungen Erwachsenen selbst verhandelt werden – ihre Bedürftigkeit aufzeigen. Felix Gaillinger gibt Einblick in die breite Thematik von Unterhaltskonflikten. Der Anspruch während der Ausbildung ist für jene gewährleistet, die sich selbst nicht finanziell erhalten können. Ob die Unterhaltspflichtigen leistungsfähig sind, wird immer öfter vor Gericht geklärt. Und die Vorgeschichte? Ein innerer Konflikt, der Weg zum Stadtjugendamt, die Beziehung zum Unterhaltspflichtigen wird in Mitleidenschaft gezogen, schriftliche Aufforderungen zum Einkommensnachweis sind förmlich, emotionslos und können als Provokation empfunden werden. Legitimation vor dem Zahlungspflichtigen muss aufgebaut werden und immer droht ein Scheitern. Das Einschalten eines Amts, obwohl es eine Unterstützung darstellt, bringt Beziehungen zum Einsturz, bringt Gewalt in die Eltern-Kind-Verhältnisse.

Anne Raulin geht in ihrem Vortrag „Wounded Cities” auf die Begrifflichkeit von verwundeten Städten mit Bezug auf die Auswirkungen des 9/11 Attentats auf New York City ein. Zentral in ihrer Konzeption aus anthropologischer Sicht sind drei Aspekte. Erstens, die Verbundenheit von Menschen mit ihrer physischen Umgebung, zweitens, die besondere Verbindung von Trauma mit der physischen Umgebung, wie sie nach 9/11 zum Ausdruck kam und drittens, Denkmäler als Elemente sozialer Identifikation, bei deren Zerstörung Emotionen ausgelöst werden können. Dabei betont Raulin, dass zur Wunde nicht nur die Verletzung, sondern auch die Heilung bzw. Wiederherstellung gehört. Das illustriert sie anhand der nicht zerstörten gegenüber dem World Trade Center liegenden St. Pauls Chapel in New York City. Die Kirche wurde nicht nur architektonisch zu einem Symbol der Resilienz und einige Monate nach dem Attentat zu einem Treffpunkt von unterschiedlichen Gruppen von Betroffenen, sondern auch zu einem Ort der Versöhnung.

Projektpräsentationen

Im Studienprojekt „Zimmer frei! Urlaub nach 1945 in Österreich” erforschen Studierende der Europäischen Ethnologie ein Jahr lang unter der Leitung von Christian Rapp und Brigitta Schmidt-Lauber die verschiedenen Dimensionen des Urlaubens. Dabei werden unterschiedliche Forschungsschwerpunkte gewählt, wie Landschaftswahrnehmung und Urlaubsfotografie, Tourismuswerbung, Urlaub mit kleinem Budget, Planung des Familienurlaubs, Arbeitsalltage der im Tourismus Beschäftigten, Gastfreundschaft, Auswirkungen des Tourismus auf einen Ort und Mitbringsel aus dem Urlaub. Es wird deutlich: Urlaub ist ein junges Phänomen und kann unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Wie Urlaub gemacht wird und welche Auswirkungen diese Praxis auf Orte haben kann, hängt von ökonomischen, sozialen und infrastrukturellen Faktoren ab.

Das Klimavolksbegehren 2022 als Ideengeber: Forderung nach einem Klimarechnungshof. In diesem Projekt geht es genau darum: Eine Realfiktion entstehen zu lassen. Dafür wird das Studio Klimawissen im Volkskundemuseum in Wien geschaffen. Es entstehen kollaborative experimentelle Workshops, performative Aufführungen und eine fiktive Kampagne mit einem realen Ziel. Denn in den fünf verschiedenen Acts werden Expert*innen aus Wissenschaft und Forschung zusammengebracht, um das inhaltlich zusammenhängende Klimawissen herauszuarbeiten. In den Acts wird definiert, was ein Klimarechnungshof in realiter zu prüfen hätte: Mobilitätswende, Verkehrswende, Ernährung und Landwirtschaft sowie erneuerbare Energie sind bereits fixierte Schwerpunktthemen. Auf das Institutsdesign Klimarechnungshof wird Wert gelegt. Fokus: auch ex-ante Prüfungen durchzuführen und Kompetenzen im partizipativen-demokratischen Bereich zu erweitern.

Fazit

Die Vortragsreihe eröffnet Einblicke in die breite Thematik von Gewalt_losigkeit anhand der verschiedenen vorgestellten Phänomene. Die einzelnen Forschungsthemen machen dabei deutlich, wie vielfältig und in unterschiedlichen Formen sich Gewalt_losigkeit in unserem Alltag manifestieren und auch dem Bewusstsein entziehen kann. Gewalt kann sich als soziale, politische, aber auch als Naturgewalt äußern. Insbesondere politische Gewalt kann dabei zu einer Kettenreaktion weiterer sozialer Gewaltformen führen.