Was wir diesen Sommer lesen

Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten

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Sind Sie noch auf der Suche nach der perfekten Sommerlektüre? Das wissenschaftliche Personal und Mitarbeiter:innen des Instituts für Europäische Ethnologie empfehlen alte und neue Schätze für sonnige Stunden im Freien.

Bernhard Fuchs

In der empirischen Kulturwissenschaft widmen wir uns ephemeren Erscheinungen, scheinbar banalen Tatsachen, einfachen, bescheidenen Dingen und trivialen Handlungen. Wir sind (natürlich ganz zu Recht) fest davon überzeugt, dass es im Alltäglichen Bedeutendes zu entdecken gibt. In der historischen Dimensionierung unseres Faches liegt der Fokus auf Gegenwartsgesellschaft, und historische Analysen reichen höchstens in die frühe Neuzeit zurück. In meiner Sommerlektüre gebe ich dem Verlangen nach, mich in kulturanthropologischer Perspektive größeren Zeiträumen und globalen Zusammenhängen der Menschheitsgeschichte zuzuwenden, um mich mit den ganz großen Fragen zu beschäftigen, die gegenwärtig Aufmerksamkeit und kritische Reflexion erfordern, wie das „Menschheitsverhängnis“ Gewalt, welches auch im kommenden Institutskolloquium thematisiert werden soll. Zugegeben: mit Wetter und Klima waren wir ja schon in diesem Semester bei einem der ganz großen Themen unserer Zeit.

In meiner geplanten Sommerlektüre stehen ganz oben:

David Graeber und David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen. London – New York: Klett-Cotta 2022.

René Girard: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Ouighourlian und Guy Lefort. Vollständige Neuübersetzung aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Freiburg im Breisgau et al.: Herder 2009.

Domenico Losurdo: Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer. Hamburg: Argument 2015.

Christian Elster

Es gibt diese Bücher, die länger darauf warten müssen, gelesen zu werden. Sie wandern von thematisch sortierten Stapeln auf dem Schreibtisch zurück ins Bücherregal, um dann erneut Interesse zu wecken. Eines davon ist Friederike Ottos „Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme“, das ich im Sommer endlich lesen werde. Friederike Otto ist Physikerin und Klimatologin am Imperial College London und gilt als eine Mitbegründerin der Attributionswissenschaft. Deren methodisch komplexes Ziel es ist, Korrelationen

zwischen Extremwetterereignissen und dem Klimawandel herzustellen. Welche Flut, welche Dürre, welcher Sturm steht also direkt mit der Klimaerwärmung (und damit der erhöhten CO2-Konzentration in der Atmosphäre) in Verbindung? Rupert Stuart-Smith, ein Doktorand von Otto, zeigte in seinem Vortrag im Rahmen des Institutskolloquiums „Wetter/Wissen. Kulturanalytische Perspektiven auf Zustände der Atmosphäre“, das ich im vergangenen Semester gemeinsam mit Anna Weichselbraun organisiert habe, wie brisant und weitreichend die juristischen und politischen Konsequenzen solcher Zuordnungen sein werden. Beispielsweise könnten künftig Energiekonzerne, die historisch wie gegenwärtig für den Ausstoß großer Mengen CO2 verantwortlich sind, auf Basis attributionswissenschaftlicher Forschungen für die Folgen von Unwetterkatastrophen zur Rechenschaft gezogen werden. Ottos Anliegen, das sich auch in ihrem äußerst populären Buch spiegelt, ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein aktivistisches. Vor dem Hintergrund virulenter Debatten um eine „engaged Anthropology“ auch in unserem Fach, erscheint „Wütendes Wetter“ daher in mehrfacher Hinsicht als lesenswert.

Friederike Otto: Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme

Anna Weichselbraun

Bekannter Science Fiction Autor Kim Stanley Robinson macht mit diesem Titel einen Beitrag im Genre „Cli-Fi“ (Climate Fiction). Dieses Buch gibt Ideen und Einblicke in eine mögliche nahe Zukunft in der die Klimakrise in 2 Wochen 20 Millionen Hitzetote in Indien fordert, diese Katastrophe jedoch auch unvorstellbare politische Neuerungen hervorruft. Durch kurze Kapitel beschreibt KSR politische Möglichkeiten, epistemische Sackgassen, individuelle Positionierungen, und die Verwobenheit unserer Leben mit der des Planeten. Gruselig, klug, mit einer gesunden Portion pragmatischem Idealismus ist dieses Buch der perfekte Wegbegleiter für stöhnend heiße Sommertage.

Kim Stanley Robinson: The Ministry for the Future. New York, NY: Orbit, 2020.

Işıl Karataş

Braiding Sweetgrass ist ein liebevoll geschriebenes Buch, das Wege findet, sich wieder mit der indigenen Art zu verbinden, sich mit der Welt auseinanderzusetzen – hauptsächlich durch Geschichtenerzählen. Robin Wall Kimmerer betrachtet die „Natur“ dominanter westlicher wissenschaftlicher Ansätze, die sie studiert hat, und dekolonisiert auf poetische Weise sowohl ihre sensorische Bindung an die reiche nichtmenschliche Umwelt als auch ihre Familiengeschichte, in der ihre Vorfahren brutal in Internaten eingesperrt waren, wo sie gezwungen wurden ihre Sprache, Kultur und ihr Sensorium zu vergessen. Kimmerers poetische Sprache ist eine Oase, um in heißen Tagen voller Umweltängste, der Zerstörung des Lebens durch Krieg und alltäglicher Verpflichtungen Wege zu finden, mit der Welt um uns herum in Kontakt zu bleiben.

Robin Wall Kimmerer: Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants. Penguin, 2020. 

Karin Ludwig

Und dann doch wieder Thomas Bernhard.

… wegen der Faszination für den Sprachfluss, die Sprachmelodie und den Humor in den Texten und nicht zuletzt wegen der Faszination für die Biographie des Schriftstellers.

… in dieser Erzählung aus dem Jahr 1982 wegen dem Wienbezug, der Begegnung mit Orten in Wien (Baumgartner Höhe, Stallburggasse, Dorotheergasse, Burgheater, Cafe Bräunerhof).

… wegen der legendären Schilderung der Zeremonie der Preisverleihung des Grillparzer Preises an den Ich-Erzähler 1972.

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„Der einzige, der mir die Wahrheit gesagt hat, war mein Freund Paul gewesen.“

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Paul Wittgenstein (1907-1979) war ein Verwandter des Philosophen Ludwig Wittgenstein. In Wien bekannt war er durch seine exzentrische Erscheinung und durch seine obsessive Begeisterung für die Oper. Finanziell gut abgesichert durch das Vermögen einer der reichsten Familien Österreichs, verschenkte er später sein Hab und Gut und lebte in Armut. Eine manisch-depressive Erkrankung machte sich ab seinem 35. Lebensjahr bemerkbar. Er lebte in einer kleinen Wohnung, die sich oberhalb des Cafe Bräunerhof befand. Thomas Bernhard und Paul Wittgenstein waren tatsächlich jahrelang befreundet.

Thomas Bernhard: Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1982.

Nicole Mayr

Wer Bock darauf hat, sich einmal in einem Buch zu verlieren, gerne das Leben ein bisschen romantisiert und sich an Vögelzwitschern erfreut, für den ist dieses Buch genau das Richtige. In dem Buch „Das Orangenmädchen“ erzählt ein toter Vater seinem Sohn von dem Kennenlernen mit der Mutter und dem Grund warum der Sternenhimmel öfters angeblickt werden sollte.

Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen : Roman. 4. Aufl.. München: Dt. Taschenbuch-Verl., 2011

Rebecca Akimoto

In Ronya Othmanns Roman Die Sommer berichtet Leyla von ihren Erinnerungen an die Sommer bei ihren Großeltern in Nordsyrien und dem, was sie davon in ihre deutsche Heimat mitnimmt. Als Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden ist ihr Erwachsenwerden von der Zerissenheit zwischen zwei Welten geprägt. Die detaillierten Beschreibungen lassen die Lesenden in die Atmosphäre und Geschichten des kurdischen Dorfs in Nordsyrien eintauchen. Begleitet von der Sehnsucht nach einer vertrauten Welt, die immer weiter durch Assads Krieg und den Genozid an den Jesiden durch den IS zerstört wird, veranschaulicht die Autorin die Politisierung der Protagonistin sehr deutlich. Ein malerisch geschriebener Roman, dessen Schwere unglaublich berührend ist.

Ronya Othmann (2020): Die Sommer. München: Carl Hanser Verlag.

Das gesamte Redaktionsteam aus dem Blog des Institut für Europäische Ethnologie wünscht Ihnen allen einen schönen und erholsamen Sommer.